Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.

Viertes Kapitel

Corinna und Lord Nelvil nahmen nun den Entschluß, nach Venedig zu reisen, um Roms todbringender Luft zu entgehen, von Neuem wieder auf. Ueber ihre weiteren Zukunftspläne beobachteten sie das frühere Stillschweigen, aber mit größerer Zärtlichkeit, denn je, gaben sie sich dem Ausdruck ihrer Liebe hin, und Corinna vermied nicht weniger sorgfältig, als der Freund, ein Thema zu berühren, das so leicht den göttlichen Frieden ihres Verkehrs stören konnte. Welch einen Glückesreichthum barg so ein mit ihm verlebter Tag! Mit welchem Entzücken genoß er die Unterhaltungen der Geliebten, folgte er ihren Bewegungen, errieth er ihre geringsten Wünsche, und dies Alles mit so beständigem, so anhaltendem Interesse, daß ein anderes Leben für ihn undenkbar schien, daß es unmöglich schien, er könne so viel Glück gewähren, ohne selbst glücklich zu sein. Corinna schöpfte Sicherheit aus der eigenen, tief empfundenen Beseligung. Wer eine Zeitlang in solchem Zustand lebt, glaubt endlich, dieser sei vom Dasein unzertrennlich, sei das wahre, eigentliche Leben. Er irrt. Corinnens Herzensangst hatte sich nur wieder beruhigt, und ihre Sorglosigkeit kam ihr noch einmal zu Hülfe.

Ihr letzter Tag in Rom fand sie indessen doch in tiefer Schwermuth, sie fürchtete und wünschte es für immer zu verlassen. In der Nacht vor dem Morgen der Abreise hörte sie eine singende Schaar Römer und Römerinnen unter ihren Fenstern vorüberziehen. Schlafen konnte sie doch nicht, so widerstand sie dem Verlangen nicht, es Jenen nachzuthun und noch einmal auf diese Art ihre geliebte Stadt zu durchwandern. Sie kleidete sich an, ließ Wagen und Diener in einiger Entfernung folgen, und dicht in einen Schleier gehüllt, der sie unkenntlich machte, erreichte sie bald bis auf wenige Schritte den fröhlichen Trupp, welcher auf der Engelsbrücke, gegenüber dem Mausoleum Hadrians, Halt gemacht hatte. Die Musik, an dieser Stätte, klang wundersam, als wolle sie dem Lauschenden erzählen, wie vergänglich und traumhaft alle Herrlichkeit der Welt sei. Es war, als sehe man den großen Schatten Hadrians in den Lüften schweben, der erstaunt ist, keine andere Spur seiner Macht auf Erden zu finden, als ein Grab. Die Schaar setzte ihren Weg weiter fort, immer in die schweigende Nacht hinaussingend. Zu dieser Stunde, wenn die Glücklichen schlafen, mochten die reinen sanften Klänge wohl Manche trösten, denen der Schmerz die Augen offen hielt. Corinna folgte ihnen, nachgezogen von dem unwiderstehlichen Zauber der Melodie, welcher uns die Müdigkeit vergessen läßt, und unserem Schritte Flügel leiht.

Vor der antoninischen Säule und der des Trajan machten die Sänger von Neuem Halt, und sangen diesen, wie auch dem Obelisken von St. Johann vom Lateran ihren Gruß entgegen. Die ideale Sprache der Musik stimmte würdig zu dem idealischen Eindruck dieser Monumente, und Begeisterung allein herrschte jetzt, während des Schlafes der gemeinen Tagesinteressen, in dieser ewigen Stadt. Endlich entfernte sich die singende Schaar, und Corinna blieb einsam neben dem Coliseum zurück, dessen Umkreis sie nun betrat, dem antiken Rom ein Lebewohl zu sagen. Wer das Coliseum nur bei Tage gesehen hat, kennt es nicht; wohl ist er schön, der festlich verklärende Glanz der italienischen Sonne; der Mond aber ist das Gestirn der Ruinen! Zuweilen liegt hinter den Oeffnungen des Amphitheaters, das bis in die Wolken aufzusteigen scheint, ein Stück des Himmelsgewölbes, gleich einem hinter dem Gemäuer herabgezogenen dunkelblauen Vorhang. Pflanzen, wie sie gern in der Einsamkeit grünen, schlingen sich um die zerbröckelnden Mauern und scheinen jetzt, in dem Halbdunkel der Nacht so wirr und fremdartig. Die Seele durchschauert heilige Rührung, wenn sie sich hier mit der Natur allein findet.

Die eine Seite des Bauwerkes ist viel verfallener, als die andere. Obwohl Zeitgenossen, kämpfen sie doch mit ungleichem Erfolg gegen die Zeit; der schwächere Theil unterliegt, der stärkere widersteht noch, um eben auch bald zusammenzustürzen. »Heilige Stätte«, rief Corinna, »wo in diesem Augenblicke kein menschliches Wesen mit mir lebt, wo nur meine Stimme allein meiner Stimme Antwort giebt, warum besänftigen sich die Stürme der Leidenschaften nicht an dieser Ruhe der Natur, die so gelassen die Generationen an sich vorübergehen läßt? Hat denn das Weltall nicht noch einen andern Zweck als den Menschen, und sind all seine Wunder nur da, um auf unsere Seele zurückzustrahlen? Oswald! Oswald! warum dich mit solcher Anbetung lieben? warum sich Empfindungen hingeben, die neben der Ewigkeit, neben den überirdischen Hoffnungen, die uns an die Gottheit knüpfen, doch nur Eintagsgefühle sind? Großer Gott! wenn es wahr ist, wie ich's ja glaube, daß man dich nur mehr bewundert, je mehr man des Nachdenkens fähig ist, dann hilf mir in der Gedankenwelt eine Zufluchtsstätte finden vor diesem Herzeleid! Ist denn der edle Freund, dessen geliebtes Auge ich nicht vergessen kann, nicht ein ebenso vorübergehendes Wesen, als ich? Und droben über den Sternen wohnt doch eine ewige Liebe, die allein der Unendlichkeit unseres Sehnens genügen sollte.« – Corinna blieb noch lange dort, in Träumerei versunken, endlich schlug sie ernsten Schrittes den Weg nach ihrem Hause ein.

Vorher aber wollte sie noch nach der Peterskirche gehen, um den Anbruch des Tages dort zu erwarten, und von der Höhe ihrer Kuppel herab der Stadt Rom einen Abschiedsgruß zu sagen. Als jener Wunderbau jetzt vor ihr lag, suchte sie sich in Gedanken vorzustellen, wie er, wenn einst auch Ruine, den kommenden Geschlechtern ein Gegenstand der Bewunderung sein werde. Im Geist sah sie diese aufrecht stehenden Säulen zum Theil darniederliegend, diesen Porticus zertrümmert, das Gewölbe aufgedeckt, aber selbst dann würde sicherlich der Obelisk der Egypter noch auf die neuen Trümmer herabschauen: dies Volk hat für eine irdische Ewigkeit gearbeitet. Endlich kam die Morgenröthe, und Corinna betrachtete von der Höhe St. Peters das alte Rom, das hier vor ihr lag, verloren in der Campagna, gleich einer Oase in Libyens Wüste. Verödung umgiebt es; aber diese Schaar es überragender Thürme, Kuppeln, Obelisken, Säulen, über welche wiederum die Peterskirche in ihrer Größe sich noch erhebt, verleiht seinem Anblick eine ganz außerordentliche Schönheit. Diese Stadt besitzt einen, so zu sagen individuellen Reiz. Man liebt sie, wie ein lebenathmendes Wesen; ihre Mauern, ihre Trümmer sind unsere Freunde.

Corinna wendete sich scheidend dem Coliseum, dem Pantheon, der Engelsburg, kurz all den Orten zu, deren Anblick so oft die Freuden ihrer Einbildungskraft erneuert hatte. »Leb wohl, du Land der Erinnerung!« rief sie, »leb wohl, du Stätte, wo das Leben weder von der Gesellschaft, noch den Ereignissen abhängig ist, wo die Begeisterung sich durch die Bewunderung äußerer Gegenstände, durch den innigsten seelischen Zusammenhang mit ihnen, nährt. Ich gehe fort; ich folge Oswald, ohne auch nur zu wissen, welches Loos er mir bestimmt; folge dem Manne, welchen ich dem unabhängigen Leben vorziehe, das mir so glückliche Tage gewährt hat. Vielleicht komme ich wieder zurück; aber mit verwundetem Herzen, mit gebrochener Seele, und selbst ihr, ihr schönen Künste und heiligen Monumente, und du Sonne, die ich in der dunstigen Atmosphäre meines Exils so oft angerufen habe – ihr Alle werdet mir dann nichts mehr sein!«

Corinna weinte viel heiße Thränen bei diesem Abschiede, doch dachte sie nicht einen Augenblick daran, Oswald allein reisen zu lassen. Frei aus dem Herzen kommende Entschlüsse haben das Eigenartige, daß man sie klar beurtheilt, sie vor sich selbst oft mit Strenge tadelt, und doch nicht zögert, sie zu fassen. Wenn Leidenschaft einen überlegenen Geist bemeistert, trennt sie die Urteilskraft gänzlich vom Handeln, und hat es gar nicht nöthig, die eine zu verwirren, um das andere irren zulassen.

Als Corinna aus der Kirche trat, lag auf ihren bleichen, von dem Schleier und dem halbgelösten Haar malerisch umrahmten Zügen ein ungewöhnlicher Ausdruck; eine Menge Menschen folgten ihr unter Beweisen der verehrendsten Anhänglichkeit bis zum Wagen, und sie seufzte noch einmal, als sie ein Volk verließ, dessen Empfindungen immer so leidenschaftlich und oft so liebenswürdig sind.

Das war aber noch nicht Alles; Corinna hatte auch noch den Abschied von ihren Freunden zu bestehen. Diese ersannen, um sie noch einige Tage zurückzuhalten, Festlichkeiten aller Art, und machten Verse, um sie in tausend Weisen anzuflehen, sie möge sie nicht verlassen; als sie nun endlich abreiste, wurde sie von ihnen noch meilenweit hinausbegleitet. Sie war tief gerührt; Oswald aber blickte still vor sich nieder; er warf es sich vor, sie so vielem Glück zu entziehen, wenn er auch wußte, daß es noch grausamer gewesen wäre, ihr zum Bleiben zuzureden. Er schien selbstsüchtig, da er Corinna so hinwegführte, und war es doch eigentlich nicht; denn die Furcht, sie durch sein Alleinreisen zu betrüben, bestimmte ihn mehr noch, als das Glück, welches er mit ihr genoß. Noch wußte er nicht, was er thun werde, und über Venedig vermochte er nicht hinauszudenken. Er hatte nach Schottland, an einen der Freunde seines Vaters geschrieben, um zu erfahren, ob sein Regiment bald zu aktivem Kriegsdienst herangezogen würde, und erwartete noch die Antwort. Zuweilen dachte er daran, Corinna mit nach England zu nehmen, um doch gleich wieder einzusehen, daß er auf immer ihren Ruf untergrabe, wenn er sie nicht als seine Frau dorthinführe. Ein andermal wollte er, um die Bitterkeit der Trennung zu mildern, vor der Abreise eine heimliche Trauung stattfinden lassen, und gleich darauf wies er auch diesen Gedanken zurück. »Giebt es für die Todten Geheimnisse«, sagte er sich, »und wo läge der Vortheil, wenn ich eine Verbindung geheim hielte, deren Vollziehung ohnehin nur durch die Macht eines Grabes gehindert wird?« – Kurz, er war sehr unglücklich. Seine Seele, der es in allen Gefühlsfragen stets an Kraft gebrach, war durch die widerstreitendsten Bedenklichkeiten auf das Grausamste bewegt. Corinna gab sich ihm vertrauend und in entsagender Ergebung hin; mit der großmüthigen Unvorsicht ihres Herzens begeisterte sie sich in ihrem Schmerz noch an den Opfern, welche sie dem Geliebten brachte; während Oswald, für ein fremdes Geschick verantwortlich, mit jedem Augenblick neue Bande einging, ohne die Möglichkeit sich ihnen zu überlassen, und weder seiner Liebe, noch seiner Gewissenhaftigkeit froh wurde, weil er der einen wie der andern nur durch ihr gegenseitiges Sichbekämpfen inne ward.

Beim Abschiede empfahlen Corinna's Freunde Lord Nelvil das Wohl derselben auf das Angelegentlichste. Ihm aber wünschten sie Glück dazu, von der edelsten aller Frauen geliebt zu sein; der geheime Vorwurf, den ihre Worte enthielten, bereitete Oswald neues Mißbehagen. Corinna fühlte das und suchte daher diese Freundschaftsbezeugungen, so liebenswürdig sie auch waren, abzukürzen. Indessen sagte sie doch, als die Scheidenden, welche sich von Zeit zu Zeit noch grüßend zurückgewendet hatten, ihren Blicken entschwunden waren, die einfachen Worte zu Lord Nelvil: »Oswald, ich habe keinen Freund mehr als Sie!« – O, wie fühlte er in diesem Augenblick die Notwendigkeit, sich ihr als Gatte anzugeloben! Er war nahe daran, es zu thun; aber wer viel gelitten hat, den hindert ein schwer zu besiegendes Mißtrauen sich seinen ersten Regungen hinzugeben, und er zittert vor allen unwiderruflichen Entschließungen, dann selbst, wenn das Herz sie befiehlt. Corinna glaubte zu erkennen, was in Oswalds Seele vorging; und mit schönem Zartgefühl lenkte sie das Gespräch auf die, sich vor ihnen ausbreitende Landschaft.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12