Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.

Zweites Kapitel

Bei ihrer Ankunft im Gasthofe fanden sie den Fürsten Castel-Forte, ihrer wartend. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, sie seien mit einander vermählt, und obgleich diese Nachricht dem Fürsten großen Schmerz verursachte, war er doch gekommen, um sich von der Wahrheit derselben zu überzeugen, und selbst jetzt noch, da sie für immer einem Andern gehörte, sich einen Platz neben ihr zu sichern. Mit großem Kummer bemerkte er Corinnens Schwermuth und äußerste Niedergeschlagenheit; er wagte indeß nicht sie zu fragen, da sie jeder Erwähnung dieses Gegenstandes auszuweichen schien. Es giebt einen Seelenzustand, in welchem man vor jeder Aussprache zurückscheut; ein Wort, das man sagt, oder hört, würde genügen, in unsern eigenen Augen die Täuschung zu zerreißen, die uns das Dasein noch erträglich macht. Und die Täuschung in leidenschaftlichen Gefühlen, welcher Art sie auch seien, hat das Eigenthümliche, daß man sich selber schont, wie man einen Freund schonen würde, den man durch eine Aufklärung zu betrüben fürchtet, und daß man, ohne es zu wissen, den eigenen Schmerz unter den Schutz des eigenen Mitleids stellt.

Am folgenden Tage suchte Corinna heiter und theilnehmend zu erscheinen; sie war ein sehr natürliches Weib, und wollte durchaus nicht mit ihrem Schmerze Effekt machen; auch glaubte sie, das beste Mittel, um Oswald festzuhalten, sei, sich so liebenswürdig zu zeigen, wie sonst. Sie fing also mit Lebhaftigkeit über einen interessanten Gegenstand zu sprechen an; plötzlich aber kam eine Art Abwesenheit über sie, und ihre Blicke irrten ziellos umher. Sie, die sonst die Leichtigkeit der Rede im allerhöchsten Grade besaß, zögerte in der Wahl der Worte, und bediente sich zuweilen eines Ausdrucks, der zu dem, was sie sagen wollte, nicht in geringster Beziehung stand. Sie lachte dann über sich selbst, und während des Lachens füllten ihre Augen sich mit Thränen. Oswald war in Verzweiflung über dies durch ihn verursachte Elend; er wollte allein mit ihr reden, aber sie mied sorgfältig jede Gelegenheit dazu.

»Was wollen Sie von mir wissen?« fragte sie ihn eines Tages, als er dringend um eine Unterredung bat. »Es ist schade um mich – was weiter? Ich empfand einigen Stolz auf meine Talente, liebte den Erfolg, den Ruhm; und die Huldigungen selbst alltäglicher Menschen waren mein Ehrgeiz. Jetzt frage ich nach nichts, und nicht das Glück hat mich von diesen eitlen Freuden abgewendet, sondern die tiefste Entmuthigung. Sie klage ich nicht an, es ist meine Schuld; vielleicht kann ich's überwinden. Es ereignen sich ja so viele Dinge in dem Innersten unserer Seele, die wir weder vorhersehen, noch lenken können! Und ich sehe es ja, Oswald, und erkenne es an: Sie leiden mit mir. Auch ich habe Mitleid mit Ihnen, und dies Gefühl ziemt ja wohl uns Beiden. Ach! es kann sich auf Alles, was athmet, erstrecken, ohne dabei viele Fehlgriffe zu begehen.«

Oswald war damals nicht weniger niedergeschlagen, als Corinna; er liebte sie sehr, doch hatte ihn ihre Geschichte in seiner Weise zu denken und zu fühlen verletzt. Er glaubte, sein Vater habe Alles vorhergesehen, Alles vorher erwogen, und fürchtete, die väterliche Mahnung zu mißachten, wenn er Corinna zur Gattin wähle. Indeß konnte er ihr auch nicht entsagen, und so sah er sich in die Schwankungen zurückgetrieben, denen er durch die Kenntniß ihrer Lebensverhältnisse zu entgehen gehofft hatte. Sie ihrerseits hatte das Band der Ehe mit Oswald nicht so sehr ersehnt, und wenn sie die Gewißheit gehabt hätte, er werde sie nie verlassen, würde sie nichts Weiteres für sich gewollt haben. Ihn aber kannte sie genug, um zu wissen, daß er kein anderes Glück, als das im häuslichen Leben begründete gelten lasse, und wenn er das Verlangen, sich mit ihr zu vermählen, aufgeben könne, so vermöge er es, weil er sie nicht mehr liebe. Oswalds Abreise nach England war ihr das Todeszeichen; sie wußte, wie vielen Einfluß die Sitten und Meinungen seiner Heimat auf ihn hatten; mit seinem Plan, an ihrer Seite in Italien zu leben, täuschte er sich selbst; klar sah sie voraus, daß, wenn er sich erst wieder im Vaterlande aufgehalten, der Gedanke, es zum zweiten Male zu verlassen, ihm entsetzlich sein werde. Ihre ganze Macht, das fühlte sie, lag in ihrem Zauber, und was ist solche Macht in der Abwesenheit? Was vermögen hohe, poetische Erinnerungen, wenn man von allen Seiten durch die Wirklichkeit, durch die Gewalt einer Gesellschaftsordnung umringt ist, die um so unerbittlicher zwingt, als sie sich auf edle und reine Principien gründet!

Corinna, durch diese Ueberlegungen gefoltert, hätte gern ihr Gefühl für Lord Nelvil einigermaßen verbergen mögen. Sie suchte mit dem Fürsten über Literatur und Kunst und Alles, was sie sonst interessirt hatte, zu reden; wenn aber Oswald ins Zimmer trat mit seiner stolzen Haltung, mit dem schwermüthigen Blick auf sie, der zu sprechen schien »Warum willst Du Dich von mir los machen?« dann war ihr Vorhaben vereitelt. Hundertmal wollte sie ihm sagen, daß seine Unentschlossenheit sie beleidige, daß sie entschieden sei, sich von ihm zu trennen; wenn sie dann indeß wieder sah, wie er unter der Last seines Schmerzes, gleich einem gebeugten Manne, den Kopf in die Hand stützte, wie er oft mit Anstrengung athmete, wie er am Meeresstrand träumte, oder bei schöner Musik den Blick zum Himmel wendete, – wenn sie diese stummen, für ihr Verständniß so wundersam beredten Weisen sah, dann hatte sie alle Kraft verloren. Der Ton, der Gesichtsausdruck, eine gewisse Anmuth der Bewegung – sie alle offenbaren der Liebe die verborgensten Innerlichkeiten unserer Seele; und es ist wohl gewiß, daß ein scheinbar so kalter Charakter, wie der Lord Nelvils, nur von der Frau, die ihn liebte, ergründet werden konnte. Die Gleichgültigkeit kann nichts errathen, und beurtheilt nur das, was offen daliegt. In schweigender Beklemmung beschloß Corinna sogar, zu verfahren wie früher, als sie zu lieben glaubte; sie rief ihren scharfen Beobachtungsgeist zu Hülfe, der die geringsten Schwächen gewandt entdeckte, und versuchte es ihrer Einbildungskraft abzunöthigen, daß sie ihr Oswald in weniger hinreißender Gestalt zeige; aber sie fand nichts an ihm, das nicht edel, rührend und einfach gewesen wäre; und wie soll man es denn auch anfangen, sich den Zauber eines durchaus klaren Charakters, eines vollkommen natürlichen Geistes zu entstellen? Nur wo es Affektation entdeckt, kann das Herz so jäh und plötzlich erwachen – das Herz, das nun erstaunt ist, hier geliebt zu haben.

Außerdem bestand zwischen Oswald und Corinna eine wunderbare, allmächtige Sympathie. Sie hatten nicht die gleiche Geschmacksrichtung, ihre Meinungen stimmten selten überein, und dennoch lebte und webte es auf dem Grunde ihrer Seele in geheinmißvoller Verwandtschaft, schöpfte dort das Lebensgefühl aus gleicher Quelle, gab es dort allerlei verborgene Aehnlichkeit, die eine und dieselbe Natur vermuthen ließ, wie sehr auch ihre äußerlichen Eigenschaften eine sehr von einander abweichende Gestalt angenommen hatten. Und indem also Corinna den Geliebten von Neuem beobachtete, ihn im Einzelnen beurtheilte, mit aller Kraft gegen den empfangenen Eindruck ankämpfte, hatte sie – das sah sie mit Schrecken – sich nur von der Unabänderlichkeit ihrer Liebe für ihn überzeugt.

Sie schlug dem Fürsten Castel-Forte eine gemeinschaftliche Rückkehr nach Rom vor, und Lord Nelvil fühlte, daß sie auf diese Weise das Alleinsein mit ihm vermeiden wolle; dies betrübte ihn zwar, doch widersetzte er sich dem nicht; er wußte nicht mehr, ob das, was er für Corinna zu thun vermochte, zu ihrem Glücke ausreichend sein würde, und dieser Zweifel machte ihn zurückhaltend. Corinna ihrerseits hätte gewünscht, daß er sich gegen die Reisegesellschaft des Fürsten gesträubt hätte, doch sagte sie es nicht. Ihr Verhältniß zu einander war nicht mehr einfach, wie sonst; zwar gab es noch keine Verstellung zwischen ihnen, aber schon machte Corinna einen Vorschlag, den sie von Oswald verweigert sehen wollte; und so drängte sich allmählig etwas Unklares in eine Liebe, die ihnen seit sechs Monaten ein wolkenloses Glück gegeben hatte.

Als sie Capua und Gaeta wieder berührten, dieselben Orte, die so kurze Zeit vorher Corinnens Seligkeit gesehen, stiegen bittre Betrachtungen in ihr auf, und diese schöne, zu Glück und Lebensgenuß aufrufende Natur vermehrte jetzt nur ihre Trauer. Wenn dieser Himmel nicht Vergessenheit zu gewähren vermag, dann wahrlich erhöht sein lachender Anblick, durch den Gegensatz, nur das innere Leid. Bei köstlicher Abendkühle kamen sie nach Terracina; dasselbe Meer brach seine Wogen an denselben Felsen. Nach dem Abendessen verschwand Corinna; da sie lange nicht wiederkam, ging Oswald beunruhigt, hinaus und sein Herz führte ihn an die Stelle, wo sie auf der Hinreise geweilt hatten. Er fand Corinna neben dem Felsen knieend, auf dem sie damals gesessen, und als er jetzt zum Mond aufblickte, sah er ihn mit einer Wolke bedeckt, genau so, wie es vor zwei Monaten um dieselbe Stunde gewesen war. Corinna erhob sich, und deutete nach der Wolke. »Hatte ich nicht Recht, an jene Weissagung zu glauben?« sagte sie, »und ist es nicht wahr, daß es ein Mitgefühl im Himmel giebt? Er hat mir die Zukunft vorhergesagt, und heute, sehen Sie, heute trauert er um mich. Vergessen Sie nicht Acht zu geben, Oswald, ob nicht die gleiche Wolke über den Mond hinwegzieht, wenn ich sterbe.« – »Corinna! Corinna! habe ich den tödtlichen Schmerz um Sie verdient, habe ich ihn verdient? Noch mehr solcher Worte, und ich sinke zusammen. Was ist denn mein Verbrechen? Durch Ihre Denkungsart sind Sie eine von der öffentlichen Meinung unabhängige Frau. Sie leben in einem Lande, wo diese Meinung niemals strenge ist, und wäre sie es, so würde Ihr Geist sie zu verachten wissen. Ich will, was auch geschehe, mein Leben mit Ihnen zubringen; ich will es; woher also dieser Schmerz? Wenn ich Ihr Gatte nicht werden kann, ohne ein Andenken zu beleidigen, das mit gleicher Gewalt, wie Sie es thun, meine Seele beherrscht, würden Sie mich dann nicht genug lieben, um in meiner Zärtlichkeit, in meiner nie ermüdenden Ergebenheit noch Glück zu finden?« – »Oswald«, erwiderte Corinna, »wenn ich glauben könnte, daß wir uns nie verlassen, hätte ich nichts mehr zu wünschen, aber........« – »Haben Sie nicht den Ring, das heilige Pfand?« – »Sie werden ihn zurückerhalten.« – »Nein, niemals!« rief er. »Ach, Sie werden ihn wiedererhalten, sobald Sie es wünschen; und wenn Sie aufhören mich zu lieben«, fuhr sie fort, »wird dieser Ring es mich wissen lassen. Sagt denn nicht ein alter Glaube, der Diamant sei treuer als der Mensch und sein Feuer erlösche, wenn der, welcher ihn gab, uns verrieth?« »Corinna!« rief Oswald, »Sie können von Untreue und Verrath sprechen? Ihr Geist umdunkelt sich, Sie kennen mich nicht mehr.« – »Verzeihung, Oswald, Verzeihung!« rief Corinna, »aber ein Herz in großer Leidenschaft ist mit wunderbarem Instinkt begabt, und seine Schmerzen werden zu Orakeln! Was bedeutet denn dies wehevolle Herzklopfen, das meine Brust durchbebt? O, mein Freund, wenn es mir nur den Tod verhieße, fürchtete ich's nicht!«

Nach diesen Worten entfernte sich Corinna sehr schnell, denn sie wollte keine längere Unterredung mit Oswald; sie gefiel sich durchaus nicht im Schmerz und vermied wo möglich die traurigen Eindrücke, aber sie kamen nur um so heftiger wieder, wenn sie sie zurückgedrängt hatte. Am folgenden Tage, als sie durch die pontinischen Sümpfe fuhren, hütete Oswald Corinna mit noch wärmerer Sorgfalt, als das erste Mal. Sie nahm es mit sanfter Dankbarkeit hin, aber aus ihrem Blicke sprach: »Warum willst Du mich nicht sterben lassen?«

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12