Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Sechzehntes Buch: Trennung und Abwesenheit.

Fünftes Kapitel

Oswald reiste nach dem Landsitze Lady Edgermonds, in gespannter Erwartung, den Ort zu sehen, wo Corinna so viele Jahre gelebt hatte. Verlegen stand er vor der Nothwendigkeit, Lady Edgermond verständlich machen zu müssen, daß er ihrer Tochter entsagen wolle, und diese gemischten Gefühle bewegten ihn und stimmten ihn gedankenvoll. Das nördliche England, durch welches sein Weg ihn führte, wurde seiner schottischen Heimat immer ähnlicher, und immer allmächtiger herrschte deshalb auch die Erinnerung an den Vater in seinem Herzen. Auf dem Schlosse der Lady Edgermond angekommen, fand er sich von dem guten Geschmacke, den hier sämmtliche Einrichtungen verriethen, wohlthuend überrascht; und da die Herrin des Hauses noch nicht bereit war, ihn zu empfangen, trat er in den Park hinaus, um sich inzwischen dort ein wenig umzuschauen. Hier erblickte er eine junge Dame, an deren eleganter Gestalt und wunderbar schönen blonden Haaren er die zu holdester Jungfräulichkeit entfaltete Lucile erkannte. Sie las mit großer Aufmerksamkeit; er näherte sich ihr, grüßte sie, und vergessend, daß er in England war, wollte er ihre Hand ergreifen, um sie nach italienischer Sitte ehrerbietig zu küssen; aber das junge Mädchen trat mit tiefem Erröthen zurück und sagte, sich formvoll verneigend: »Ich will es meiner Mutter sagen, Mylord, daß Sie sie zu sprechen wünschen.« Damit entfernte sie sich, und ließ Lord Nelvil in Verwunderung zurück über ihr engelgleiches Angesicht und ihre vornehme bescheidene Haltung.

Lucile war kaum in ihr sechzehntes Jahr getreten. Ihre Züge waren von ganz ungewöhnlicher Zartheit; Blässe und Erröthen verscheuchten dort einander in holder Flüchtigkeit. Der Körper mochte fast zu schlank sein, denn in ihrem Gange verrieth sich einige Schwäche. Da sie die blauen Augen meist niederschlug, erhielt ihre Physiognomie den nöthigen Ausdruck hauptsächlich von einer großen Durchsichtigkeit der Haut, welche gegen ihren Willen die Bewegungen verrieth, die in anderer Weise auszusprechen ihre große Zurückhaltung sie verhinderte. Oswald hatte, seit er im Süden reiste, den Charakter derartiger Frauenschönheit ganz vergessen; er empfand etwas wie Ehrfurcht. Lebhaft warf er sich's vor, sie mit einer Art Vertraulichkeit begrüßt zu haben, und als er sich jetzt nach dem Schlosse zurückwendete, in dessen Portal Lucile eben verschwand, träumte er von der himmlischen Reinheit eines jungen Mädchens, das immer unter dem Schutze der Mutter blieb, und vom Leben nichts kennt, als die kindliche Liebe.

Lady Edgermond war allein, als sie Lord Nelvil empfing; er hatte sie vor einigen Jahren in Gesellschaft seines Vaters schon zweimal gesehen, damals jedoch wenig auf sie Acht gegeben. Jetzt beobachtete er sie genauer, um sie dem Bilde zu vergleichen, das Corinna von ihr entworfen hatte. Er fand dieses in vieler Beziehung richtig, nur schien es ihm, als ob in den Augen Lady Edgermonds mehr Empfindung liege, als die Freundin zugeben wolle; natürlich, sagte er sich, könne sie nicht, wie er, für diese verschlossenen Physiognomien ein Verständniß haben. Um bald auf seine wichtigste Angelegenheit, die Anerkennung Corinnens, hinlenken zu können, begann er das Gespräch, indem er Italien und dessen Vorzüge rühmte. »Es mag für einen Mann ein angenehmer Aufenthalt sein«, erwiderte Lady Edgermond, »wenn aber eine Frau, die mich näher angeht, sich dort lange gefiele, würde ich das nicht billigen.« – »Dennoch«, entgegnete Lord Nelvil, von dieser Andeutung verletzt, »dennoch habe ich dort die ausgezeichnetste Frau angetroffen, die mir in meinem Leben vorgekommen ist.« – »In Betreff der Geistesvorzüge kann das der Fall sein, aber ein ehrenwerther Mann sucht in seiner Lebensgefährtin doch wohl andere Eigenschaften.« – »Und findet auch diese«, unterbrach Oswald warm. Er wollte fortfahren und jetzt klar aussprechen, worauf bisher von beiden Seiten nur hingedeutet worden war, als Lucile eintrat, und sich zu dem Ohr der Mutter hinabneigend, dieser leise einige Worte zuflüsterte. »Nein, mein Kind«, erwiderte Lady Edgermond laut, »Du kannst heute Deine Cousine nicht besuchen; ich wünsche, daß Du bleibst, um mit Lord Nelvil zu Mittag zu speisen.« – Lucile erröthete bei diesen Worten noch tiefer, als es im Garten geschehen war; dann setzte sie sich neben ihre Mutter und nahm vom Tische eine Stickerei, mit welcher sie sich beschäftigte, ohne die Augen aufzuschlagen, noch sich ins Gespräch zu mischen.

Lord Nelvil machte dieses Betragen fast ungeduldig; denn es war doch anzunehmen, Lucile sei davon unterrichtet, daß von einer Verbindung zwischen ihnen die Rede gewesen. Er erinnerte sich Alles dessen, was Corinna ihm über die wahrscheinliche Wirkung der strengen Erziehung Lady Edgermonds vorhergesagt hatte; daneben war er jedoch von Lucilens hinreißender Erscheinung mehr und mehr betroffen. In England haben die jungen Mädchen im Allgemeinen mehr Freiheit, als die verheiratheten Frauen, und Vernunft wie Moral erklären diesen Brauch. Lady Edgermonds Grundsätze wichen von demselben ab; zwar nicht in Betreff der Frauen, wohl aber um der Mädchen willen; sie behauptete, in allen Lebenslagen zieme dem Weibe die strengste Zurückhaltung. – Lord Nelvil hoffte, nun seine Absichten in Bezug auf Corinna erklären zu können, sobald er sich mit Lady Edgermond wieder allein befinden werde, doch Lucile entfernte sich nicht mehr, und Jene leitete, bis man sich zum Diner erhob, das Gespräch über verschiedene Dinge mit einfacher, sicherer Verständigkeit, die Oswald einige Anerkennung abnöthigte. Er hätte zwar ihre, auf allen Seiten so abgeschlossenen und mit den seinen oft nicht übereinstimmenden Ansichten bekämpfen mögen; aber er fürchtete, durch irgend ein Wort, das nicht in den Gang ihrer Ideen passe, ihr eine später vielleicht schwer zu ändernde Meinung von sich zu geben, und er zögerte deshalb, bei diesem ersten Bekanntwerden mit seinen Ueberzeugungen scharf hervorzutreten. Einer Frau gegenüber, die keine feineren Unterschiede, keine Ausnahmen zuließ, und Alles nach allgemeinen festgesetzten Regeln beurtheilte, mußten diese ersten Schritte unwiderruflich sein.

Man meldete, daß servirt sei. Lucile näherte sich ihrer Mutter, um derselben den Arm zur Stütze zu bieten, und jetzt erst bemerkte Oswald, wie mühsam Lady Edgermond den kurzen Weg bis zur Tafel zurücklegte. »Ich leide«, sagte sie erklärend, »an einer sehr schmerzhaften, vielleicht tödtlichen Krankheit«; und als Lucile bei diesen Worten bleich wurde, fügte sie sanft hinzu: »Die Sorgfalt meiner Tochter hat mir indessen schon einmal das Leben gerettet, und kann es vielleicht noch ferner erhalten.« Lucile neigte das Haupt, um ihre Bewegung zu verbergen; als sie es wieder erhob, waren ihre Augen von Thränen feucht. Doch hatte sie nicht einmal gewagt, die Hand ihrer Mutter zu ergreifen. Es hatte sich Alles auf dem Grunde ihres Herzens zugetragen; der Andern schien sie nur gedacht zu haben, um ihnen zu entziehen, was sie empfand. Oswald rührte so viel Beschränkung und Zurückgehaltenheit; seine eben noch von der Gewalt der Beredsamkeit und Leidenschaft erschütterte Einbildungskraft gefiel sich in der Betrachtung dieses Bildes der Unschuld; Lucile schien ihm wie von sittsamen Schleiern umgeben; aber doch Schleiern, auf denen sein Auge mit innigem Wohlgefallen ruhte.

Während des Essens sorgte Lucile, da sie ihrer Mutter auch die kleinste Mühe ersparen wollte, für Alles mit leiser Aufmerksamkeit und sprach nur, wenn sie Lord Nelvil eines oder das andere reichte; aber diese unbedeutenden Worte schienen ihm von bezaubernder Süßigkeit, und er fragte sich, wie es möglich sei, daß die einfachsten Bewegungen, die alltäglichsten Formen eine ganze Seele offenbaren können. »Es muß«, dachte er, »entweder ein Genie, wie das Corinnens sein, das Alles übertrifft, was die Fantasie träumen kann, oder dieses verschleierte Geheimniß von Schweigen und Sittsamkeit, welches dem Manne erlaubt, die Tugenden und Gefühle vorauszusetzen, die er zu finden wünscht.« – Die Damen erhoben sich von der Tafel und Lord Nelvil wollte es ihnen nachthun, doch Lady Edgermonds peinliche Genauigkeit, mit der sie an der Beobachtung des Herkömmlichen hing, ließ das nicht zu. Sie ersuchte ihren Gast, bei Tische auszuharren, bis sie im Salon den Thee bereitet haben würde, und demgemäß folgte Oswald den Damen erst nach einer Viertelstunde in das Gesellschaftszimmer nach. Im Verlauf des Abends bot sich ihm dann keine weitere Gelegenheit zu einem gesonderten Gespräch mit Lady Edgermond, denn Lucile entfernte sich nicht einen Augenblick. Er war schon im Begriffe aufzubrechen, um sich am nächsten Tage zu der beabsichtigten Unterredung nochmals einzufinden, als die Lady ihn bat, seinen Besuch bis zum folgenden Morgen auszudehnen. Er willigte gern ein, ohne irgend welch Gewicht darauf zu legen, und bereute doch bald nachher, es gethan zu haben, da ein gewisses Etwas in Lady Edgermonds Worten ihm anzudeuten schien, sie halte dieses Annehmen ihrer Gastfreundschaft für einen Beweis, daß er sich ihr noch in besonderer Absicht zu nähern wünsche. Dies bestimmte ihn sofort, sie um eine Unterredung zu bitten, welche ihm denn auch für den Morgen des folgenden Tages zugesagt wurde.

Lady Edgermond ließ sich in den Garten tragen, und Oswald bot ihr hier zu einem kurzen Spaziergange seinen Arm als Stütze. Sie richtete ihren Blick fest auf ihn und sagte dann nur: »Ich nehme es an«; worauf Lucile ihm den Platz an der Seite ihrer Mutter überließ. »Bitte, Mylord, gehen Sie nicht zu schnell«, flüsterte sie leise, in der Besorgniß, von Jener gehört zu werden. Lord Nelvil erbebte bei dem heimlichen Wort; nur in solcher Absicht, dachte er, könne dieses Engelsantlitz, das für irdische Liebe nicht gemacht schien, so empfindungsvoll zu ihm reden. Es fiel ihm durchaus nicht ein, daß seine innere Erregung ein Unrecht gegen Corinna sei; er hielt sie nur für die unwillkürliche Huldigung, die man Lucilens himmlischer Reinheit zollen mußte. Um die Stunde des Abendgebets, das Lady Edgermond täglich im Kreise der ganzen Dienerschaft abhielt, kehrten sie nach dem Schlosse zurück; hier fanden sie die Leute, von denen die meisten alt und gebrechlich waren und schon dem Vater und dem Gemahl der Herrin gedient hatten, bereits im untern Saale versammelt: eine Scene, die Oswald an die theuern Gewohnheiten des Vaterhauses lebhaft erinnerte.

Alle Anwesenden knieten nieder, Lady Edgermond ausgenommen, welche durch ihre Körperleiden daran verhindert wurde; doch faltete auch sie in würdevoller Andacht und gesenkten Blickes die Hände.

Lucile, deren Amt es war, das göttliche Wort vorzulesen, kniete neben ihrer Mutter. Sie wählte ein Kapitel aus dem Evangelium und schloß darauf mit einem Gebet, das dem ländlichen und häuslichen Leben angepaßt war. Dieses Gebet, von Lady Edgermond verfaßt, hatte eine gewisse Herbigkeit des Ausdrucks, die mit dem weichen, schüchternen Ton der Vortragenden im Gegensatze stand; aber eben dies steigerte noch den Eindruck der letzten, von Lucile mit einigem Beben gesprochenen Worte. Nachdem hier für die Dienerschaft, für die Eltern, den König und das Vaterland gebetet worden, heißt es: »Gewähre uns auch die Gnade, o Gott, daß die Tochter dieses Hauses lebe und sterbe, ohne ihre Seele durch einen Gedanken, durch ein Gefühl befleckt zu haben, das nicht ihrer Pflicht entspräche; und im Hinblick auf die Tugenden des einzigen Kindes verzeihe auch der Mutter ihre begangenen Irrthümer.«

Lucile sprach dieses Gebet täglich; aber heute, in Oswalds Gegenwart, war sie mehr als sonst davon gerührt, und ihre Thränen flossen, ehe sie zu Ende gelesen; dann das Gesicht in die Hände bergend, suchte sie ihre Bewegung den Blicken der Andern zu entziehn. Oswald aber hatte diese Thränen gesehen; mit Rührung und Ehrfurcht betrachtete er diese Jugendlichkeit, die fast noch Kindheit war, diesen Blick, in welchem noch die frischen Erinnerungen an den Himmel zu weilen schienen. Ihr reizendes Gesicht leuchtete inmitten der Andern, von Alter und Krankheit verwelkten, wie das Bild der göttlichen Barmherzigkeit. Lord Nelvil gedachte des strengen, zurückgezogenen Lebens, welches Lucile geführt hatte, und dieser Schönheit ohne Gleichen, die alle Freuden und Huldigungen der Welt entbehrte, und seine Seele schwamm in reinster Bewunderung. Auch Lucilens Mutter flößte Hochachtung ein, und er zollte sie ihr. Sie war eine Frau, die sich selbst noch strenger als Andere behandelte; ihr beschränkter Geist konnte wohl eher der Unerbittlichkeit ihrer Grundsätze, als einem Mangel an natürlicher Begabung zugeschrieben werden; unter diesen selbstauferlegten Fesseln, unter ihrer angenommenen und angeborenen Unbeugsamkeit barg sich eine große Liebe für ihre Tochter, eine Liebe, die um so tiefer war, als die Zähigkeit ihres Charakters sich auf zurückgedrängte Empfindsamkeit gründete und folglich dem einzigen Gefühl, das sie nicht unterdrückt hatte, eine nur desto größere Kraft verlieh.

Um zehn Uhr Abends herrschte das tiefste Stillschweigen im Hause, und Oswald konnte mit Ruhe den verflossenen Tag überblicken. Er gestand sich's nicht ein, Lucile habe Eindruck auf sein Herz gemacht, und vielleicht war dies auch noch nicht der Fall; aber obwohl Corinna die Einbildungskraft tausendfach zu entzücken verstand, gab es doch eine gewisse Gedankenrichtung, einen musikalischen Klang, wenn man sich so ausdrücken darf, der nur zu Lucile stimmte. Die Bilder häuslichen Glückes waren leichter mit dieser und der Zurückgezogenheit Northumberlands, als mit dem Triumphzuge Corinnens zu vereinigen; genug, Oswald konnte sich nicht verhehlen, daß Lucile es sei, welche sein Vater ihm gewählt haben würde. Aber er liebte Corinna, wurde von ihr wieder geliebt, und hatte geschworen, nie ein anderes Band zu knüpfen. Dies war ihm genug, um darauf zu beharren, daß er der Lady am folgenden Morgen seine Absicht, Corinna zu heirathen, mittheilen wolle. Er schlief mit Gedanken an Italien ein, und dennoch war es Lucile, die er im Traume in leichter, verklärter Engelsgestalt an sich vorüberschweben sah. Er erwachte; er wollte den holden Eindruck vergessen; aber dasselbe Traumbild kam wieder, und es schien, als entflattre es nach Oben; von Neuem erwachte er, und bedauerte jetzt, die vor seinen Augen zerfließende Gestalt nicht festhalten zu können. Bald darauf wurde es Tag und Oswald kleidete sich an, um einen Gang ins Freie zu machen.

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