Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Sechzehntes Buch: Trennung und Abwesenheit.

Sechstes Kapitel

Die Sonne war zwar eben erst aufgegangen, doch sah sich Lord Nelvil in seiner Voraussetzung, es werde noch Niemand im Hause wach sein, getäuscht, denn Lucile zeichnete schon auf dem Balcon. Ihr lose herabhängendes Haar flatterte im Winde; so glich sie jener Traumgestalt, und es bewegte ihn, sie hier nochmals, wie eine übernatürliche Erscheinung über sich schwebend zu finden. Er blieb einige Zeit unter dem Balcon stehen und grüßte hinauf; indeß mußte Lucile es nicht bemerken, denn sie wendete den Blick nicht von der Arbeit. Darauf setzte er seinen Weg fort, und sein Herz sehnte mehr denn je Corinna herbei, damit sie ihm die unbestimmten Eindrücke verscheuche, von denen er sich keine Rechenschaft geben konnte oder wollte. Wie ein Geheimniß, wie das Unbekannte zog Lucile ihn an; er hätte gewünscht, daß der Sonnenglanz von Corinnens Genie dieses leichte Nebelbild aufzehre, das nach einander in allerlei Gestalt seinen Blick umgaukelte.

Er ging endlich in den Salon, und fand hier Lucile damit beschäftigt, die eben vollendete Zeichnung in einen kleinen Rahmen zu fügen, der gegenüber dem Theetisch ihrer Mutter seinen Platz finden sollte. Oswald prüfte das Blatt: nichts als eine weiße Rose, aber mit vollendeter Anmuth wiedergegeben. »So können Sie malen?« fragte er. »Nein, Mylord; ich verstehe nichts, als diese Nachahmung der Blumen, und dazu müssen es noch die am leichtesten auszuführenden sein. Es giebt hier keinen Lehrer, und das Wenige, was ich gelernt habe, danke ich einer Schwester, die mir einst Unterricht gab.« – Sie seufzte; Lord Nelvil aber erröthete tief bei diesen Worten. »Und wo ist jetzt diese Schwester?« fragte er. – »Sie lebt nicht mehr«, erwiderte Lucile, »aber ich werde sie nie vergessen.« – Oswald sah, daß Lucile, wie die übrige Welt, über das Schicksal ihrer Schwester getäuscht worden war; allein dieses »Ich werde sie nie vergessen« schien ihm einen liebenswürdigen Charakter zu offenbaren, und es rührte ihn. Eben wollte Lucile sich zurückziehn, weil sie sich mit Lord Nelvil allein im Zimmer befand; da trat aber schon Lady Edgermond ein. Sie maß die Tochter mit verwundertem, mißbilligendem Blick und hieß sie das Zimmer verlassen. Hieraus erfuhr Oswald, was er nicht gewußt, daß Lucile etwas Ungewöhnliches, gegen das Herkommen Verstoßendes begangen hatte, als sie einige Minuten ohne die Mutter mit ihm allein blieb; dies machte ihn weich, als ob es ein sehr vielsagender Beweis von Interesse gewesen wäre!

Lady Edgermond setzte sich, und schickte die Diener fort, welche sie bis zu ihrem Sitze geleitet hatten. Sie war blaß und ihre Lippen bebten, als sie Lord Nelvil eine Tasse Thee bot. Er bemerkte diese Aufregung, an welcher sich seine eigene Verlegenheit nur steigerte; indessen gab ihm der Wunsch, Corinna zu dienen, den Muth, das Gespräch anzufangen. »Mylady«, sagte er zu Lady Edgermond, »ich bin in Italien viel in der Gesellschaft einer Frau gewesen, die Sie sehr nahe angeht.« – »Das bezweifle ich«, erwiderte Lady Edgermond scharf und trocken, »denn in dem Lande dort interessirt mich durchaus Niemand.« – »Ich denke doch, die Tochter Ihres Gemahls hätte ein Recht an Ihre Theilnahme.« – »Wenn aber die Tochter meines Gatten vielleicht eine Person wäre, die über ihre Pflichten ebenso gleichgültig denkt als über ihre Stellung, dann würde ich ihr zwar sicherlich weiter nichts Böses gönnen, aber ich würde doch wünschen müssen, nicht mehr von ihr reden zu hören.« – »Und, Mylady«, erwiderte Lord Nelvil mit Wärme, »wenn diese von Ihnen verlassene Tochter nun eines durch ihre bewunderungswürdigen, vielseitigen Talente glänzend begründeten Ruhmes genösse, würden Sie sie auch dann noch verläugnen?« – »Auch dann; ich kann Talente nicht schätzen, wenn sie eine Frau von ihren wahren Pflichten abwendig machen. Es giebt ja Schauspielerinnen, Musikerinnen, Künstlerinnen aller Art, um die Welt zu amüsiren; doch Frauen unseres Ranges haben nur einen geziemenden Beruf, den nämlich, sich dem Gatten und der Erziehung ihrer Kinder zu widmen.« – »Wie!« entgegnete Lord Nelvil, »diese hohen Gaben, die aus der innersten Wesenheit entspringen, die ohne den stolzesten Charakter, ohne das reichste Gefühl nicht bestehen können, diese Talente, die sich mit edelster Güte, mit dem großmüthigsten Herzen vereinen, – die wollen Sie verwerfen! Verwerfen, weil sie das Denkvermögen erweitern, weil sie selbst der Tugend einen ausgedehnteren Wirkungskreis, einen großartigeren Einfluß vorbereiten? – »Der Tugend?« fragte Lady Edgermond mit bitterem Spott; »ich weiß nicht, was Sie unter diesem so angewendeten Worte verstehn! Die Tugend eines Mädchens, das dem Vaterhause entfloh, die Tugend eines Mädchens, das sich in Italien amüsirt, dort das unabhängigste Leben führt, alle nur denkbaren Huldigungen annimmt – um nicht noch mehr zu sagen – das Andern das verderblichste Beispiel giebt, ihrem Range entsagt, ihre Familie, ja selbst dem Namen ihres Vaters ...« – »Mylady«, unterbrach sie Oswald, »das war ein großmüthiges Opfer, welches sie Ihren Wünschen, Ihrer Tochter brachte; sie fürchtete, Ihnen zu schaden, wenn sie den Namen beibehielte ...« – »Sie fürchtete!« rief Lady Edgermond, »so fühlte sie also, daß sie ihn entehrte?« – »Das ist zu viel«, entgegnete Oswald mit großer Heftigkeit, »Corinna Edgermond wird bald Lady Nelvil sein, und wir werden dann sehen, ob Sie bei der Anerkennung der Tochter Ihres Gemahls ein Erröthen nöthig haben werden! Sie richten eine Frau nach Alltagsgesetzen, die begabt ist, wie keine es vorher gewesen; die ein Engel ist an Geist und Güte, ein bewundernswürdiges Genie und dennoch ein feinfühliger und bescheidener Charakter; eine erhabene Einbildungskraft, eine Großmuth ohne Grenzen; eine Frau, die geirrt haben mag, weil eine so unerhörte Ueberlegenheit sich nicht immer mit dem gemeinen Leben abfinden kann, die aber eine so schöne Seele besitzt, daß eine einzige ihrer Handlungen oder ihrer Worte Alles vergessen machte, falls dies irgend nöthig wäre. Den Mann, den sie zu ihrem Beschützer wählt, ehrt sie mehr, als eine Beherrscherin der Welt es vermöchte, wenn sie ihren Auserkorenen bezeichnet.« – »Mylord, Sie werden mir vielleicht Beschränktheit des Geistes vorwerfen«, antwortete Lady Edgermond, indem sie mit großer Anstrengung gefaßt zu scheinen suchte, »doch muß ich bekennen, daß Alles, was Sie mir eben gesagt haben, völlig über mein Verständniß geht. Ich begreife unter Sittlichkeit nichts als die pünktliche Einhaltung der vorgeschriebenen Gesetze; was darüber hinausgeht, nenne ich schlecht angewendete Eigenschaften, die höchstens Mitleid verdienen.« – »Die Welt wäre recht nüchtern geworden, Mylady«, antwortete Oswald, »wenn man niemals den Genius und die Begeisterung zu begreifen verstanden, wenn man aus der menschlichen Natur ein so regelrechtes, einförmiges Ding gemacht hätte. Aber wir wollen einen nutzlosen Wortwechsel nicht weiter fortsetzen; ich komme, Sie in aller Form zu fragen, ob Sie Miß Edgermond als Ihre Stieftochter anzuerkennen denken, wenn sie Lady Nelvil geworden ist.« – »Dann noch weniger«, erwiderte Lady Edgermond; »ich schulde es dem Gedächtnisse Ihres Vaters, eine so unglückselige Verbindung zu verhindern, wenn ich's vermag.«– »Sie schulden es meinem Vater?« fragte Oswald, den eine Erwähnung desselben immer beunruhigte. »Ist es Ihnen denn unbekannt«, fuhr Lady Edgermond fort, »daß Ihr Vater die Hand Miß Edgermonds für Sie ablehnte, als sie sich noch durchaus keines Fehls schuldig gemacht, als er lediglich mit seinem scharfen, unfehlbaren Urtheil voraussah, was sie einst sein werde?« – »Wie! Sie wissen...?« – »Der über diesen Gegenstand handelnde Brief Ihres Vaters an Lord Edgermond ist in den Händen seines Freundes, des Herrn Dickson«, unterbrach Lady Edgermond; »als ich Ihre Beziehungen zu Corinna erfuhr, habe ich diesem das Schreiben zugestellt, damit er Sie bei Ihrer Rückkehr mit dessen Inhalt bekannt machen möge; es kam mir nicht zu, mich damit zu befassen.«

Oswald schwieg einige Augenblicke. »Was ich von Ihnen fordere«, hub er dann wieder an, »ist nur eine Gerechtigkeit, ist etwas, das Sie sich selber schulden. Widerrufen Sie dieses Gerücht, das Sie über den Tod Ihrer Stieftochter ausgebreitet haben, und erkennen Sie sie als das an, was sie in Ehren ist: die Tochter Lord Edgermonds.« – »Ich will in keiner Weise das Unglück Ihres Lebens befördern helfen; und wenn Corinnens gegenwärtige Existenz, diese Existenz ohne Namen, ohne Anhalt, Ihnen vielleicht ein Grund wäre, sie nicht zu heirathen, dann wolle mich doch Gott und Ihr Vater davor bewahren, dieses Hinderniß zu beseitigen.« – »Mylady«, antwortete Lord Nelvil, »das Unglück Corinnens wäre ein Band mehr zwischen ihr und mir.« – »Nun wohlan«, sagte Lady Edgermond mit einer Heftigkeit, wie sie sich dieselbe noch nie gestattet hatte, und die ohne Zweifel aus dem Bedauern entsprang, ihrer Tochter einen in vieler Hinsicht so ausgezeichneten Gatten entgehen zu sehen, »wohlan, machen Sie doch sich und sie unglücklich; denn auch sie wird unglücklich! Dieses Land ist ihr verhaßt; sie kann sich in unsere Gewohnheiten, in unser strenges Leben nicht fügen. Sie bedarf eines Schauplatzes, wo sie alle jene Talente, auf die Sie so vielen Werth legen, und die das Leben so schwierig machen, zeigen und bewundern lassen kann. Sie wird sich hier langweilen, wird nach Italien zurückkehren wollen und Sie mit fortziehen. Sie werden dann Ihre Freunde, Ihre und Ihres Vaters Heimat um einer, ich gebe es zu, liebenswürdigen Ausländerin willen verlassen, die Sie indessen doch leicht vergessen würde, wenn Sie selbst dies nur wollten. Denn es giebt nichts Wandelbareres unter der Sonne, als jene überspannten Köpfe. Nur solche Frauen, die sie die alltäglichen zu nennen belieben, die für Gatten und Kinder leben, nur sie verstehen große Schmerzen zu tragen.« – Nie in ihrem Leben hatte Lady Edgermond sich wohl in solcher Heftigkeit gehen lassen; die Aufregung hatte denn auch ihre kranken Nerven dergestalt erschüttert, daß sie, als sie nun geendigt, ohnmächtig zusammensank. Oswald klingelte um Hülfe.

Lucile eilte schnell herbei. Eifrig bemüht, der Mutter einige Erleichterung zu verschaffen, fragte sie Oswald nur mit einem besorgten Blick, ob er es denn sei, der ihr so wehe gethan. Oswald war tief ergriffen. Als Lady Edgermond wieder zu sich kam, suchte er ihr seine Theilnahme an dem Unfalle auszudrücken; doch sie wies ihn kalt ab, und erröthete bei dem Gedanken, daß ihr Zorn so sehr ihren Stolz überwogen, und sie allzu deutlich den Wunsch verrathen hatte, Lord Nelvil für die Tochter zu gewinnen. Sie schickte Lucile hinaus.

»Mylord«, sagte sie, »Sie haben sich von irgend welchem Abkommen, wie es vielleicht zwischen uns obwaltete, in jedem Fall als frei zu betrachten. Da meine Tochter noch so jung ist, wird sie an den von Ihrem Vater und mir gefaßten Plan noch keine ernsteren Hoffnungen geknüpft haben; dennoch scheint es mir, nachdem jene Verabredung aufgehoben ist, schicklicher, wenn Sie, während meine Tochter unverheirathet ist, mein Haus nicht wieder betreten.« – »So werde ich mich also auf den schriftlichen Ausdruck beschränken müssen, Mylady, um mit Ihnen über eine Frau zu verhandeln, die ich nie zu verlassen gedenke.« – »Das liegt in Ihrem Ermessen«, erwiderte die Lady mit erstickter Stimme, und Lord Nelvil entfernte sich.

Wie er jetzt die große Allee hinunterritt, gewahrte er von Weitem in dem Gehölz des Parks Lucilens vornehme Gestalt. Er mäßigte den Schritt seines Pferdes, um sie noch einmal zu sehen, und wiewohl sie sichtlich strebte, sich hinter den Bäumen zu verbergen, schien es ihm doch, als nehme sie dieselbe Richtung, welche er verfolgte. Die große Straße führte an einem das äußerste Ende des Parks abschließenden Pavillon vorüber. Oswald sah Lucile in diesen hineintreten, doch vermochte er, während des Vorüberreitens, in demselben nichts von ihr zu entdecken. Sich langsam entfernend, wendete er mehrmals den Kopf zurück, und endlich glaubte er in dem Gebüsch, das neben dem Pavillon weit genug auf die Straße vorsprang, um diese von dort aus in ganzer Ausdehnung übersehen zu können, ein Geräusch, eine Bewegung zu vernehmen. Er sprengte zurück, indem er sich das Ansehn gab, als habe er irgend einen Gegenstand verloren, und fand Lucile am Rand des Weges stehen. Sie zog, obwohl er sie hochachtungsvoll grüßte, schnell den Schleier über das Gesicht und verschwand in dem Gehölz, ohne zu überlegen, daß sie damit den Beweggrund, der sie hieher geführt, eingestand. Das arme Kind hatte im Leben noch nichts so Lebhaftes und Strafbares empfunden, als das Gefühl, welches sie getrieben, Lord Nelvil noch einmal zu sehen; und statt diesen einfach zu grüßen, eilte sie schuldbewußt hinweg, sich verrathen und in dem Urtheil des fremden Mannes sich verloren glaubend. Oswald hatte Alles dies recht gut verstanden; er fühlte sich durch dieses unschuldige, so schüchtern und aufrichtig ausgedrückte Interesse wohlthuend geschmeichelt. »Keine«, dachte er, »kann wahrhaftiger sein als Corinna, aber Keine auch kannte sich und Andere besser; Lucile müßte man die Liebe, die sie empfindet, und die, welche sie erregt, erst verstehen lehren. Könnte aber wohl dieser Eintagszauber für das ganze Leben ausreichen? Und weil diese holde Unkenntniß seiner selbst nicht immer währen kann, weil man endlich doch in sein Inneres schauen, endlich doch prüfen muß, was man fühlt, ist da die Reinheit, die das Selbsterkennen überdauert, nicht mehr werth, als die, welche ihm vorangeht?«

Schon zog er zwischen Corinna und Lucile Vergleiche; doch es war dieses Vergleichen, so glaubte er wenigstens, nichts weiter als ein Zeitvertreib für seine Gedanken, und die Besorgniß, es könne ihn tiefer beschäftigen, fiel ihm gar nicht ein.

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