Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Erstes Buch: Oswald.
Erstes Kapitel
Oswald, Lord Nelvil, Peer von Schottland, verließ im Winter der Jahre 1794 bis 1795 Edinburg, um nach Italien zu reisen. Er war von schöner und edler Gestalt, von vielem Geist, besaß einen großen Namen und ein unabhängiges Vermögen; aber tiefes Seelenleiden hatte seine Gesundheit zerrüttet, und die Aerzte, die für seine Brust fürchteten, verordneten ihm die Luft des Südens. Er folgte ihrem Rath, ob er gleich um die Erhaltung seines Lebens wenig besorgt schien; doch hoffte er in der Neuheit und Mannigfaltigkeit der wechselnden Umgebungen sich mindestens etwas zu zerstreuen. Ein großer Schmerz, der Verlust seines Vaters, war die Ursache seines Kränkelns; grausam zusammentreffende Nebenumstände, von zarter Gewissenhaftigkeit aufgeregte Vorwürfe, verbitterten seinen Kummer, und die Einbildung schuf ihre täuschenden Phantome noch mit hinein. Wenn man leidet, überzeugt man sich leicht, daß man strafbar sei, und der tiefe Gram trägt seine verwirrenden Qualen bis in das Gewissen. Mit fünfundzwanzig Jahren stand er muthlos vor dem Leben; sein Geist war den meisten Dingen gegenüber im Voraus schlußfertig, und sein verwundetes Gefühl glaubte nicht mehr an die Illusionen des Herzens. Niemand konnte sich seinen Freunden gefälliger und ergebener zeigen als er, wenn es darauf ankam, ihnen einen Dienst zu leisten; doch nichts, selbst nicht das Gute, was er that, gab ihm eine glückliche Stunde. Gern und mit Leichtigkeit opferte er seine Neigungen denen Anderer; indessen ließ sich dieses vollständige Aufgeben aller Selbstsucht nicht durch Großmuth allein erklären, sondern mußte oft seiner Traurigkeit beigemessen werden, die ihn verhinderte, Antheil an dem zu nehmen, was ihn selbst betraf. Gleichgültigen gefiel diese Weise; sie fanden dieselbe voller Anmuth und Liebenswürdigkeit. Wer ihn aber liebte, der fühlte auch, daß er sich mit dem Glücke Anderer wie ein Mensch beschäftige, der keines mehr für sich zu erwarten habe, und ein so gespendetes Glück empfängt man nur mit wehmüthiger Dankbarkeit.
Und doch besaß er einen reizbaren, gefühlvollen und leidenschaftlichen Charakter, in welchem sich Alles vereinigte, was Andere und uns selbst fortreißen kann. Aber Unglück und Reue hatten ihn gegen das Schicksal furchtsam gemacht, er glaubte es zu entwaffnen, wenn er nichts mehr von ihm forderte. In strenger Pflichterfüllung, in der Verzichtleistung auf allen Lebensgenuß, hoffte er Schutz gegen die Schmerzen zu finden, welche das Herz oft so furchtbar zerreißen. Was er erfahren und gelitten hatte, ängstete ihn, und kein Glück der Welt schien ihm die mögliche Wiederholung solcher Schmerzen aufzuwiegen; doch welche Art zu leben kann den vor ihnen schirmen, der im Stande ist, sie zu empfinden?
Lord Nelvil hoffte, er werde Schottland ohne Bedauern verlassen, weil er ohne Freude dort verweilte. Aber nicht so ist das Gefühlsleben reizbarer Menschen beschaffen. Er war sich der Bande nicht bewußt, die ihn an das Vaterhaus und an ein Stück trübe Vergangenheit knüpften. In dieser Heimat gab es für ihn Wege, Stege und Räumlichkeiten, denen er nicht ohne einen geheimen Schauder nahen konnte, und doch – als er sich entschloß, sie zu verlassen, fühlte er sich vollends vereinsamt. Wie Erstarrung kam es über sein Herz! Er hatte keine Thränen mehr, wenn er litt, und kaum vermochte er sich all die kleinen Umstände, deren er bisher mit so viel Rührung gedacht hatte, zurückzurufen. Seine Erinnerungen waren entseelt, da sie zu den Dingen, welche ihn nun umgaben, in keiner Beziehung mehr standen; er dachte nicht weniger an den Verlorenen, als bisher, aber es gelang ihm schwerer, sich dessen Bild zu vergegenwärtigen.
Zuweilen auch warf er sich's vor, den Ort zu verlassen, wo sein Vater gelebt und gestorben. »Wer weiß«, sagte er sich, »ob die Geister der Abgeschiedenen ihren Lieben überall folgen können? Vielleicht ist es ihnen nur vergönnt, den Ort zu umschweben, wo ihre Asche ruht. Vielleicht sehnt sich mein Vater in diesem Augenblicke nach mir, und es mag ihm nur die Kraft fehlen, mich anzurufen. Und ach! als er lebte, hat ihn da nicht ein Zusammenfluß unerhörter Zufälligkeiten überzeugen müssen, daß ich seine Vaterliebe verwirkt, daß ich mich gegen seinen Willen, gegen die Heimat, gegen alles Heiligste im Leben aufgelehnt?« Diese Erinnerungen verursachten Lord Nelvil ein so unerträgliches Leiden, daß er nicht allein sie Niemand hätte anvertrauen können, sondern daß er sogar um seiner selbst willen scheute, sie aufzuwühlen. Wie leicht bereitet man sich durch seine eigenen Grübeleien ein nicht wieder gut zu machendes Wehe!
Schwerer noch ist's, wenn man, um das Vaterland zu verlassen, über's Meer hinaus muß. Alles an einer Reise ist feierlich, deren erste Strecken der Ocean einnimmt; es scheint, ein Abgrund gähne hinter uns auf, und die Rückkehr sei für immer unmöglich. Ohnehin macht der Anblick des Meeres stets einen tiefen Eindruck; es ist das Bild der Unendlichkeit, welche ewig den Gedanken anzieht, in welcher dieser sich immer gern verliert. Oswald, an das Steuer gelehnt, und die Blicke auf die Wogen gerichtet, war dem Anscheine nach ruhig; denn Stolz und Schüchternheit gestatteten ihm fast niemals, zu zeigen, selbst nicht seinen Freunden zu zeigen, was er fühlte; aber im Innern stürmten quälende Empfindungen. Er rief sich jene Zeit zurück, als der Anblick des Meeres sein jugendliches Streben durch den Wunsch anfeuerte, die Wellen schwimmend zu durchbrechen, seine Kraft gegen sie zu messen. »Warum«, sagte er sich mit bitterem Unmuth, »warum gebe ich mich ohne Unterlaß solchem Sinnen und Träumen hin? In thätiger Geschäftigkeit, in eifrigen Leibesübungen, die uns das Gefühl von der Kraft des Daseins geben, liegt so viel heitrer Lebensgenuß! Der Tod selbst erscheint dann nur als ein Ereigniß, das vielleicht glorreich, sicher plötzlich und ohne vorhergehende Abnahme der Kräfte eintritt, – während jener Tod, der sich herbeischleicht, ohne daß der Muth ihn suchte, jener finstre Tod, welcher uns das Theuerste entreißt, was wir besitzen, der unserer Verzweiflung spottet, unsere stehenden Arme zurückstößt, und uns mitleidslos die ewigen Gesetze der Zeit und der Natur entgegenhält, während solch ein Tod eine Art von Verachtung einflößt für das Menschenschicksal, für die Ohnmacht des Schmerzes, für alldie eitlen Anstrengungen, die ja doch vor der Nothwendigkeit zusammenbrechen.« –
Von dieser Art waren die Gefühle, welche Oswald beunruhigten und was das Unglückliche seiner Lage recht kennzeichnete: bei ihm vereinigte sich die Leidenschaftlichkeit der Jugend mit der Besonnenheit eines reiferen Alters. Er versenkte sich in Ideen, die seinen Vater während dessen letzter Lebenszeit vielleicht beschäftigt hatten, und trug die Glut seiner fünfundzwanzig Jahre in die schwermüthigen Betrachtungen des Alters hinein. Er war müde an Allem, und weinte doch um verlornes Glück, als ob die Illusionen ihm noch geblieben wären! Dieser dem Willen der Natur so widersprechende Gegensatz, – denn die Natur liebt Einheit und Abstufung im Laufe der Dinge – verwirrte Oswalds Seele bis in ihre Tiefen; doch blieben seine äußern Formen immer voller Sanftmuth und Harmonie, und seine Traurigkeit, weit entfernt, ihm Verstimmungen zu geben, machte ihn nur nachsichtiger und wohlwollender gegen seine Mitmenschen.
Während der Ueberfahrt von Harwich nach Emden war die See sehr bewegt. Lord Nelvil ertheilte den Matrosen manch guten Rath; die Reisenden beruhigte er, und als er endlich selbst in den Dienst mit eingriff, als er sogar den Platz des Steuermanns einnahm, war in all seinem Handhaben eine Gewandtheit und Kraft, die nicht allein die Folge großer Körpergeschicklichkeit sein konnten, die auch ebenso viel Geistesgegenwart verriethen.
Als man sich trennen mußte, drängte sich die ganze Mannschaft des Schiffes um Oswald. Alle wollten ihm Lebewohl sagen; Alle hatten sie ihm zu danken für tausend kleine, ihnen wahrend der Ueberfahrt erwiesene Dienste, deren er sich freilich nicht mehr zu erinnern schien. Hie und da war es ein Kind gewesen, mit dem er sich lange beschäftigt; häufiger noch ein Greis oder ein Kranker, deren Schritte er gestützt, wenn das Schiff allzu heftig schwankte. Ein solches Zurücksetzen der eigenen Persönlichkeit war noch Keinem vorgekommen; sein Tag verstrich, ohne daß er davon einen Augenblick für sich selbst behielt; aus Schwermuth und Wohlwollen widmete er seine Zeit den Anderen. Beim Abschiede riefen ihm die Matrosen die besten Segenswünsche nach: »Theurer Herr, möchten Sie glücklicher werden.« Zwar hatte Oswald auch nicht ein einziges Mal seinem Schmerze gegen sie Ausdruck gegeben, und Leuten aus einer anderen Klasse wäre es nicht eingefallen, denselben zu bemerken, oder doch Oswald darum anzureden. Aber die Menschen aus dem Volk, denen die Höhergestellten sich selten anvertrauen, gewöhnen sich daran, fremdes Fühlen ohne Worte zu errathen; sie beklagen uns, wenn wir leiden, obwohl sie die Ursache unseres Kummers nicht kennen, und ihr frei gespendetes Mitleid ist ohne Beimischung von Tadel und dem meist so unnützen guten Rath.