Empfindungen an meinen drei und dreißigsten Geburtstage, an meinen Freund Brunner.

(Geschrieben zu Stuttgart den 20. Oktober 1788.)

Heute betrat ich die Welt: zum drei und dreißigsten Winter
Lenket mein Leben sich ein, O laß am Busen der Freundschaft,
Laß mich sie weinen, die Thräne, die tief aus dem Herzen mir quillet;
Laß mich segnen den Ewigen, der den Odem des Lebens
Hauchte in diese Maschine von Staub, den Vater, der zärtlich
Meiner pflegte, und ach! die unvergessliche Mutter,
Welche von Gram und Alter gebeugt zum Grabe dahin sank,
Stammelnd den Namen des Sohns, des unaussprechlich Geliebten,
Der durch Länder getrennt, nicht trösten konnte, die Gute,
Nicht aufhauchen der Sterbenden Hauch, mit zitternden Fingern
Ihr nicht schließen die Aug´. Längst ruht sie im Schoose der Gottheit,
Harret den Kuße des Sohns, und der Wiederumarmung entgegen.
Freund! Du kanntest sie nicht: mir aber schwebet ihr ANlitz
Vor im nächtlichen Traum: mir wandelt´s zur Seite am Mittag.
Einfach war sie, und gut: oft sah ich in heimlichen Thränen
Schwimmen ihr freundliches Aug´, wenn vor der Durstigen Schwelle
Ein noch Dürstiger um Hülfe und Stättigung flehte.
Oft entschliech sie dem ländlichen Mal, und sparte den Bissen,
Ihr zur Labung bestimmt, für Waisen, von Reichen verstossen.
Mütterlich pflegte sie mein: ich schlürfte die Freuden der Kindheit
Sorgenlos ein am Ufer des Mains, und gaukelte harmlos
Hin und her, und fühlte mein Sein, und fühlte mein Wachsen:
Schlummerte jetzt am rauschenden Bach, jetzt pflückte ich Blumen,
Oder bestieg den knorzigten Baum, auf welchem ich wähnte
Zu erlauern die hülflose Brut, den geschwätzigen Finken.
Aber da mir die Kindheit so sanft, so glücklich dahinfloß;
Sa mich ein Edler, und sprach: »Der Knabe gehörtet den Musen«.
Hätt´ er geschwiegen! Jetzt fäng´ ich vielleicht ein fröhliches Herbstlied,
Freßte die Trauben, mit eigener Hand am Stocke gepfleget,
Schliefe vielleicht im nervigen Arm der bräunlichten Gattinn,
Hörte vielleicht den Namen, den ach! zu hören mir ewig,
Ewig verwehrt ist: ich höre dafür die römische Kette
Klirren am schüttelnden Arm, zum Spotte der glühenden Mannheit.
Hätt´ er geschwiegen! So kännte ich nicht die Tücke der Bonzen,
Kännte den Hof nicht, kännte sie nicht, die schleichenden Vipern,
Welche des Wanderers Fuß mit giftiger Zunge belauern:
Kännte auch nicht die Folter des Geistes, die quälenden Zweifel,
Und den schrecklichen Kampf des Verstandes mit höherer Wahrheit!
Doch ich fluche ihm nicht, dem Edlen, der ländlicher Einfalt
Mich entriß, und widmete mich den städtischen Musen;
Denn er meint´ es so gut, er dachte mein Schutzgott zu werden.
Hier nu saß ich im stolzen Artaun, und füllte mit Worten
Mir das Gehirn, und dünkte mir weiß, und leerte den Becher
Städtischer Luft mit glühender Zung´, und renne, gepeitschet
Von zu schnellen Genuß, nach Sättigung Eckel, Verzweiflung.
Wie, wenn der Sturm ein irrendes Schiff mit Ingrimm ergreifet,
Zehnnmal im Wirbel es dreht, und endlich am Felsen es hinwirft,
Daß es krachend zerspringt; der Pilgrim mit bebenden Armen
Eines der Trümmer umschlingt, und ein nahes Gestade sich träumet:
Also ergriff ich den Entschluß, ein Mönch zu  werden, ergriff ihn
Fest, und ruderte mich damit an das Klippengestade
Einer Insel, genannt die Heilige Insel der Bonzen.
Rings umschlingt sie ein Gurt von Felsen: durch künstliche Ritze
Nimmt sie den Wanderer auf, die einwärts nur führen, nicht rückwärts.
Oede, und still liegt dort die Natur, und ewige Nebel
Hüllen das Eiland in Nacht. Nichts stört die schreckliche Stille,
Als das Gebrüll der opfernden, oder der zechenden Bonzen.
Arbeit ist Sünde für sie: dort röstet kein Mittag den Winzer,
Dort durchwühlet kein Pflug den Busen der züchtigen Erde.
Dennoch schäumet berauschender Wein auf ihren Pokalen,
Dennoch mästen sie sich mit Kälbern und belgischen Fischen,
Welche für Sündenerlaß der Aberglauben herbei führt.
Fremde sind ihnen die Musen; und wenn zuweilen ein Jüngling
Heimlich sie ehrt, so schlagen sie ihm den Altar zu Trümmern,
Werfen ins Feuer die Harf´, und tödten im Herzen des Sängers
Jedes Gefühl des Schönen, und jeden Funken von Freiheit.
Normal wälzte das Jahr sich um die langsame Axe;
Und noch seufzte dein Freund auf der Heiligen Insel der Bonzen.
Endlich erschien im Hafen ein Schiff von Sueviens Fürsten:
Ha! wie sprang ich hinein, und segelte meiner Erlösung
(Ach: so wähnte ich) zu. Nun stieg ich bethend ans Ufer,
Atmete auf, erreichte die Burg des mächtigen Herrschers,
Kleidetee mich in Seiden, und sprach: »Ein Seliger bin ich«!
Aber zu kurz umfächelte mich der Zephyr des Glücks:
Bald umschleierte sich der Himmel mit schwarzem Gewölke,
Und mir blizte Verderben in tausend Gestalten entgegen;
Denn ich küßte den Staub nicht, ab von sterblichen Füßen,
Redete stäzt, wie ich dachte, und sah mit hoher Verachtung
Auf die Künste des Höflings herab. Dies fühlte der Höflin,
Fühlt´ es, und schwur mir den Tod. Und schon, schon dacht´ich zu sterben;
Siehe! Da winkt am Ufer des Rhenus mir Phöbus Apollo!
Phöbus Apollo! wie wallet mein Herz entgegen dem Gotte!
Ha! ich werde befreit: mein harret im Haine der Musen
Süßer Gesang, und freundlicher Scherz, und sichere Freude.
Gieb mir Flügel, oh Freund! zu fliegen zum Haine der Musen!
Laß mich jauchzen, und singen ein Lied des Dankes den Retter
Phöbus Apollo! bald schmücket sein Kranz die Schläfe des Freundes,
Bald druchglühet sein Geist mir die Seele: bald hebet mein Haupt sich
Unter Teutoniens Barden empor am Ufer des Rhenus


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