Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Zwanzigstes Buch: Schluß
Sechstes Kapitel
Mehrere Tage verstrichen, ohne daß Oswald Ruhe finden konnte nach dem herzzerreißenden Eindruck, den ihm dieser Brief gemacht. Er floh Lucilens Gegenwart; ganze Stunden brachte er an dem Flusse zu, auf dessen jenseitigem Ufer Corinnens Haus zu sehen war, und zuweilen war er versucht, sich in die Fluthen zu stürzen, um von ihnen wenigstens todt bis zu jener Behausung getragen zu werden, deren Eintritt ihm jetzt untersagt blieb. Aus Corinnens Brief erfuhr er, daß sie die Schwester zu sehen wünsche, und obgleich ihn dieses Verlangen überraschte, hätte er es doch gern befriedigt. Wie aber dies mit Lucile zur Sprache bringen? Er sah es wohl, sie war durch seinen Kummer verletzt; er hätte gewollt, daß sie ihn frage, er konnte sich nicht entschließen, zuerst zu sprechen; und Lucile fand stets Auswege, um das Gespräch auf gleichgültige Gegenstände zu lenken, einen Spaziergang vorzuschlagen, kurz jede Unterredung abzuwenden, die zu einer Erklärung hätte führen können. Sie äußerte zuweilen den Wunsch, Florenz zu verlassen, um nach Rom und Neapel zu gehen. Lord Nelvil widersprach dem nie; er bat meist nur um ein paar Tage Aufschub, und Lucile willigte dann mit kalter und würdevoller Miene ein.
Oswald wollte Corinna wenigstens sein Töchterchen schicken, und heimlich befahl er der Wärterin, Julia hinzubringen. Als die Kleine zurückkam, ging er ihr entgegen, und fragte sie, ob ihr der Besuch Vergnügen gemacht habe. Julia antwortete mit einem italienischen Wort, dessen Aussprache an die Corinnens erinnerte, und ihn beben machte. »Kind, wer hat Dich das gelehrt?« fragte er. »Die Dame, von der ich eben komme.« – »Und wie war sie gegen Dich?« – »Sie hat sehr geweint, als sie mich sah«, antwortete Julia; »ich weiß aber nicht, weshalb. Sie küßte mich, und weinte, und das that ihr sicher weh, denn sie sieht sehr krank aus.« – »Und sie gefällt Dir, diese Dame?« – »O sehr, ich will alle Tage hingehn; sie hat mir versprochen, mich Vielerlei zu lehren; sie möchte, daß ich so wie Corinna würde, sagt sie. Was ist Corinna, lieber Vater? Die Dame hat es mir nicht sagen wollen.« – Auch der Vater sagte es ihr nicht, und wendete sich ab, um seine Rührung zu verbergen. Er befahl, daß Julia nun täglich auf ihren Spaziergängen zu Corinna geführt werde; vielleicht war es ein Unrecht gegen Lucile, so ohne ihre Einwilligung über das Kind zu verfügen. Die Kleine machte indeß nach Tagen schon die erstaunlichsten Fortschritte in ihrer Entwicklung. Ihr Lehrer des Italienischen war von ihrer Aussprache entzückt, und der in der Musik bewunderte schon ihre ersten Versuche.
Nichts vielleicht von allem, was geschehen war, hatte Lucile so viel Schmerz bereitet, als dieser Einfluß Corinnens auf die Erziehung ihrer Tochter. Sie wußte es durch diese, daß die arme Corinna, in ihrer Schwäche und Auflösung, sich die äußerste Mühe gebe, um sie zu unterrichten und ihr von ihrem Talent mitzutheilen, wie eine Erbschaft, die sie gern noch bei Lebzeiten abtrat. Lucile würde davon gerührt gewesen sein, wenn sie in all dieser Sorgfalt nicht immer die Absicht gesehen hätte, ihr Lord Nelvil zu entfremden, und sie kämpfte zwischen dem begreiflichen Wunsch, die Tochter allein zu erziehen, und dem Vorwurf, den sie sich machen mußte, wenn sie ihr einen Unterricht vorenthielt, der dem Kinde in so unglaublicher Weise zum Vortheil gereichte. Eines Tages trat Lord Nelvil ins Zimmer, als Julia eben ihre Musikstunde hatte; sie hielt eine ihrer Größe angemessene Harfe in Lyraform, ganz nach der Weise Corinnens, in ihren kleinen Armen. Man glaubte ein schönes Gemälde in Miniatur zu sehen, dem noch der unschuldsvolle Reiz der Kindheit sich zugesellte. Schweigend und erschüttert setzte Oswald sich nieder, und lauschte einem schottischen Lied, das die Kleine von Corinna spielen gelernt hatte, und welches diese Lord Nelvil einst in Tivoli vor einem Gemälde nach Ossian gesungen. Während Oswald athemlos zuhörte, trat Lucile leise in das Zimmer, ohne daß er's gewahrte, und als Julia nun zu Ende war, hob der Vater sie liebkosend zu sich hinauf. »Die Dame, die dort am Flusse wohnt, hat Dich also dieses Lied gelehrt?« fragte er. »Ja«, erwiderte das Kind; »aber es machte ihr so viele Mühe, und sie war oft recht krank dabei; doch wollte sie nicht aufhören, und ich mußte ihr versprechen, Dir das Lied an einem bestimmten Tag im Jahr immer zu wiederholen, am siebzehnten November, denke ich, war's.« »O, mein Gott!« rief Lord Nelvil und küßte sein Kind unter Thränen.
»Das ist zu viel, Mylord«, sagte Lucile, jetzt vortretend, auf Englisch zu ihrem Gemahl und nahm Julia bei der Hand; »mir auch noch die Liebe meiner Tochter abzuwenden; dieser Trost muß mir in meinem Unglück bleiben.« – Darauf ging sie mit Julia hinaus. Vergeblich wollte Lord Nelvil ihr folgen, – sie gestattete es nicht, und erst um die Essenszeit meldete man ihm, daß sie seit einigen Stunden allein, und ohne Angabe ihres Zweckes, ausgegangen sei. In tödtlicher Angst über ihre Abwesenheit harrte er ihrer lange, bis er sie mit einem Ausdruck der Ruhe und Sanftmuth eintreten sah, der sehr verschieden von dem war, was er erwartet hatte. Er wollte nun endlich mit Vertrauen zu ihr reden und sich ihre Verzeihung durch Aufrichtigkeit erwerben. »Gestatten Sie, Mylord«, erwiderte sie ihm, »daß diese uns Beiden so nothwendige Erklärung noch aufgeschoben werde. Sie werden in Kurzem die Gründe meiner Bitte erfahren.«
Wahrend des Speisens zeigte sie im Gespräch mehr Theilnahme als sonst; und auch in den nun folgenden Tagen bewies sie sich liebenswürdiger und lebhafter wie früher. Lord Nelvil begriff diese Veränderung nicht, deren Ursache folgende war: Lucile hatte sich durch den Verkehr ihrer Tochter mit Corinna, und durch den Antheil, welchen Lord Nelvil an den wunderbaren Fortschritten des Kindes nahm, sehr verletzt gefühlt. Alles, was sie seit lange in ihrem Herzen verschlossen gehalten, war in diesem Augenblick an's Licht gekommen, und wie es den Menschen wohl geht, wenn sie aus ihrem Charakter heraustreten, sie faßte einen raschen Entschluß und ging aus, um mit Corinna zu reden und sie zu fragen, ob sie ihr die Neigung ihres Gatten denn für immer zu entziehen gedenke. Lucile sprach muthig mit sich selbst, bis sie vor Corinnens Thür stand; dann aber kam eine solche Schüchternheit über sie, daß sie sich wohl niemals entschlossen haben würde, einzutreten, wenn Corinna, die sie vom Fenster aus gesehen, ihr nicht Theresina mit der Bitte entgegengeschickt hätte, sie möge doch hinaufkommen. Sie folgte dieser Aufforderung, und als sie nun die Schwester in ihrem jammervollen Zustande sah, schwand all ihr Zorn; tief bewegt und mit Thränen umarmte sie die Unglückliche.
Nun begann zwischen den Schwestern ein Gespräch voll gegenseitigen Freimuthes. Corinna gab hierzu das Beispiel, und es wäre für Lucile wohl unmöglich gewesen, dem nicht zu folgen. Den Einfluß, den Corinna auf alle Welt geübt, hatte nun auch Lucile zu empfinden: man konnte vor ihr keine Verstellung, keine Gezwungenheit beibehalten. Sie theilte Lucile mit, daß sie nur noch wenige Zeit zu leben habe, und ihre Schwäche, ihre Todtenblässe bewiesen das nur zu gut. Voller Einfachheit sprach sie mit Lucile über die zartesten Gegenstände; sprach von ihrem und Oswalds Glück. Aus dem, was Fürst Castel-Forte ihr erzählt, und mehr noch aus dem, was sie selbst errieth, wußte sie, daß oft Zwang und Kälte in dieser Ehe herrschten; und sich der Ueberlegenheit bedienend, die ihr durch ihren Geist und durch ihr nahes Ende verliehen war, unternahm sie es großmüthig, Lucilens Verhältniß zu Lord Nelvil glücklicher zu gestalten. Da sie dessen Charakter vollkommen kannte, suchte sie Lucile deutlich zu machen, weshalb es Jenem ein Bedürfniß sei, in der Frau, die er liebe, einer, in mancher Hinsicht von der seinen abweichenden Wesenheit zu begegnen: freiwilliges Vertrauen, weil seine natürliche Zurückhaltung ihn hinderte, um solches zu werben, mehr Theilnahme, weil er sehr zur Muthlosigkeit neigte, und Frohsinn, eben weil er schon von seiner eigenen Traurigkeit litt. Corinna schilderte nur sich selbst in den Sonnentagen ihres Lebens; sie beurtheilte sich, wie sie eine Fremde beurtheilt haben würde, und hielt es Lucilen eifrig vor, wie anziehend eine Frau sein müßte, die mit der tadellosesten Haltung, mit strengster Sittlichkeit doch den ganzen Zauber, die ganze Hingebung und den liebenswürdigen Wunsch zu gefallen verbände, wie sie alle zuweilen aus dem Bemühen entstehen, begangene Fehler vergessen zu machen.
»Es giebt Frauen«, sagte Corinna, »die nicht nur trotz ihrer Irrthümer, sondern wegen derselben geliebt werden. Der Grund dieses Widerspruchs ist vielleicht, daß sie liebenswürdig zu sein suchen, um sie sich verzeihen zu lassen, und keinen Zwang auferlegen, weil sie selbst der Nachsicht bedürfen. Sei also auf Deine Vortrefflichkeit nicht stolz, Lucile; laß Deinen Zauber darin bestehen, Dich nicht zu überheben, sondern sie vergessen zu machen: Du mußt zugleich Du und ich sein. Niemals darfst Du Dich durch Deine Tugend zu der leichtesten Vernachlässigung Deiner Anmuth berechtigt fühlen, und nimm sie nie zum Vorwande, um Dir Stolz und Kälte zu erlauben. Wenn dieser Stolz nicht gegründet wäre, würde er vielleicht weniger verletzen; aber ein Pochen auf seine Rechte erkältet das Herz des Andern mehr, als noch so unbegründet erhobene Ansprüche: die Liebe giebt besonders gern, was zu geben sie nicht verpflichtet ist.«
Lucile dankte der Schwester innig für die Beweise von Güte, die solch ein Rath enthalte, und Corinna fügte hinzu: »Wenn ich noch weiter leben müßte, würde ich ihrer auch nicht fähig sein; da ich aber nun sterben muß, ist es mein letzter, selbstischer Wunsch, daß Oswald in Dir und Deiner Tochter einige Spuren meines Einflusses wiederfinde, daß er wenigstens nie eines edlen Gefühls froh werde, ohne an Corinna denken zu müssen.« – Lucile war nun täglich bei der Schwester und bemühte sich mit liebenswürdiger Bescheidenheit, und noch liebenswürdigerem Zartgefühl, der Frau ähnlich zu werden, die Oswald am meisten geliebt hatte. Die Verwunderung desselben über Lucilens neue, wärmere Anmuth steigerte sich mit jedem Tage. Er errieth sehr bald, daß sie Corinna gesehen haben müsse, konnte aber darüber kein Zugeständniß von ihr erlangen. Corinna hatte gleich in der ersten Unterredung mit Lucile ein Geheimhalten ihres Verkehrs gefordert. Wohl hatte sie es sich vorgenommen, Oswald und Lucile einmal zusammen zu sehen, aber erst dann, wie es schien, wenn sie sich mit Gewißheit sagen dürfe, daß sie nur noch Augenblicke zu leben habe. Sie wollte Alles mit einem Male sagen, Alles auf einmal fühlen, und hüllte diesen Plan in so tiefes Geheimniß, daß selbst Lucile nicht wußte, auf welche Weise sie beschlossen habe, ihn auszuführen.