Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.

Drittes Kapitel

Wie öde erscheint Rom dem von Neapel Kommenden! Man fährt durch das Thor St. Johann vom Lateran in die Stadt, dann lange, einsame Straßen hinunter. Das Geräusch von Neapel, seine Uebervölkerung und ihr lärmendes Treiben machen einen gewissen Grad von Unruhe zur Gewohnheit, nach welcher Rom anfangs ungemein öde erscheint. Nach einigen Tagen Aufenthalts gefällt man sich dort von Neuem. Wer aber einmal an ein zerstreuendes Leben gewöhnt ist, kehrt immer mit einem Gefühl der Schwermuth in sich selbst zurück, auch wenn man sich dabei zufrieden fühlt. Außerdem ist der Aufenthalt in Rom zu Ende des Juli, in welcher Jahreszeit man sich damals befand, sehr gefährlich. Einige Stadt-Viertel sind dann durch die ungesunden Dünste ganz unbewohnbar gemacht; nicht selten breiten sich die Fieber über die ganze Stadt aus. In diesem Jahre hatte man noch größere Besorgnisse, als gewöhnlich, und auf den meisten Gesichtern lag der Ausdruck geheimen Schreckens.

Bei ihrer Ankunft fand Corinna vor der Thür einen Mönch, der sie um die Erlaubniß bat, ihr Haus segnen zu dürfen, um es vor Ansteckung zu bewahren. Corinna gestattete es gern, und der Priester ging, Weihwasser sprengend und lateinische Gebete murmelnd, durch alle Zimmer. Lord Nelvil lächelte ein wenig über diese Ceremonie; Corinna war davon gerührt. »Für mich«, sagte sie, »liegt ein unbeschreiblicher Reiz in allen diesen religiösen, ich möchte fast sagen abergläubischen Gebräuchen, vorausgesetzt, solch ein Aberglaube enthalte nichts Feindliches, Unduldsames; der göttliche Beistand ist ja so nothwendig, wenn Gedanken und Empfindungen aus dem alltäglichen Kreislauf des Lebens heraustreten! Grade bei hervorragenden Geistern verstehe ich das Bedürfniß nach übernatürlichem Schutz.« – »Solch Bedürfniß ist ohne Zweifel vorhanden«, erwiderte Lord Nelvil, »aber kann es auf diese Art befriedigt werden?« – »Ich weise nie ein Gebet zurück, das sich mit dem meinigen vereinigen will, es komme mir, woher es wolle«, antwortete Corinna. »Sie haben Recht«, sagte Lord Nelvil, und der Armen und Kranken gedenkend, reichte er dem schüchternen, alten Mönche seine Börse hin; dieser entfernte sich mit Segenswünschen für das zurückbleibende Paar.

Sobald Corinnens Freunde ihre Heimkehr erfuhren, suchten sie sie eilig auf; Niemand wunderte sich, daß sie nicht als Oswalds Gemahlin wiederkam, Niemand wenigstens fragte nach den Hindernissen, welche dieser Verbindung im Wege gestanden hatten. Die Freude, sie wiederzuhaben, war zu groß, um Nebengedanken aufkommen zu lassen. Corinna war bemüht, sich ganz unverändert zu zeigen; doch gelang ihr das nicht, und sie fand ihre Schmerzen in Allem wieder, was sie unternahm. Sie suchte die Antiken- und Gemäldesammlungen, das Grab der Cäcilia Metella, den Garten der Villa Borghese wieder auf, aber der Aufenthalt an diesen sonst so geliebten Orten that ihr nur weh. Sie verstand das süße Genießen nicht mehr, das uns zwar über die Flüchtigkeit aller Lebensfreuden nicht täuschen kann, das uns aber lehrt, sie desto dankbarer aufzunehmen. Ein einziger, schwerer Gedanke lag drückend auf ihrem bangen Herzen, und die Natur, die nur Allgemeines sagt, hat keine Worte für ein übermächtiges, persönliches Leid.

Auch Oswalds und Corinnens gegenseitiger Verkehr litt jetzt unter einem peinlichen Zwang, der indeß noch nicht das ausgesprochene Unglück war; dieses erleichtert mit seinen heftigen Erschütterungen oft die gepreßte Brust und läßt aus dem Gewittersturme einen Blitz hervorleuchten, der Alles aufklären kann. Es war gegenseitige Zurückhaltung, es waren vergebliche Versuche den auf Beiden lastenden Umständen zu entrinnen, was ihnen ein wenig Unzufriedenheit miteinander gab. Kann man denn leiden, ohne anzuklagen, was man liebt? Und genügte es nicht eines Blickes, eines Tones, um Alles vergessen zu machen? Aber dieser Blick, dieser Ton, sie kommen nicht, wenn sie erwartet werden; sie fehlen, wenn sie nöthig sind. Nichts ist begründet in der Liebe; sie ist eine göttliche Macht, die in uns denkt und fühlt, ohne daß wir sie beeinflussen können.

In Rom griff jetzt plötzlich eine seit langer Zeit nicht mehr aufgetretene, ansteckende Krankheit um sich. Eine junge Frau erlag derselben, und Freunde und Familie, die sie nicht hatten verlassen wollen, starben mit ihr; das Nachbarhaus wurde vom gleichen Schicksal betroffen. Unausgesetzt war jene weißgekleidete Brüderschaft Roms in den Straßen zu sehen, welche verschleierten Angesichtes die Gestorbenen in die Kirchen trägt, – Todte, von Schatten getragen. Jene liegen mit unverhüllten Gesichtern auf einer Art von Bahre; nur über die Füße wirft man ihnen einen gelben oder rosenfarbenen Atlas, und oft spielen Kinder mit den erstarrten Händen des Hingeschiedenen. Derartige, zugleich schreckliche und anheimelnde Scenen werden von düstern, einförmig hingemurmelten Psalmen begleitet, denen alle Modulation fehlt, und in welchen nichts mehr von dem Klang einer menschlichen Seele zu finden ist.

Eines Abends, als Corinna mit Lord Nelvil allein war, und er eben sehr von ihrer schmerzlich befangenen Haltung litt, erhoben sich unter den Fenstern die ernsten, gedehnten Trauerklänge eines Leichenbegängnisses; sie hörten einige Zeitlang schweigend zu. »Vielleicht«, sagte Oswald zu Corinna, »vielleicht erfaßt auch mich morgen diese unerbittliche Krankheit, und Sie würden es dann bereuen, Ihrem Freund am letzten Tage seines Lebens nicht ein paar herzliche Worte gesagt zu haben. Corinna, uns Beide kann der Tod treffen; ist's denn nicht an dem Unvermeidlichen genug, müssen wir uns noch gegenseitig das Herz zerreißen?« Corinna, nun plötzlich von dem Gedanken an die Gefahr erschreckt, welcher Oswald inmitten dieser Seuche ausgesetzt sei, flehte ihn an, Rom zu verlassen. Er weigerte es auf das Bestimmteste. Darauf schlug sie eine gemeinsame Reise vor, und in diese willigte er offenbar sehr gern; denn er zitterte während dieser Epidemie schon längst für Corinnens Leben.

Ihre Abreise wurde auf den übermorgenden Tag festgesetzt; in der Frühe dieses Tages aber erhielt Lord Nelvil, der durch einen befreundeten Engländer, welcher Rom eben verließ, abgehalten worden war, Corinna seit dem vorgestrigen Abend zu sprechen, einen Brief von dieser, in welchem sie ihm schrieb, daß eine ebenso dringende als unerwartete Angelegenheit sie nöthige, nach Florenz zu reisen, und daß sie ihm also erst in vierzehn Tagen nach Venedig folgen könne; sie bat ihn, über Ancona zu gehen, und gab ihm dorthin einen scheinbar recht wichtigen Auftrag. Der Brief war liebevoll und ruhig abgefaßt, und seit Neapel hatte Oswald Corinnens Rede nicht so zärtlich und so heiter gefunden. Er glaubte deshalb an den Inhalt ihrer Zeilen und schickte sich bereits zur Abreise an, als es ihm einfiel, Corinnens Haus, ehe er Rom verlasse, noch einmal sehen zu wollen. Er geht hin und findet die Thür verschlossen; erst nach längerem Klopfen öffnet ihm die alte Hüterin des Hauses, berichtet, daß die Herrin mit ihrer ganzen Dienerschaft verreist sei, und steht allen weiteren Fragen Oswalds nicht Rede. Er begiebt sich zum Fürsten Castel-Forte, der ihm nichts von Corinna sagen kann, und auf das Aeußerste über eine Abreise verwundert ist, von welcher er nichts erfahren. Nun bemächtigt sich Oswalds die größeste Unruhe, und er beschließt, den in Tivoli wohnenden Haushofmeister Corinnens, der doch irgend welche Befehle erhalten haben mußte, aufzusuchen. Mit einer Schnelligkeit, die nur der Ausdruck seiner innern Aufregung war, erreicht er die Villa; alle Thüren stehen offen, und ohne Jemand anzutreffen, dringt er bis zu Corinnens Zimmer vor; hier findet er sie, im Halbdunkel auf ihrem Bette liegend, und nur Theresina an ihrer Seite. Er stößt einen Schrei aus, der Corinna zum Bewußtsein bringt, und als sie ihn nun gewahrt, richtet sie sich mit abwehrender Bewegung auf. »Kommen Sie mir nicht nahe«, ruft sie, »ich verbiete es Ihnen; ich sterbe, wenn Sie mich anrühren.« – Oswald war entsetzt, völlig verwirrt; schien es doch, als beschuldige die Geliebte ihn irgend eines Verbrechens, als hasse, als verachte sie ihn. An ihrem Bette niederknieend, richtete er so verzweifelnde, so unklare Fragen an sie, daß Corinna plötzlich auf den Gedanken kam, seinen Irrthum zu benützen: wie einem strafbaren Verräther gebot sie ihm, sich auf immer von ihr zu entfernen.

Bestürzt, beleidigt, wollte er hinaus. »Ach, Mylord, Sie werden doch meine arme Herrin nicht verlassen?« rief jetzt Theresina. »Sie hat all ihre Leute fortgeschickt, und selbst meine Pflege wollte sie zurückweisen, denn sie hat die ansteckende Krankheit.« – Jetzt verstand Oswald Corinnens edle, selbstverläugnende List, und mit einem Entzücken, mit einer Rührung, wie er sie nie empfunden, sank er an das Herz der Geliebten. Umsonst stieß diese ihn zurück, umsonst schalt sie entrüstet auf Theresina, die von Oswald gebieterisch hinausgeschickt wurde. Er schloß Corinna in seine Arme, bedeckte sie mit Thränen und Küssen. »Jetzt«, rief er, »jetzt stirbst Du nicht ohne mich! und wenn das unselige Gift in Deinen Adern fließt, dann, Dank dem Himmel, dann habe ich es wenigstens an Deiner Brust mit eingeathmet.« – »Grausamer! Geliebter! zu welcher Qual verurtheilst Du mich! O mein Gott! weil er ohne mich nicht leben will, wirst du nicht dulden, daß er sterbe.« Nach diesen Worten hatten Corinnens Kräfte sie auch schon wieder verlassen. Acht Tage lang schwebte sie in höchster Gefahr, und in all ihren Fantasien gedachte sie immer nur seiner. »Man soll Oswald von mir entfernen. Er darf mich nicht berühren! Man muß ihm verbergen, wo ich bin.« Als sie wieder bei Sinnen war, galt ihr erstes Wort dem Geliebten. »Oswald; Du bist da!« sagte sie, »im Tode, wie im Leben, werden wir also vereinigt sein.« – Und als sie ihn so blaß sah, gerieth sie in die tödtlichste Angst, und flehte um seinetwillen die Aufmerksamkeit der Aerzte an, die ihr den seltenen Beweis von Freundschaft gegeben hatten, sie nicht zu verlassen.

Oswald hielt unaufhörlich ihre glühenden Hände in den seinen; er leerte den Becher, den sie zur Hälfte ausgetrunken, er suchte mit solcher Begier die Gefahr der Freundin zu theilen, daß diese selbst darauf verzichtete seine leidenschaftliche Hingebung zu bekämpfen, und ihren Kopf auf seinen Arm lehnend ihn gewähren ließ. Kann denn die Zusammengehörigkeit zweier Menschen, welche sich genug lieben, um einzusehen, daß sie das Leben ohne einander nicht ertragen würden, kann sie nicht so weit gehen, um sie dem Tode, wie allem Andern gemeinsam entgegen zu führen?[1] Glücklicherweise blieb Oswald von der Ansteckung verschont, und Corinna genas. Aber ein anderes Uebel war tiefer, denn je, in ihr Herz gedrungen: die von dem Freunde ihr bewiesene Großmuth und Liebe verdoppelten, wenn es noch möglich war, ihre Leidenschaft für ihn.


[1] Anmerkung der Autorin: Man hatte zu Bologna um zwei Uhr Nachmittags eine Sonnenfinsterniß angekündigt; das Volk versammelte sich auf dem Marktplatz, um sie zu sehen, und als sie zu erscheinen zögerte, wurde es ungeduldig und rief ungestüm, wie nach einem Schauspieler, der auf sich warten läßt; endlich wurde sie sichtbar, und da ein nebliges Wetter es zu keinem rechten Effekte kommen ließ, und das Schauspiel also die Erwartung der Leute nicht befriedigte, fingen sie an zu lärmen und zu pfeifen.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12