Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Sechzehntes Buch: Trennung und Abwesenheit.

Viertes Kapitel

Während der ersten Tage seiner Reise war Oswald hundertmal bereit gewesen, umzukehren; zuletzt siegten freilich die strengen Gründe, die ihn nach der Heimat riefen, über dieses Verlangen. Fürwahr, in der Liebe ist's ein feierlicher Schritt, sie einmal überwunden zu haben: ihre Allmacht ist dahin!

Alle theuren Heimatserinnerungen tauchten in Oswalds Seele auf, als er sich England näherte. Das in Italien zugebrachte Jahr stand mit keiner seiner frühern Lebensepochen in Verbindung; es glich in seiner Wirkung auf ihn einem leuchtenden Meteor, das seine Einbildungskraft beherrscht hatte, welches aber doch die Ansichten und Neigungen, nach denen sich sein Leben bisher gebildet, nicht völlig umzuformen im Stande gewesen war. Er fand sich selbst wieder; und obwohl das Bedauern, von Corinna getrennt zu sein, ihn für heitere Eindrücke unempfänglich machte, nahmen seine Ideen doch schon wieder eine gewisse Unbeweglichkeit an, die sich in dem berauschenden Umherschweifen unter den Kunst- und Naturschönheiten Italiens scheinbar verloren hatte.

Sobald er den Fuß auf englischen Boden setzte, traten ihm überall Ordnung, Wohlstand, Reichthum und Industrie entgegen, und seine mit ihm geborenen Neigungen und Gewohnheiten standen entschiedener denn je wieder auf. In diesem Lande, wo die Männer so viel Würde, die Frauen so viel Bescheidenheit besitzen, wo das häusliche Glück mit dem politischen enge im Bunde steht, dachte Oswald an Italien nur, um es zu beklagen. In seinem Vaterlande glaubte er aller Orten die menschliche Vernunft auf die edelste Weise herrschen zu sehn, während Italiens Institutionen und gesellschaftliche Zustände ihm nichts als Verworrenheit, Schwäche und Unwissenheit gezeigt hatten. Seine verführerischen Bilder, seine poetischen Eindrücke wichen in Oswalds Herzen mehr und mehr der tiefen Ehrfurcht vor Freiheit und Sittlichkeit, und obwohl er Corinnens in Liebe gedachte, tadelte er sie doch leise, daß sie ungern in einem Staate gelebt hatte, den er für so weise, so großartig eingerichtet hielt. Wäre er aus einem Lande, wo man die Einbildungskraft wie eine Gottheit ehrt, in ein dürres, leichtfertiges gekommen, würden ihn seine Erinnerungen, würde seine ganze Seele ihn nach Italien wieder hingezogen haben; aber er tauschte die unklare Sehnsucht nach romantischem Glücke gegen den stolzen Besitz der ächten Güter des Lebens ein, gegen Unabhängigkeit und Sicherheit. Er trat wieder in die Sphäre zurück, welche dem Manne ziemt: das Handeln mit einem Zweck; das Träumen und Schwärmen gilt nun einmal als das Antheil der von Jugend auf zu Schwachheit und Resignation erzogenen Frauen. Der Mann will erwerben, was er zu besitzen wünscht, und ist schnell bereit, sich in zürnender Ungeduld gegen sein Geschick aufzulehnen, wenn's ihm, der seiner Kraft und seines geschulten Muths sich bewußt ist, dennoch nicht gelingt, es nach seinem Willen zu beugen.

Oswald fand in London seine Jugendfreunde wieder; er hörte wieder diese kräftige, gedrungene Sprache, die noch viel mehr anzudeuten scheint, als sie ausdrückt; er sah diese ernsten Physiognomien wieder, sah, wie sie plötzlich aufleuchten, wenn ein tiefes Gefühl über die herkömmliche Zurückhaltung siegt; er konnte wieder den Genuß haben, Entdeckungen in Herzen zu machen, die sich nur nach und nach dem beobachtenden Auge offenbaren – kurz, er fühlte sich im Vaterlande! Die, welche es niemals verließen, wissen nicht, durch wie viele Bande wir an dasselbe geknüpft sind. Indessen begleitete der Gedanke an Corinna alle Eindrücke, welche Oswald empfing, und da er sich so unzertrennlich mit der Heimat verbunden fühlte, hatte er auch zugleich die größeste Abneigung, sie von Neuem zu verlassen. So führten ihn denn alle seine Ueberlegungen auf den Entschluß zurück, seinen Aufenthalt in Schottland zu nehmen, und Corinna als seine Gattin dorthin zu führen.

Er wünschte sehnlich fortzukommen, um nur schneller wiederkehren zu können. Da erhielt er Gegenbefehl: die Einschiffung der Expedition, an welcher sein Regiment sich betheiligen sollte, war aufgeschoben, und zwar mit dem Vermerk: es dürfe sich dennoch kein Officier länger als vierzehn Tage von seinem Platze entfernen, da der Aufbruch sehr unerwartet geschehen könne. In dieser Lage fühlte Lord Nelvil sich sehr unglücklich; er litt schmerzlich darunter, von Corinna getrennt zu sein, und weder Zeit, noch Freiheit zu haben, um irgend einen Plan fassen und ausführen zu können. Er verbrachte sechs Wochen in London, ohne in die große Welt zu gehn, einzig nur dem Augenblicke entgegenlebend, wo er Corinna wiedersehen werde, und war sehr verstimmt, daß er eine so lange Zeit ohne sie verlieren müsse. Endlich beschloß er, diese Tage des Wartens für eine Reise nach Northumberland zu verwenden; er wollte dort Lady Edgermond besuchen, um diese zu einer rechtskräftigen Anerkennung Corinnens, als Lord Edgermonds Tochter, die man fälschlich für todt ausgegeben, zu bestimmen. Seine Freunde zeigten ihm die öffentlichen Blätter, in denen man sich sehr ungünstige Andeutungen über Corinnens Lebensweise erlaubt; und er empfand den glühenden Wunsch, ihr den Rang und die Anerkennung, auf welche sie Anspruch machen durfte, wiederzuverschaffen.

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