Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Sechzehntes Buch: Trennung und Abwesenheit.
Drittes Kapitel
»Oswald«, sagte Corinna, als sie sich in der Gondel befanden, in gänzlicher Verwirrung, »was Sie mir eben sagten, ist tausendmal grausamer, als der Tod. Seien Sie großmüthig, stürzen Sie mich in die Wellen, damit ich ihn los werde, den verzehrenden Schmerz. Thun Sie's doch, Oswald. Es bedarf dazu geringeren Muthes, als Sie mir eben bewiesen.« – »Wenn Sie noch ein Wort weiter reden, stürze ich mich selbst, und zwar vor Ihren Augen, hinein. Hören Sie mich nur erst an; lassen Sie uns nur erst in Ihrer Wohnung sein, dann werden Sie über mein und Ihr Schicksal zu entscheiden haben. Bis dahin, um Gottes willen, fassen Sie sich.« Die innere Qual, welche Oswalds Ton verrieth, hieß Corinna schweigen; aber sie war so gebrochen, daß sie kaum die zu ihrer Wohnung führenden Stufen hinaufzusteigen vermochte. Dort angekommen, riß sie voller Abscheu ihren Putz herunter. Lord Nelvil, als er sie, die vor wenigen Augenblicken so Glänzende, in diesem Zustande sah, sank weinend aus einen Stuhl. »Gott im Himmel! bin ich denn ein Barbar?« rief er, »Corinna, glaubst Du's?« – »Nein«, sagte sie, »nein, ich kann's nicht glauben; ist dies nicht noch das Auge, das mir jeden Tag mein Glück brachte? Oswald, o, ist's denn möglich, daß ich Sie fürchten muß, Sie, dessen Gegenwart für mich ein Strahl vom Himmel war! Ist's möglich, daß ich mich nicht getraue, zu Ihnen aufzublicken, daß ich vor Ihnen wie vor einem Mörder stehe? Oswald! Oswald!« Und flehend sank sie vor ihm nieder.
»Was meinst Du?« rief er wüthend, »Du willst also, daß ich mich entehre! Gut denn, ich werde es thun. Mein Regiment schifft sich binnen vier Wochen ein, ich erhielt vorhin davon die Nachricht. Ich bleibe, hüte Dich, ich bleibe, wenn Du mir diesen Schmerz zeigst – diesen über mich so allmächtigen Schmerz; aber ich werde den Schimpf nicht überleben.« – »Ich verlange nicht, daß Sie bleiben«, antwortete Corinna, »doch was schadet es Ihnen, wenn ich mitgehe?« – »Mein Regiment schifft sich nach den Inseln ein und es ist keinem Officier erlaubt, seine Frau mitzunehmen.« – »So darf ich Ihnen wenigstens bis England folgen?« – »Ich erfahre«, erwiderte Oswald, »aus den eben erhaltenen Briefen noch weiter, daß das Gerücht von unserm Verhältnis sich in England verbreitet hat, daß die englischen Blätter davon erzählen, und man zu vermuthen beginnt, wer Sie sind; daß endlich, auf Anstiften der Lady Edgermond, Ihre Familie erklärt hat, Sie niemals anerkennen zu wollen. Lassen Sie mir die Zeit, sie zu Besserem zu überreden, und Ihre Stiefmutter zu den Pflichten zu zwingen, die sie Ihnen schuldig ist. Wenn ich jetzt mit Ihnen ankomme, und genöthigt bin, Sie zu verlassen, ehe ich Ihnen Ihren Namen wieder erwarb, gebe ich Sie dem öffentlichen Urtheil in seiner ganzen Unerbittlichkeit preis, ohne nachher zu Ihrer Vertheidigung anwesend zu sein.« »So versagen Sie mir denn Alles«, stammelte Corinna, und stürzte bewußtlos zu Boden; ihr Kopf fiel hart auf das Parquet und blutete. Oswald brach bei diesem Anblick in lauten Jammer aus, und Theresina, welche ihn vernommen haben mochte, erschien bestürzt, um der Herrin die nöthige Hülfe zu leisten. Als diese sich wieder aufzurichten vermochte, fiel ihr Blick zufällig in einen Spiegel, und sie sah ihr bleiches, schmerzentstelltes Angesicht, ihre aufgelösten, blutigen Haare. »Nicht so war ich, Oswald, nicht so, als Sie mir zuerst auf dem Kapitol begegneten«, sagte sie; »damals schmückte ein Kranz der Hoffnung und des Ruhmes meine Stirn, jetzt ist sie mit Blut und Staub besudelt. Aber nicht Ihnen sei es erlaubt, mich in der Verzweiflung zu verachten, in die Sie mich gestürzt. Die Andern dürfen es wohl; aber Sie – Sie dürfen's nicht. Sie müssen Mitleid mit der Liebe haben, die Sie einflößten – Sie müssen« – –
»O schweig, das ist zu viel!« rief Lord Nelvil, und nachdem er Theresina geheißen, sich zu entfernen, schloß er Corinna leidenschaftlich an sein Herz. »Es ist entschieden«, sagte er, »ich bleibe; Du wirst mit mir machen, was Du willst. Ich will ertragen, was der Himmel mir auferlegt; ich will Dich in diesem Unglück nicht verlassen, da ich Dich nicht nach England nehmen kann, ehe ich Dir dort eine würdige Stellung sicherte. Den Beleidigungen jener hochmüthigen Frau darf ich Dich nicht aussetzen. Ich bleibe ja, ich bleibe, denn ich kann Dich nicht verlassen.« – Seine Worte riefen Corinna wieder zu sich selbst zurück, doch nur um sie aus der Verzweiflung in eine noch schrecklichere Niedergeschlagenheit zu versetzen. Sie fühlte die auf ihr lastende Nothwendigkeit, und lange verharrte sie gesenkten Hauptes in düstrem Schweigen. »Sprich doch, Geliebte«, sagte Oswald, »laß mich Deine Stimme hören; nur an sie kann ich mich noch halten, nur Du sollst mich leiten.« –»Nein«, erwiderte Corinna, »nein, Sie müssen fort! Sie müssen!« Und ihre Thränen verkündeten ihm ihre Entsagung. »Geliebte!« rief Lord Nelvil, »dort das Bild Deines Vaters nehme ich zum Zeugen, und Du weißt, ob der Name eines Vaters mir heilig ist! Ich rufe es zum Zeugen auf, daß mein Leben Dir gehört, so lange es zu Deinem Glücke nothwendig ist. Nach meiner Rückkehr von den Inseln werde ich mich bemühen, Dir Deine Heimat, und den Dir zukommenden Rang und Namen in derselben wiederzugeben; und falls mir dies nicht gelänge, würde ich nach Italien zurück kommen, und zu Deinen Füßen leben und sterben.«
– »Ach«, seufzte Corinna, »und diese Gefahren, denen Sie nun entgegen gehn ......« »Fürchte nichts«, erwiderte Oswald, »ich werde ihnen glücklich entrinnen; wenn ich aber nicht wiederkehrte, ich, der unbekannte, namenlose Mann, dann würde mein Andenken in Deinem Heizen bleiben? Du würdest mich nicht nennen hören, ohne daß Thränen Deinen Blick umfloren, nicht wahr, Corinna? Du würdest sagen: »Ich habe ihn gekannt, er liebte mich.« – »Ach, laß mich, laß mich!« rief sie, »Du täuschest Dich über meine äußere Ruhe! Morgen, wenn die Sonne scheint und ich es fühle, daß ich Dich nicht mehr – nie mehr wiedersehe, dann versagt mir vielleicht das Leben, ach! Und dies wäre ja auch ein Glück!« – »Warum«, rief Lord Nelvil, »warum fürchtest Du, mich nicht wieder zu sehen, Corinna? Ist mein feierliches Versprechen unserer ewigen Vereinigung nichts für Dich? Kann Dein Herz zweifeln?« – »Nein, ich verehre Sie zu hoch, um Ihnen nicht zu glauben«, antwortete Corinna, »es würde mir noch furchtbarer sein, meine Bewunderung für Sie aufgeben zu müssen, als meine Liebe. Ich halte Sie für einen höheren Menschen, für den reinsten und edelsten Charakter, der je auf Erden wandelte. Was mich an Sie fesselt, ist nicht blos der Zauber Ihrer Persönlichkeit, es ist der Glaube, daß niemals so viel Tugenden in einem Manne vereint waren; und Ihre geliebten Augen erzählen von ihnen allen! Nein, fern von mir ein Zweifel an Ihrem Wort. Ich würde den Anblick des menschlichen Angesichts fliehen, da es mir nur noch Grauen erregte, wenn Lord Nelvil täuschen könnte. – Nein, das nicht; aber die Trennung bringt so viel Unerwartetes, und das entsetzliche Wort »Lebe wohl«.... »Niemals«, unterbrach er sie, »niemals kann Dein Oswald Dir das letzte Lebewohl sagen; es sei denn auf dem Todtenbette.« – Seine Erschütterung war angsterregend, und Corinna, das Schlimmste für seine Gesundheit fürchtend, suchte sich nun besser zu beherrschen; sie, die doch so viel mehr zu beklagen war.
Sie sprachen nun Weiteres über diese schwere Trennung, über die Art ihres Briefwechsels, über die Gewißheit ihrer Wiedervereinigung. Seine Abwesenheit wurde auf ein Jahr festgesetzt, denn Oswald glaubte bestimmt, die Expedition werde nicht länger dauern. Genug, es blieben ihnen noch einige Stunden des Zusammenseins, und Corinna hoffte sich kraftvoll zu zeigen. Aber schon als Oswald ihr mittheilte, daß bereits um drei Uhr Morgens die bestellte Gondel eintreffen werde, und sie diese Stunde nicht mehr weit sah, bebte sie an allen Gliedern und das Schaffot selber hätte ihr nicht größeren Schrecken bereiten können. Oswalds Entschlossenheit schien auch mit jedem Augenblick mehr dahinzuschwinden, und Corinna, da sie ihn nie die Herrschaft über sich hatte verlieren sehen, zerriß der Anblick seines Leidens das Herz. Arme Corinna! Sie tröstete ihn, und sollte doch tausendmal unglücklicher werden, als er!
»In London, Oswald, werden Ihnen die Weltmenschen sagen, daß ein Liebesversprechen noch keine Ehe sei; daß unzählige Engländer auf ihren Reisen so eine Italienerin geliebt haben, um sie nach der Heimkehr zu vergessen; daß ein paar glückliche Monde weder die Frau binden, der sie bereitet wurden, noch Den, welcher sie spendete, und daß ein ganzes Leben nicht von dem Zauber abhängen dürfe, der Sie auf kurze Zeit in dem Verkehr mit einer Ausländerin umfangen hielt. Jene werden dem Anschein nach Recht haben, Recht vor der Welt: aber Sie, der Sie das Herz kannten, über das Sie sich zum Herrn machten, Sie, der Sie wissen, wie dieses Herz Sie liebt, werden auch Sie Sophismen finden, um eine tödtliche Wunde für heilbar zu halten? Und die glatten, grausamen Gesellschaftsmenschen, werden Sie Ihrer Hand das Zittern nehmen können, wenn Sie einen Dolch in meine Brust stoßen?« – »Ach! wie sprichst Du doch!« rief Lord Nelvil; »es ist ja nicht Dein Schmerz allein, der mich zurückhält, sondern auch der meine. Wo fände ich ein Glück, das dem gleichen kann, welches ich mit Dir genossen? Wer auf der ganzen Welt wird mich verstehen, wie Du mich verstanden hast? Die Liebe, Corinna, die Liebe, die kannst nur Du allein so erfassen, die kannst nur Du allein so erregen! Diese Harmonie der Seele, dies innige Einverständniß zwischen Geist und Herz – bei welcher andern Frau könnte ich sie finden, als bei Dir, meine Corinna? Dein Freund ist kein leichtfertiger Mann, Du weißt es ja! Das ganze Leben nehme ich ernst, und sollte vor Dir mein Wesen verläugnen?«
»Nein, nein«, erwiderte Corinna, »Sie werden eine wahrhaftige Seele nicht verachten; und nicht Sie, Oswald, ich weiß es, nicht Sie werden unempfindlich vor meiner Verzweiflung stehn. Aber neben Ihnen droht mir ein furchtbar Feindliches: die despotische Strenge nämlich, die hochmüthige Mittelmäßigkeit meiner Stiefmutter. Sie wird Ihnen alles Mögliche anführen, was meine Vergangenheit herabsetzen kann. Ersparen Sie mir Ihnen ihre unbarmherzigen Reden vorherzusagen. Statt daß meine Gaben mich in ihren Augen entschuldigen müßten, rechnet sie mir dieselben als mein größestes Vergehen an. Sie versteht ihren Zauber nicht und sieht nur ihre Gefahren. Alles, was nicht in die Richtung paßt, die sie vorgeschrieben, findet sie unnütz, selbst strafbar, und alle Poesie des Herzens scheint ihr eine unbequeme Grille, die sich's anmaßt, ihre Vernunft gering zu schätzen. Im Namen von Tugenden, die ich ebenso heilig halte als sie, wird sie meinen Charakter und meinen Lebensweg verdächtigen. Oswald! sie wird Ihnen sagen, daß ich Ihrer unwürdig sei!« – »Und wie sollte ich auf sie hören können«, unterbrach sie Oswald; »welche Tugenden dürfte man über Deine Großmuth, Deine Aufrichtigkeit, Deine Güte, Deine Menschenliebe zu setzen wagen, Du himmlisches Geschöpf? Man soll die gewöhnlichen Frauen nach gewöhnlichen Gesetzen richten! Wer Schande über den Bevorzugten, den Du liebst, und der Dich nicht ebenso hochachtete, als er Dich anbetet! Nichts in der ganzen Natur kommt Deinem Geiste, Deinem Herzen gleich. An der reinen göttlichen Quelle, wo Du Deine Gefühle schöpfst, ist Alles Liebe und Wahrheit. Corinna, Corinna! O, ich kann Dich nicht verlassen; mir schwindet aller Muth. Wenn Du mir nicht hilfst, kann ich nicht fort, und von Dir, von Dir muß ich die Kraft empfangen, Dich zu betrüben.« – »Wohlan«, sagte Corinna, »warte noch ein paar Augenblicke, ehe ich meine Seele Gott empfehle, und ihn anflehe, mir in dieser Trennungsstunde beizustehn. Wir haben uns geliebt, Oswald, geliebt mit tiefer Leidenschaft! Ich habe Dir die Geheimnisse meines Lebens anvertraut; das sind aber doch nur Thatsachen; Du weißt mehr von mir; Du kennst mein ganzes Innere! Ich habe keinen Gedanken, der nicht eins wäre mit Dir. Wenn ich im Schreiben meine Seele ausströme, so hast Du mich dazu begeistert; an Dich richte ich mein Träumen und Sinnen und mein letzter Athemzug wird Dir gehören. Wo fände ich Zuflucht, wenn Du mich verließest? In der Kunst suche ich nur Dein Bild, in der Musik nur Deine Stimme – der Himmel ist gleich Deinem Blick! Das Genie, das sonst mein Wesen entflammte, ist Alles zu Liebe geworden. Begeisterung, Nachdenken, Verstand – ich habe Alles nur in Gemeinschaft mit Dir!«
»Allmächtiger Gott, erhöre mich!« betete sie nun, mit zum Himmel gewendetem Blick. »O Gott, der du über die Schmerzen der Liebe, die edelsten von Allen, nicht unbarmherzig richtest, nimm mein Leben hin, wenn er aufhört mich zu lieben; nimm mir den elenden Rest des Daseins, den ich doch nur in Leid und Noth dahinschleppen könnte. Was gut und groß ist an mir, das nimmt er mit sich hinweg. Wenn er das Feuer seines Herzens für mich erlöschen läßt, dann, o Gott, dann bestimme, daß auch mein Leben erlösche. Großer Gott! Du hast mich nicht erschaffen, um alles edelste Gefühl zu überleben, und was bliebe mir, wenn ich aufhören müßte, ihn zu verehren? Denn auch er muß mich lieben, er muß es; ich fühle bis in den tiefsten Herzensgrund eine Liebe für ihn, welche die seine von ihm fordert. O Gott!« rief sie nochmals, »den Tod oder seine Liebe!« Als sie geendet, wendete sie sich zu Oswald und fand ihn hingestreckt in entsetzlichen Zuckungen. Die Aufregung hatte seine Kräfte überschritten; er wies Corinnens Beistand zurück, er wollte sterben, und schien im Wahnsinn; Corinna hielt seine Hände in den ihren; mit Sanftmuth wiederholte sie ihm Alles, was er selbst ihr tröstend gesagt hatte. Sie versicherte, daß sie ihm glaube, auf seine Wiederkehr rechne und nun ganz gefaßt sei. Ihr holder Zuspruch that ihm wohl; doch je mehr die Abschiedsstunde heranrückte, je unmöglicher schien es ihm, sich zu überwinden.
»Weshalb«, sagte er zu Corinna, »weshalb nun treten wir nicht, noch ehe ich abreise, vor den Altar, um dort den Eid unserer Treue niederzulegen?« Corinna bebte; forschend und in großer Verwirrung blickte sie zu ihm hinauf. Es fiel ihr ein, daß Oswald beim Erzählen seiner Erlebnisse geäußert hatte: der Schmerz einer Frau sei von allmächtigem Einfluß auf ihn, aber sein Gefühl erkälte sich auch durch eben die Opfer, welche dieser Schmerz ihm abgewonnen. Diese Erinnerung gab Corinna ihre ganze Festigkeit, ihren ganzen Stolz zurück. Nach kurzem Schweigen erwiderte sie: »Sie müssen Freunde und Vaterland wiedergesehen haben, Mylord, ehe Sie den Entschluß fassen, Ihr Leben unwiderruflich an das meine zu knüpfen. Jetzt würde ich ihn der Rührung des Abschieds verdanken, und nicht so kann ich die Ihre werden.« – Oswald drang nicht weiter in sie. »Wenigstens schwöre ich von Neuem«, sagte er, Corinnens Hand ergreifend, »daß meine Treue an diesen Ring gebunden ist. So lange Sie ihn bewahren, wird nie eine andere Frau Rechte an mich haben; wenn Sie ihn einst verschmähen, ihn mir zurücksenden.....«–»Hören Sie auf«, unterbrach ihn Corinna, »hören Sie auf, eine Besorgniß auszudrücken, die Sie nicht hegen. Ach! nicht ich werde zuerst das heilige Band unserer Herzen zerreißen; Sie wissen es wohl, nicht ich! Und ich erröthe, etwas zu betheuern, das so zweifellos ist.«
Indessen verfloß die Zeit. Corinna erbleichte bei jedem Geräusch, und Lord Nelvil, in den tiefsten Schmerz versenkt, hatte kaum noch Kraft zu einem Worte. Endlich zeigte sich das gefürchtete, kleine Licht, und bald darauf hielt die Gondel vor der Thür. Scheu wich Corinna vor ihrem Anblick zurück; Oswald schloß nochmals die Geliebte in seine Arme. »Sie sind da! sie sind da!« rief sie. »Leben Sie wohl, gehen Sie – es ist vorbei.« – »O mein Vater«, stammelte Lord Nelvil, »o mein Vater! Verlangst Du denn das von mir?« – »Gehen Sie«, sagte Corinna, »gehen Sie! Es muß sein.« – »Theresina soll kommen«, antwortete Oswald, »ich mag Sie nicht allein lassen.« – »Allein! ach, bin ich's denn nicht bis zu Ihrer Rückkehr?« – »Ich kann nicht fort, ich kann nicht!« rief Oswald, und verzweifelnd wünschte er sich den Tod. »So werde ich Sie gehen heißen – ich selbst; aber gewähren Sie mir noch einige Augenblicke.« – »Ja wohl!« rief Oswald, »ach, bleiben wir noch zusammen. Dieser fürchterliche Kampf ist besser noch, als Dich nicht mehr sehen.«
Unter Corinnens Fenster riefen die Gondoliere nach Lord Nelvils Dienerschaft; man antwortete, und bald darauf meldete einer der Bedienten, daß Alles bereit sei. »Ja, Alles ist bereit«, sagte Corinna, und sich von Oswald losmachend, trat sie vor das Bild ihres Vaters, lehnte das Haupt daran und betete. Ihr ganzes vergangenes Leben mochte sich wohl in diesem Augenblick vor ihr aufrollen; mit Gewissenhaftigkeit übertrieb sie alle ihre Fehler; sie fürchtete die göttliche Barmherzigkeit nicht zu verdienen, und fühlte sich doch so unglücklich, daß sie des Glaubens an das Mitleid des Himmels sehr bedurfte. Endlich richtete sie sich auf, und Lord Nelvil die Hand reichend, sagte sie: »Gehen Sie jetzt, ich will es; einen Augenblick später kann ich's vielleicht nicht mehr wollen. Gehen Sie; Gott segne jeden Ihrer Schritte und beschütze auch mich; ich brauche es.«– Oswald zog sie noch einmal mit unaussprechlicher Leidenschaft an sein Herz und verließ darauf, bleich und schwankend, wie ein Mensch, der in den Tod geht, dieses Gemach, wo er vielleicht zum letzten Male geliebt hatte, und geliebt worden war, wie die Erde es kaum wieder gesehen!
Als Oswald ihren Blicken entschwunden war, gerieth Corinna in einen bejammernswerthen Zustand: ein maßloses Herzklopfen raubte ihr den Athem; ihr Blick umwölkte sich; die Dinge um sie her schienen alle Wesenheit zu verlieren und irrten vor ihren Augen bald nah, bald fern umher. Sie glaubte, der Boden wanke unter ihren Füßen, wie bei einem Erdbeben, und hielt sich fest, um nicht zu fallen. Noch einige Minuten hindurch hörte sie das Geräusch der letzten Vorbereitungen zur Abfahrt. Er war noch da! sie konnte ihn noch wiedersehen! aber sie fürchtete sich vor sich selbst. Inzwischen lag er fast bewußtlos in der Barke. Endlich stieß diese ab, und jetzt stürzte Corinna nach der Thür, um ihn zurückzurufen. Theresina hinderte sie daran. Bald fing es heftig zu regnen an; ein rasender Sturm erhob sich; das Haus erbebte wie ein Schiff auf offenem Meer. Nun litt Corinna noch die schreckliche Besorgniß um Oswalds Sicherheit, da er in diesem Wetter auf der Lagune war. In der Absicht sich einzuschiffen, um ihm wenigstens bis zum Festlande zu folgen, eilte sie nach dem Kanal hinunter. Doch die Nacht war so stürmisch, daß auch nicht eine einzige Gondel anzutreffen war. In unerträglicher Ruhelosigkeit eilte sie auf den schmalen Steinen weiter, welche die Häuser vom Kanal trennen. Der Sturm nahm immer zu; mit ihm ihre Angst um Oswald. Sie versuchte von einigen Schiffern gehört zu werden, die in ungewisser, dunkler Entfernung sichtbar wurden; aber diese hielten ihr Rufen wohl für das Hülfegeschrei Verunglückter, die sich in solcher Nacht auf das Wasser hinausgewagt. Ohnehin hätte Niemand vermocht herbeizukommen, so furchtbar drohten die zürnenden Wellen des großen Kanals.
Der Anbruch des Tages fand Corinna noch in dieser Lage. Das Wetter hatte sich allmählig beruhigt, und Oswalds Gondolier brachte ihr die Nachricht von dessen glücklich zurückgelegter Fahrt durch die Lagunen. Dieser Augenblick glich beinahe noch dem Glücke, und erst nach einigen Stunden empfand die arme Corinna von Neuem seine Abwesenheit; erst dann kam ihr das Vorgefühl der öden Tage, der müde dahinschleichenden Zeit, des ruhelosen, verzehrenden Schmerzes, der sich fortan in ihr Dasein hineingraben sollte.