Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Achtzehntes Buch: Das Leben in Florenz.

Drittes Kapitel

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Eines Tages beschloß Corinna die Kirchen von Florenz zu besichtigen; sie gereichen der Stadt zu großer Zierde. In Rom, erinnerte sie sich, hatten ein paar im Dom von St. Peter verbrachte Stunden ihrer Seele, wenn sie schwankte, stets das Gleichgewicht zurückgegeben; jetzt hoffte sie von den florentinischen Kirchen eine ähnliche Wohlthat zu empfangen. Ihr Weg zur Stadt führte durch ein Gehölz, das sich anmuthig an dem Ufer des Arno entlang zieht. Es war ein köstlicher Juni-Abend. Rosen in unglaublichem Ueberfluß erfüllten die Luft mit Wohlgeruch, und die Mienen der Lustwandelnden sprachen von Glück und frohem Genießen.

Von dieser Lebensfreudigkeit, wie die Vorsehung sie den meisten Geschöpfen verleiht, fühlte sie sich grausam ausgeschlossen; aber sie dankte dieser Vorsehung doch und segnete sie für ihre Güte gegen den Menschen. »Ich bin vielleicht nur eine Ausnahme von der allgemeinen Regel«, sagte sie sich, »es giebt ein Glück für Alle sonst, und diese entsetzliche, diese mich tödtende Fähigkeit zu leiden ist nur meine eigene Art, ist ein Zufall in meinem Sein. Allmächtiger Gott, weshalb aber mußte ich zum Dulden solcher Schmerzen ausersehen werden? Darf ich denn nicht bitten, gleich deinem göttlichen Sohn, daß dieser Kelch an mir vorübergehe?«

Das thätige, lebhafte Treiben der Stadtbewohner setzte sie in Verwunderung. Seit sie keinen Theil mehr hatte am Leben, begriff sie nicht, was die Menschen gehen, kommen, eilen macht. Langsam schlich sie über die großen Steine des florentinischen Pflasters hin; sie hatte die Idee verloren: irgendwo anzukommen, weil sie sich nicht mehr erinnerte, wohin sie gehen wollte. Endlich fand sie sich vor dem berühmten Werk Ghiberti's, den ehernen Thüren der Taufkapelle von St. Johann, welche neben der Cathedrale von Florenz liegt.

Sie bewunderte eine Zeit lang diese unermeßliche Arbeit; ganze Völkerschaften von Bronze, in sehr kleinem Maßstabe, aber in den schärfsten Umrissen ausgeführt, liefern eine Menge der verschiedenartigsten Physiognomien, von denen jede eine Absicht, einen Gedanken des Künstlers ausdrückt. »Welche Geduld!« rief Corinna, »welche Hochachtung für die Nachwelt! Und dennoch: wie Wenige betrachten auch nur mit einiger Aufmerksamkeit diese Thüren, durch welche die unwissende Menge mit Zerstreuung, wenn nicht gar mit Geringschätzung drängt. O, was ist es dem Menschen schwer, der Vergessenheit zu entrinnen, und wie mächtig ist der Tod!«

In dieser Cathedrale wurde Julius von Medici ermordet; nicht weit von hier, in der St. Lorenz-Kirche liegt die marmorne, mit Edelsteinen geschmückte Kapelle, in welcher sich die Gräber der Mediceer und die von Michel Angelo ausgeführten Statuen des Julian und Lorenzo befinden. Die des Lorenzo von Medici, wie er dem Racheplane gegen den Mörder seines Bruders nachsinnt, nennt man ehrend »den Gedanken Michel Angelo's«. Am Fuße dieser Statuen stehen Michel Angelo's große Meisterwerke: »der Tag und die Nacht«. Das Erwachen des einen und besonders der Schlummer der andern sind von merkwürdiger, großartiger Schönheit. Ein Dichter machte auf die Statue der Nacht Verse, die mit folgenden Worten endigten: »Sie lebt, obwohl sie schläft; erwecke sie, wenn Du's nicht glaubst, und sie wird zu Dir reden.« Michel Angelo, der auch die Dichtkunst übte, ohne welche alle Einbildungskraft so bald verdorrt, antwortete im Namen der Nacht:

Grato m'è il sonno, e più l'esser di sasso.
Mentre che il danno a la vergogna dura,
Non veder, non sentir m'e gran ventura:
Però non mi destar, deh parla basso.[1]

Michel Angelo ist der einzige Bildhauer aus neuerer Zeit, welcher der menschlichen Gestalt einen Charakter gegeben hat, der weder der antiken Schönheit, noch unserer heutigen Gesuchtheit gleicht. Man glaubt den Geist des Mittelalters in seinen Meisterwerken ausgesprochen zu finden: eine kraftvolle und düstre Seele, standhafte Thätigkeit, scharfe und kühne Formen, Züge, die das Gepräge der Leidenschaft tragen, aber das Ideal der Schönheit nicht wiedergeben. Michel Angelo ist der Genius seiner eigenen Schule; er hat nichts nachgeahmt, nicht einmal die Antike.

Sein Grab befindet sich in der Kirche von Santa Croce. Er wollte, daß es einem Fenster gegenüber liege, aus welchem man den, von Filippo Brunelleschi erbauten Dom sehen kann; als ob seine Asche in der Nähe dieser Kuppel, dem Vorbild der von St. Peter, noch unter dem Marmor erzittern solle. Diese Kirche von Santa Croce birgt eine Versammlung großer Todten, wie sie glänzender wohl im ganzen Europa nicht zu finden sein dürfte. Corinna wandelte in tiefer Bewegung unter diesen Gräberreihen umher. Hier liegt Galilei, den die Menschen verfolgten, weil er die Geheimnisse des Himmels entdeckte. Weiterhin Macchiavelli, der die Kunst des Verbrechens, mehr zwar als Beobachter, denn als Verbrecher, offenbarte, dessen Rathschläge aber doch mehr den Unterdrückern, als den Unterdrückten zu Gute kommen. Aretino, der seine Tage dem Scherze widmete, und auf Erden nichts Ernstes sonst empfand, als den Tod. Boccaz, dessen lachende Einbildungskraft den zwiefachen Geißeln des Bürgerkrieges und der Pest widerstand. Ein Gemälde zu Ehren Dante's, als ob die Florentiner, die ihn in den Qualen des Exils sterben ließen, jetzt mit seiner Größe prahlen dürften!

Auch noch mehrere andere, ehrenvolle Namen sind an dieser Stelle zu finden; Namen von Menschen, die während ihres Lebens berühmt waren, welche aber von Geschlecht zu Geschlecht schwächer nachtönen, bis ihr Klang völlig erstirbt.

Die Besichtigung dieser von so edlen Erinnerungen geschmückten Kirche versetzte Corinna in begeisterte Stimmung. Der Anblick der Lebenden hatte sie entmuthigt; die schweigende Gegenwart der Todten belebte, für einen Augenblick wenigstens, dieses Streben nach Ruhm, von dem sie früher getrieben ward. Festeren Schrittes ging sie unter den stolzen Wölbungen hin und her, und durch ihre Seele zogen große Gedanken, wie einst. Um das Chor herum wandelten junge Priester, langsam und leise singend. Sie fragte einen von ihnen, was diese Ceremonie bedeute. »Wir beten für unsere Todten«, antwortete man ihr. »Ja, Ihr habt Recht«, dachte Corinna, »sie »Eure Todten« zu nennen; es ist das einzige glorreiche Eigenthum, das Euch bleibt! O, warum hat Oswald die Gaben getödtet, die mir der Himmel verliehen, und die mir dienen sollten, in gleichgestimmten Geistern heilige Begeisterung zu entflammen! O, mein Gott!« rief sie, auf die Kniee sinkend, »nicht aus eitler Ruhmbegier flehe ich dich an, mir die Schätze wiederzugeben, die ich durch deine Güte besaß. Wohl sind sie die Besten unter Allen, diese dunklen Heiligen, die für dich zu leben und zu sterben wußten; aber es giebt für die Sterblichen verschiedene Bahnen, und das Genie, wenn es die erhabene Tugend feiert, das Genie, welches sich dem Preise alles Edlen, Wahren und Menschlichen weiht, könnte doch wenigstens in den Vorhof des Himmels aufgenommen sein.« – Corinnens Augen waren während dieses Gebets niedergeschlagen, und überrascht ruhte jetzt ihr Blick auf der Inschrift eines Grabes, neben welchem sie hingesunken war: »Allein bei meinem Aufgange, allein bei meinem Untergange, bin ich auch hier noch allein!«[2]

»Ach!« rief Corinna, »dies ist die Antwort auf mein Gebet! Welches Streben kann Den beseelen, der allein ist auf Erden? Wer würde sich meiner Erfolge freuen? Wer nimmt Theil an meinem Schicksal? Welches Gefühl könnte meinen Geist zur Arbeit anspornen? Seines Blickes bedarf ich als Lohn!«

Auch noch eine andere Grabschrift fesselte ihre Aufmerksamkeit: »Beklagt mich nicht!« – sagt ein, in der Jugend gestorbener Mann: »Wenn Ihr wüßtet, wie viele Schmerzen dieses Grab mir erspart hat!« – »Welche Lossagung vom Leben diese Worte predigen!« dachte Corinna, und ihre Thränen flossen: »dicht neben dem Gewühl der Stadt diese Kirche, die den Menschen, wenn sie nur wollten, das Geheimniß von Allem offenbaren könnte; aber man geht an ihr vorüber, und die wunderbare Illusion des Vergessens läßt die Welt unablässig weitertreiben auf ihrer Bahn.«


[1] Anmerkung des Verlages: Wohl mir, daß ich schlafe, mehr noch, daß ich von Stein bin. So lange Schmach und Schande bei uns dauern, ist nichts zu sehen, nichts zu hören, das glücklichste Schicksal; deshalb erwecke mich nicht, bitte sprich leise!
[2]
Anmerkung der Autorin: Alfieri sagte, er habe, als er in der Kirche Santa Croce herumging, zum ersten Mal die Liebe zum Ruhm gefühlt; dort liegt er denn auch begraben. Die Grabschrift, die er zum Voraus für seine hochachtbare Freundin, die Gräfin Albani, und für sich aufgesetzt hatte, ist der rührendste und einfachste Ausdruck einer langen, vollkommenen Freundschaft.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12