Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.
Fünftes Kapitel
Ihre Reise fiel in den Beginn des Monats September; in der Ebene war das Wetter vortrefflich; als sie jedoch die Apenninen erreichten, fühlten sie das Nahen des Winters. Hohe Gebirge beeinträchtigen oft die Gleichmäßigkeit des Klimas, und selten kann man den malerischen Anblick erhabener Berggegenden mit dem Genuß einer milden Luft vereinigen. Eines Abends, als Corinna und Lord Nelvil unterwegs waren, erhob sich ein furchtbarer Gewittersturm; tiefe Dunkelheit umgab sie, und die, in jenen Gegenden so unruhigen Pferde zogen den Wagen mit unbegreiflicher Schnelligkeit; ein süßer Schauer durchbebte Beide, da sie sich so miteinander hinweggerissen fühlten. »Ach«, rief Lord Nelvil, »wenn man uns so aus allem Irdischen hinwegführte, wenn wir die Berge erklimmen, uns in ein anderes Leben hinüberschwingen könnten, wo wir dann meinen Vater fänden, der uns aufnehmen, uns segnen würde! Möchtest Du das, Geliebte?« Und er drückte sie stürmisch an sein Herz. Corinna war nicht weniger erschüttert: »Thue mit mir, wie Du willst; feßle mich wie eine Sklavin an Dein Geschick; hatten denn früher die Sklavinnen nicht Talente, mit welchen sie das Leben ihrer Gebieter verschönten? Mag es doch also zwischen uns sein. Das Weib wird Dir heilig sein, das sich an Dein Glück verliert, und Du wirst nicht wollen, daß sie jemals vor Dir erröthen müßte, möge auch die Welt sie verdammen.« – »Ich muß es ...« rief Oswald, »ich will – es muß Alles errungen oder Alles geopfert werden. Ich muß Dein Gatte sein, oder zu Deinen Füßen vor Liebe sterben, die Sehnsucht ersticken, die Du in mir erregst. Aber ich hoffe noch! Ich werde mich vor aller Welt Dir vereinen, mich Deiner Liebe rühmen dürfen. Ach, sage mir, Theure, habe ich durch die Kämpfe, welche mich zerrissen, nichts von Deiner Neigung verscherzt? Glaubst Du Dich weniger geliebt?« – Und er fragte in so leidenschaftlichem Ton, daß er Corinna für einen Augenblick ihr ganzes Vertrauen wiedergab. Reinstes und innigstes Empfinden beseelte jetzt Beide.
Die Pferde hielten, und Lord Nelvil stieg zuerst aus. Er fühlte nun den kalten schneidenden Wind, vor welchem ihn der Wagen geschützt hatte; man konnte sich auf Englands Küste wähnen. Diese eisige Luft stimmte nicht mehr zu dem schönen Italien, fächelte nicht mehr, wie die des Südens, Vergessenheit von Allem, außer der Liebe, zu. Oswald war bald wieder in seine schmerzlichen Betrachtungen zurückgesunken, und Corinna, welche die ruhelose Wandelbarkeit seiner Fantasie kannte, errieth ihn nur zu bald.
Am folgenden Tage erreichten sie das, auf hohem Bergesrücken gelegene St. Loretto, von welchem aus man das adriatische Meer erblickt. Während Lord Nelvil durch einige, auf die Reise bezügliche Anordnungen zurückgehalten wurde, ging Corinna nach der Kirche, in welcher eine, in der Mitte des Chors gelegene, mit recht schönen Basreliefs geschmückte Kapelle das Bild der heiligen Jungfrau umschließt. Das Marmorpflaster vor diesem Heiligthum ist von den auf den Knieen nahenden Pilgern völlig ausgehöhlt. Corinna war von diesen Spuren der Andacht bewegt, und auf dieselben Steine niedersinkend, wo vor ihr so viele Unglückliche geweint, betete sie mit Thränen zu jenem Bilde der Güte, dem Symbol der himmlischen Liebe. So fand sie Oswald. Er begriff nicht, wie eine Frau von ihrem überlegenen Geist sich derartigen Volksgebräuchen anschließen konnte, und Corinna las in seiner Miene, was er dachte. »Theurer Oswald«, sagte sie, »darf man denn immer wagen, seine Wünsche bis zum Allerhöchsten zu erheben? Wie könnten wir ihm all das Herzeleid anvertrauen? Ist es denn nicht tröstlich, eine Frau dafür als Fürbitterin wählen zu dürfen? Sie hat auf dieser Erde gelitten, denn sie hat gelebt; zu ihr flehe ich mit weniger Erröthen; ein unmittelbares Gebet wäre mir zu anspruchsvoll erschienen.« – »Auch ich bete nicht immer in directer Form«, entgegnete Oswald, »auch ich habe meinen Vermittler; der Schutzengel der Kinder ist ihr Vater; und seit der meinige im Himmel ist, habe ich oft Trost und unerwartete Hülfe und manche ruhige, weihevolle Stunde in dem erhebenden Gedanken an Ihn gefunden; mit seinem Beistand hoffe ich auch jetzt meiner qualvollen Unschlüssigkeit Herr zu werden.«–»Ich kann das verstehn«, sagte Corinna, »Jeder hat wohl im Stillen seine besondere und geheimnißvolle Vorstellung von dem eigenen Schicksal; sei es in Gestalt eines Ereignisses, das man immer gefürchtet hat, das gar nicht wahrscheinlich war und welches dennoch eintritt, oder einer Strafe, deren Beziehung zu unserem Unglück wir oft durchaus nicht herausfinden können. Von Kindheit auf z.B. begleitete mich die Furcht, einst in England bleiben zu müssen, während nun der Schmerz, nicht dort leben zu können, mich vielleicht noch in Verzweiflung stürzen wird. Ich fühle, wie in dieser Hinsicht ein Unbezwingliches in meinem Schicksale liegt, ein Widerstand, gegen den ich vergeblich ankämpfe, an dem ich zu Grunde gehen werde. Ein Jeder begreift innerlich sein Leben ganz anders, als es zur Erscheinung kommt. Man glaubt verworren an eine übernatürliche, ohne unser Mitwissen waltende Macht, die sich unter der Gestalt äußerer Verhältnisse verbirgt und allein die Ursache von Allem ist. Mein Freund, gedankenreiche Menschen tauchen unaufhörlich in den Abgrund ihres Selbstes hinunter, und finden nimmer, nimmer ein Ende!« Wenn Oswald Corinna so sprechen hörte, wunderte er sich stets, daß sie im Stande war, so leidenschaftliche Gefühle zu durchleben, und sich zugleich mit klarem Urtheil über dieselben zu stellen. »Nein«, sagte er sich dann wohl, »nein, nichts auf Erden kann Dem noch genügen, der die Unterhaltung einer solchen Frau genossen hat.«
In Ancona trafen sie Nachts ein, weil Lord Nelvil dort erkannt zu werden fürchtete. Trotz dieser Vorsicht erfuhr man aber seine Ankunft, und am folgenden Morgen versammelte sich die ganze Einwohnerschaft der Stadt vor dem Gasthause, in welchem sie abgestiegen waren. Corinna wurde durch Rufe geweckt, die sie durchschauerten: »Es lebe Lord Nelvil, es lebe unser Wohlthäter.« Sie kleidete sich schnell an, und ging hinaus, um sich in der Menge zu verlieren, denn sie sehnte sich, das Lob des Geliebten von fremden Lippen zu vernehmen. Lord Nelvil war endlich genöthigt, sich dem Volke, das ungestüm nach ihm verlangte, zu zeigen; er glaubte, Corinna schlafe noch und wisse nicht, was vorgehe. Wie erstaunte er daher, als er sie mitten auf dem Platze sah, schon bekannt, schon vertraut mit diesen dankbaren Menschen, welche sie anflehten, für sie den Ausdruck ihrer Verehrung zu übernehmen. Corinnens Einbildungskraft gefiel sich leicht in allen außergewöhnlichen Situationen; diese Einbildungskraft war ihr größester Reiz, doch zuweilen ihr Fehler. Sie dankte Lord Nelvil im Namen des Volks, und entzückte dieses durch die edle Anmuth, mit der sie es that. Sich mit den Bürgern identificirend, sagte sie »Wir«. »Sie haben uns gerettet, wir schulden Ihnen das Leben.« – Und als sie vortrat, um Lord Nelvil einen für ihn geflochtenen Kranz aus Lorbeer und Eichenlaub zu überreichen, wurde sie von unbeschreiblicher Bewegung ergriffen; in diesem Augenblick empfand sie tiefe Scheu vor Oswald, und als das enthusiastische Volk sich jetzt vor ihm niederwarf, beugte auch sie unwillkürlich das Knie, und reichte ihm den Kranz in dieser Stellung. Lord Nelvil, hievon auf das Aeußerste verwirrt, vermochte diese öffentliche Scene und solche von der angebeteten Frau ihm dargebrachte Huldigung nicht länger zu ertragen. Er entfernte sich schnell und zog sie mit sich hinweg.
Bei der Abreise dankte Corinna den Einwohnern Ancona's, die sie mit ihren Segenswünschen begleiteten, unter Thränen, während Oswald sich in die Tiefe des Wagens zurückzog und das vorhin empfundene peinliche Gefühl noch nicht überwunden zu haben schien. »Corinna mir zu Füßen! Mir, der ich den Boden küssen möchte, auf welchem sie wandelte. Habe ich solche Mißkennung verdient? Trauen Sie mir den unwürdigen Hochmuth zu......« – »Nein, sicherlich nicht«,unterbrach ihn Corinna, »aber ich wurde plötzlich von der Ehrfurcht hingerissen, die eine Frau immer für den Mann fühlt, den sie liebt. Die äußerlichen Huldigungen richtet man an uns, aber in der Wirklichkeit, in der Natur ist es die Frau, welche verehrend zu dem Manne aufschaut, den sie sich zum Beschützer wählte! – »Ja, und das werde ich Dir sein«, rief Lord Nelvil, »bis zum letzten Tage meines Lebens will ich Dein Beschützer sein, der Himmel ist mein Zeuge! So viel Güte, so viel Geist sollen sich nicht vergeblich unter das Obdach meiner Liebe geflüchtet haben.«– »Ach!« antwortete Corinna, »ich will sonst nichts, als diese Liebe; und welches Versprechen kann mir für sie bürgen? Genug – ich fühle, daß Du mich jetzt mehr als jemals liebst; trüben wir uns diese Rückkehr nicht.« – »Diese Rückkehr!« unterbrach Oswald. – »Ja, ich nehme das Wort nicht zurück«, sagte Corinna; »aber wir wollen es nicht erklären«; und lächelnd hieß sie ihn schweigen.