Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Eilfstes Buch: Neapel und die Einsiedelei von St. Salvador.

Drittes Kapitel

Es lag damals in dem Hafen von Neapel ein englisches Kriegsschiff, auf welchem der sonntägliche Gottesdienst regelmäßig abgehalten wurde. Der Kapitän des Schiffes ersuchte Lord Nelvil, dieser Feier am morgenden Tage doch beizuwohnen. Oswald nahm die Einladung an, ohne sogleich zu überlegen, ob Corinna ihn begleiten, und in welcher Eigenschaft er sie seinen Landsleuten vorstellen werde. Dies beunruhigte ihn die ganze Nacht hindurch. Als er am folgenden Morgen mit Corinna am Hafen auf und nieder ging, und er eben im Begriffe war, ihr von dem Besuch des Schiffes abzurathen, sahen sie eine englische, mit zehn Matrosen bemannte Schaluppe herbeirudern; die Leute waren weiß gekleidet, und trugen an ihren schwarzen Sammetmützen den Leoparden in Silber gestickt. Ihr Führer, ein junger Officier, stieg ans Land, und Corinna als Lady Nelvil begrüßend, lud er sie ein, in seiner Barke Platz zu nehmen, damit er sie und Lord Nelvil dem Schiffe zuführen könne. Es verwirrte Corinna, sich Lady Nelvil nennen zu hören; sie erröthete und schlug die Augen nieder. Oswald schien einen Augenblick zu schwanken; dann plötzlich ihre Hand ergreifend, sagte er auf englisch: »Kommen Sie, Liebe!« – Und sie folgte ihm.

Das Geräusch der Wogen, das Schweigen der Matrosen, die, in bewundernswürdiger Disciplin, ohne unnütze Bewegung oder überflüssige Worte, die Barke schnell über das Meer gleiten ließen, forderten zum Träumen auf; Corinna hätte über das Geschehene auch keine Frage an Lord Nelvil wagen dürfen. Sie suchte seinen Plan zu errathen, und, was in solchem Fall meist das Wahrscheinlichste ist: daß er gar keinen haben möge, und sich eben nur einem neuen Zufall überlasse, das fiel ihr gar nicht ein. Einen Augenblick glaubte sie, er führe sie zu diesem Gottesdienst, um dort den kirchlichen Segen über ihren Bund sprechen zu lassen, und dieser Gedanke verursachte ihr eben jetzt mehr Schrecken, als Freude. Es war ihr, als verlasse sie Italien, als kehre sie nach England zurück, wo sie so viel gelitten hatte. Sie gedachte der Herbigkeit der englischen Sitten und Gewohnheiten, und die Liebe selbst schien nicht völlig über ihre peinlichen Erinnerungen siegen zu können. Wie unbegreiflich sollten ihr einst unter andern Verhältnissen diese vorübergehenden Gedanken erscheinen; wie gänzlich sollte sie sie einst verläugnen!

Man bestieg das Schiff, dessen Inneres mit der ausgesuchtesten Sauberkeit gehalten war. Die Stimme des Kapitäns, die in weithinschallenden, von augenblicklichem Gehorsam gefolgten Wiederholungen sich vernehmen ließ, gab allem hier Gesetze. Subordination, Ernst, Regelmäßigkeit, Schweigen, wie sie sich auf diesem Schiff als das Bild einer freien und strengen bürgerlichen Ordnung darboten, bildeten den lebhaftesten Gegensatz zu dem pulsirenden, leidenschaftlichen, lärmenden Neapel. Oswald war mit Corinna und dem Eindruck, welchen sie empfing, beschäftigt; zuweilen auch zog das Vergnügen, sich in der Heimat zu finden, seine Gedanken von ihr ab; denn wirklich sind die Schiffe und das Meer die zweite Heimat eines Engländers. Oswald ging mit den am Bord befindlichen Landsleuten auf und nieder, um Neues aus dem Vaterlande zu erfahren, um von dessen innerem Treiben, dessen Politik zu reden, während Corinna neben den englischen Frauen saß, die aus Neapel zu dem Gottesdienst herbeigekommen waren. Sie waren von ihren schönen Kindern umgeben, die aber, so schüchtern wie ihre Mütter, nicht ein Wort vor der Fremden zu äußern wagten. Dieser Zwang, dieses Schweigen machten Corinna ganz traurig; sie richtete den Blick auf das leuchtende Neapel, auf seine blühenden Ufer, sein heißes Leben, und seufzte! Zum Glück für sie bemerkte Oswald dies nicht; im Gegentheil: mit frohem Behagen sah er sie in der Mitte der englischen Damen, die schwarzen Wimpern gesenkt, wie Jene ihre blonden senkten, und sich in Allem den Formen der Anderen anschmiegend. Vergeblich wird ein Engländer für einige Zeit von fremden Sitten angezogen; sein Herz wendet sich immer wieder zu den ersten Lebenseindrücken zurück.

Um die Predigt zu hören, begab man sich nach dem Zwischendeck, und Corinna sah bald ein, daß ihre Vermuthung unbegründet gewesen, daß Lord Nelvil nicht den feierlichen Vorsatz hege, sich hier auf immer mit ihr zu verbinden. Nun warf sie sich vor, dies gefürchtet zu haben, und das Bewußtsein von der Peinlichkeit ihrer Lage erwachte mit großer Lebhaftigkeit; denn sämmtliche Anwesende hielten sie zweifellos für Lord Nelvils Gemahlin, und es hatte ihr aller Muth gefehlt, ein Wort zu sagen, welches diese Annahme bestätigt oder widerlegt hätte. Auch Oswald schien davon zu leiden. Allein unter tausend vortrefflichen Eigenschaften lag nun einmal viel Schwachheit und Unentschlossenheit in seinem Charakter. Diese Fehler sind dem, welchem sie eigen, unbekannt, und sie nehmen nach seinem Willen in jedem anderen Verhältnisse andere Gestalt an: bald als Klugheit, bald als Rücksicht und Zartgefühl, suchen sie jeden festen Entschluß hinauszuschieben, und verlängern damit einen unklaren Zustand; und selten nur bemerkt der Scharfsichtige, daß es ein und derselbe Charakter ist, welcher auf diese Weise allen Lebenslagen dieselben Schwierigkeiten unterlegt.

Corinna empfing indeß, trotz ihrer trüben Gedanken, einen tiefen Eindruck von der Feierlichkeit, welcher sie beiwohnte. Weniges spricht auch so zum Herzen, als ein auf dem Schiffe abgehaltener Gottesdienst; und die edle Einfachheit des reformirten Cultus macht ihn dafür besonders geeignet. Ein junger Geistlicher redete in sanftmahnendem Ton; bei all seiner Jugend lag Reinheit und Strenge in diesem Angesicht. Solche Strenge giebt die Idee der Kraft, wie sie einer Religion wohl ansteht, welche mitten unter den Gefahren des Krieges gepredigt wird. Von Zeit zu Zeit spricht der englische Prediger Gebete, deren letzte Worte die ganze Versammlung wiederholt. Bei den Worten: » Lord have mercy upon us«: Herr, habe Erbarmen mit uns«, knieten Matrosen und Officiere nieder, und zeigten jene edle Vereinigung der Demuth vor Gott und der Kühnheit gegen Welt und Menschen, welche die Andacht des Helden stets so erschütternd macht. Während diese Tapferen also zu dem Herrn der Heerschaaren beteten, schimmerte durch die Stückpforten das Meer und seine nun beruhigten Wogen schienen zu flüstern: »Euer Flehen ist erhört.« – Der Kaplan schloß die Feier durch das, von den englischen Seeleuten stets festgehaltene Gebet: »Gott beschütze unsere segensreiche Konstitution und erhalte uns das häusliche Glück am heimischen Heerde!« Welch ein Reichthum liegt in diesen einfachen Worten! – Die zum Seedienst erforderlichen Vorstudien und stets fortzusetzenden Exercitien, sowie das streng enthaltsame Leben auf dem Schiffe machen aus diesem eine Art von militärischem Kloster, das in den Wellen vereinsamt liegt, und dessen ernste Einförmigkeit nur durch Tod und Gefahren unterbrochen wird. Oft haben die Matrosen, trotz ihrer rauhen Gewohnheiten, eine sehr sanfte Form sich auszudrücken; sie zeigen meist viel Rücksicht für Frauen und Kinder, wenn sie deren an Bord haben. Von diesem Zartgefühl wird man um so inniger gerührt, als man weiß, mit welcher Kaltblütigkeit sie sich den furchtbarsten Gefahren aussetzen; Gefahren, inmitten deren die Gegenwart von Menschen schon ohnehin etwas Unnatürliches an sich hat.

Corinna und Lord Nelvil bestiegen die Barke von Neuem, um sich nach der Stadt zurückführen zu lassen, die amphitheatralisch auf das Meer herniederschaut, als wolle sie das große Festspiel der Natur immer unter Augen behalten; und als Corinna nun wieder das Ufer betrat, konnte sie sich eines Gefühls der Freude, fast der Erleichterung, nicht erwehren. Wenn Lord Nelvil dies hätte ahnen können, wäre er, vielleicht mit Recht, tief davon verletzt worden; und dennoch verdiente Corinna keinen Vorwurf dafür: sie liebte ihn leidenschaftlich, nur daß sie die peinlichen Erinnerungen an drückende Verhältnisse, unter denen sie in seiner Heimat gelitten hatte, nicht los werden konnte. Ihre Fantaste war lebhaft, ihre Fähigkeit zu lieben sehr groß; aber das Talent, und besonders das Talent, welches eine Frau besitzt, verursacht eine Neigung zur Langenweile, ein Bedürfniß nach Zerstreuung, das oft von der tiefsten Leidenschaft nicht völlig verdrängt werden kann. Das Bild eines einförmigen Lebens, selbst wenn es im Schooß des Glückes wäre, hat für einen des Wechsels bedürftigen Geist etwas Abschreckendes. Wer wenig Wind zum Segeln hat, hält allein eine dauernde, seichte Uferfahrt aus; die reiche Einbildungskraft will und muß ins Weite schweifen, wenn auch das Gefühl treu im Herzen zurückbleibt; so wenigstens ist es, bis das Unglück all diese Bestrebungen auslöscht, und nur ein einziger Gedanke auf dem Menschenherzen lastet, nur ein Schmerz es beherrscht und vernichtet!

Oswald glaubte Corinnens träumerische Nachdenklichkeit allein auf die Verwirrung schieben zu müssen, mit welcher sie sich als Lady Nelvil hatte bezeichnen hören; und neben dem Vorwurf, sie diesem ausgesetzt zu haben, fürchtete er nun noch, daß sie ihn auch des Leichtsinns zeihen möge. So erbot er sich denn, um nur endlich die gewünschte Erklärung herbeizuführen, ihr zuerst sein eigenes Leben erzählen zu wollen. »Wenn ich zu reden anfange«, sagte er, »wird Ihr Vertrauen dem meinen folgen?« – »Ja, ohne Zweifel, es muß endlich geschehn«, erwiderte Corinna zitternd; »da Sie es wollen? An welchem Tag? Zu welcher Stunde? Wenn Sie gesprochen haben – werde ich Alles sagen.« – »In welcher schmerzlichen Aufregung Sie sind!« erwiderte Oswald. »Was soll das bedeuten? Werden Sie nie aufhören, Ihrem Freunde diese Angst zu zeigen, dieses Mißtrauen in sein Herz zu setzen?« – »Nein, nein, es muß sein«, fuhr Corinna fort; »ich habe Alles niedergeschrieben; morgen, wenn Sie wollen« – »Morgen«, unterbrach sie Lord Nelvil, »morgen wollen wir ja zusammen auf den Vesuv; ich will mit Ihnen dies große Werk der Schöpfung sehen, will von Ihnen lernen, es zu bewundern, und unterwegs werde ich, wenn ich irgend die Kraft dazu habe, Ihnen aus meinem Leben mittheilen. Es ist vielleicht nothwendig, daß mein Vertrauen das Ihre erschließe; ich bin nun entschieden, es zu thun.« – »So geben Sie mir noch Morgen? ich danke Ihnen für den Tag. Ach, wer weiß denn, ob Sie mir derselbe bleiben, wenn ich Ihnen mein Herz geöffnet habe? Wer weiß es denn? und wie sollte ich bei diesem Zweifel nicht zittern?« –

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