Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Achtzehntes Buch: Das Leben in Florenz.
Viertes Kapitel
Der Antrieb zu einer gewissen Gedankenthätigkeit, in welchem Corinna für einige Augenblicke Erleichterung gefunden hatte, führte sie am folgenden Tage nach der Bildergallerie. Sie hoffte so ihre alte Liebe zur Kunst wieder zu erwecken, um dann vielleicht auch an ihren früheren Beschäftigungen wieder Interesse zu gewinnen. In Florenz hat die Kunst noch sehr republikanische Institutionen: Statuen und Gemälde werden zu jeder Zeit mit der größesten Bereitwilligkeit gezeigt; unterrichtete, von der Regierung besoldete Männer sind als öffentliche Beamte zur Erklärung der Kunstwerke angestellt. Dies ist noch ein Recht jener Ehrfurcht für die Talente aller Gattungen, wie sie in Italien immer da war. Besonders noch ist sie in Florenz heimisch, wo die Mediceer sich ihre Macht durch ihren Geist verzeihen lassen wollten, ihren Einfluß auf das Geschehende durch den freien Aufschwung, den sie wenigstens dem Gedanken gewährten. Das florentinische Volk hat ungemein viel Sinn für die schönen Künste, und zieht diese Neigung in seine Frömmigkeit hinein, die in Toscana eine geregeltere ist, als im ganzen übrigen Italien. Nicht selten verwirrt es die Gestalten der Mythologie mit denen der biblischen Geschichte. Ein Florentiner kann dem Fremden eine Minerva zeigen und sie Judith nennen, einen Apollo rühmen und ihn David heißen, und kann allenfalls auch noch bei der Erklärung eines Basreliefs, das die Einnahme von Troja vorstellt, versichern, daß Cassandra eine gute Christin war.
Die florentinische Gallerie ist eine ungeheure Sammlung; man könnte dort viele Tage zubringen, ohne schließlich sonderlich mit ihr vertraut zu sein. Corinna schritt prüfend durch alle diese Reichthümer, aber zu ihrem Kummer fand sie sich zerstreut und gleichgültig. Die Statue der Niobe erregte ihre Aufmerksamkeit: diese Ruhe, diese Würde, inmitten des tiefsten Schmerzes schienen ihr bewundernswerth. Ohne Frage würde die Gestalt einer lebenden Mutter in ähnlicher Situation gänzlich zusammengebrochen sein; aber das Ideal der Kunst bewahrt auch noch in der Verzweiflung die Schönheit und die Anmuth. Nicht das geschilderte Unglück ist's, was in den Werken des genialen Künstlers so tief erschüttert, sondern die Kraft, welche sich die Seele in diesem Unglück bewahrte. Unweit der Statue der Niobe ist der Kopf des sterbenden Alexander; diese beiden höchst verschiedenen Physiognomien geben viel zu denken. In der des Alexander liegt Staunen und Entrüstung, die Natur nicht besiegt zu haben. Die Todesqual der sorgenden Mutterliebe malt sich in den Zügen der Niobe; sie zieht die Tochter mit herzzerreißender Angst an ihre Brust, und der Schmerz, welcher aus diesem wundervollen Angesichte spricht, drückt den Charakter jenes Verhängnisses aus, das bei den Alten auch einer frommen Seele nirgend eine Zuflucht übrig ließ. Niobe richtet den Blick gen Himmel, aber hoffnungslos, denn die Götter selbst sind ihre Feinde.
Zu Hause angelangt, versuchte Corinna über das Gesehene nachzudenken: zu schaffen, wie sie es früher gethan; aber eine unüberwindliche Zerstreutheit hielt sie lange bei der ersten Seite fest. Wie fern lag ihr jetzt das Talent des Improvisirens! Mit Mühe suchte sie nach jedem Wort; oft schrieb sie Dinge ohne allen Sinn, Dinge, vor denen sie sich beim Durchlesen selbst entsetzte, die wie geschriebene Fieberfantasien klangen. Unfähig, wie sie nun einsah, die Gedanken von der eigenen Lage abzuwenden, versuchte sie zu schildern, was sie litt; aber das waren nicht mehr allgemeine Ideen, weltumfassende Gefühle, in welche die Herzen aller Menschen einstimmen können: das war nur der Schrei des persönlichen Schmerzes, jener auf die Dauer so eintönige Schrei, eintönig wie die Klage des Nachtvogels! In ihren Ausdrücken lag zu viel Gluth, zu viel Ungestüm, zu wenig Abstufung: das war Unglück, und nicht mehr Talent. Um gut zu schreiben, bedarf es ohne Zweifel der wahrhaftesten Erschütterung, aber sie darf nicht herzzerreißend sein. Glück ist zu Allem nöthig; und selbst die schwermüthigste Poesie muß eine gewisse Erhebung athmen, zu welcher Kraft sowohl, als mindestens doch eine gewisse Glücksfähigkeit des Geistes erforderlich ist. Der wahre Schmerz ist unfruchtbar; was er hervorbringt, ist meist nur düstre, ewig auf den einen Gedanken zurückdrängende Ruhelosigkeit. So durcheilte jener von einem unseligen Zauber umstrickte Ritter vergeblich tausend Irrwege, um sich immer wieder auf derselben Stelle wiederzufinden.
Durch den schlechten Stand von Corinnens Gesundheit wurde ihr Talent noch vollends untergraben. In ihren Papieren fanden sich Betrachtungen, die sie während dieser Zeit niederschrieb, als sie vergebliche Anstrengungen zu zusammenhängender Arbeit machte; es mögen einige davon hier folgen.