Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Eilfstes Buch: Neapel und die Einsiedelei von St. Salvador.
Zweites Kapitel
Sie erreichten Neapel bei Tage, und befanden sich alsogleich inmitten dieser ungeheuren, ebenso regsamen als müßigen Bevölkerung. In der Toledostraße trafen sie die ersten Lazzaroni, entweder auf dem Pflaster lagernd oder in einen Korb zurückgezogen, der ihnen bei Tag und Nacht als Wohnung dient. Diese wilde Ursprünglichkeit, im Gemisch mit der Civilisation, hat etwas sehr Eigenthümliches. Es giebt unter diesen Menschen welche, die ihren eigenen Namen nicht wissen. In einer unterirdischen Grotte finden Tausende der Lazzaroni ihr Unterkommen; sie gehen nur Mittags ins Freie, um die Sonne zu sehen, verschlafen den Rest des Tages und lassen ihre Frauen spinnen. Unter Himmelsstrichen, wo es so leicht ist, sich zu kleiden und zu nähren, bedürfte es eines sehr entschiedenen, thatkräftigen Eingreifens von Seiten der Regierung, um die Nation zu tüchtigem Streben anzuspornen. In Neapel kann das Volk seinen Lebensunterhalt so mühelos beschaffen, daß die meist harte Arbeit, mit der es ihn anderswo verdient, überflüssig wird. Faulheit, Unwissenheit und die vulkanische Luft, welche man in diesem Lande athmet, müssen nothwendig die Leidenschaften entfesseln und eine große Zügellosigkeit erzeugen. Dennoch ist dies Volk nicht bösartiger als jedes andere. Es hat viel Einbildungskraft, die leicht eine Grundlage zu uneigennützigem Handeln ist; und mit dieser reichen Fantasie könnte man es zu guten Zielen führen, wenn seine politischen und religiösen Institutionen nur bessere wären.
Man steht auf dem Lande Schaaren von Calabresen, die sich anschicken, zur Feldarbeit hinauszugehen, doch mit einem Violinspieler an der Spitze ihres Zuges, nach dessen Melodien sie, wenn sie des Gehens müde sind, zur Abwechselung auch einmal tanzen können. Alljährlich feiert man in der Nähe Neapels ein Fest zu Ehren der Madonna der Grotte, bei welchem die jungen Mädchen unter dem Klange des Tambourins und der Castagnetten ihren Reigen führen; und es ist nicht selten, daß sie eine Bedingung in den Ehekontrakt aufnehmen lassen, wonach der Gatte sie einer jeden Wiederkehr dieses Festes beiwohnen lassen muß. Man sieht auf der neapolitanischen Bühne einen achtzigjährigen Schauspieler, der seit sechzig Jahren, in der Rolle eines komischen Nationalhelden, des Polichinello, sein Publikum zum Lachen bringt. Kann man sich einen Begriff von der unsterblichen Seele eines Menschen machen, der ein langes Leben mit solchen Zwecken ausfüllte? Das Volk von Neapel versteht unter Glück einzig nur das Vergnügen; aber Vergnügungssucht ist immer noch besser, als trockene Selbstsucht.
Wahr ist's, es liebt das Geld mehr, als irgend ein Volk der Erde. Wenn man Jemand aus der geringen Klasse um den Weg befragt, streckt er, nachdem er stumme Weisung gab, (denn mit dem Wort sind sie fauler, als mit der Geste,) auch gleich die Hand verlangend entgegen. Dennoch ist ihre Geldgier ungeordnet, unberechnet; gleich nachdem sie es erhalten, geben sie es auch wieder aus; ungefähr in einer Weise, wie der Wilde es thäte, wenn er Münzen in die Hände bekäme. Was dieser Nation, im Ganzen genommen, am meisten fehlt, ist das Gefühl der Würde. Es geschehen großmüthige, wohlwollende Handlungen, doch mehr aus Gutherzigkeit, als aus Grundsatz; denn, nach jeder Richtung hin, taugen ihre Theorien gar nichts, und die öffentliche Meinung hat in diesem Lande keine Stimme. Wenn indeß die Einzelnen sich vor dieser sittlichen Unordnung zu bewahren wissen, ist ihre Haltung um so anerkennenswerther, und verdient, mehr als sonst wo, bewundert zu werden, weil nichts, in den äußeren Verhältnissen hier, die Tugend begünstigt; diese kann nur ganz in sich selbst, in tiefster Innerlichkeit, ihren Lohn finden. Die Gesetze wie die Sitten belohnen weder, noch strafen sie. Der Tugendhafte ist um so heroischer, als er darum weder angesehener, noch gesuchter ist.
Bis auf einige ehrenvolle Ausnahmen haben die hohen Stände mit den niederen viel Aehnlichkeit. Kaum daß in jenen ein gebildeterer Geist zu finden wäre; sie unterscheiden sich von diesen meist nur in sehr äußerlicher Weise durch bessere Weltformen. Aber unter all dieser Unwissenheit liegt ein Schatz von ursprünglichem Geist, von vielseitigster Begabung, und es ist gar nicht abzusehen, was aus diesen Menschen zu machen wäre, wenn die Regierung für Sittlichkeit und Aufklärung Sorge trüge.
Das neapolitanische Volk ist in mancher Hinsicht völlig unkultivirt; aber es ist nicht gemein, in dem Sinne, wie anderer Pöbel es so häufig ist. Selbst in seiner Rohheit ist noch Fantasie. Es ist, als ob der afrikanische Boden schon seine Einflüsse über das Meer sendete; in dem wilden Klang der Stimmen glaubt man etwas Numidisches zu hören. Welche gebräunten Gesichter! Und dann diese, nur aus einigen Fetzen rothen oder violetten Tuches bestehende Kleidung! Mit denselben Lumpen, die anderswo das Symbol des nacktesten Elends wären, drapiren sich diese Leute höchst malerisch. Es verräth oft eine gewisse Vorliebe für Schmuck und Anordnung, selbst da, wo es ihm an allem Nützlichen und Bequemen mangelt. Die Läden sind gefällig mit Blumen und Früchten geziert; einige derselben haben ein festliches Ansehen, das aber weniger aus großem Ueberfluß, als von einer erfinderischen Fantasie geschaffen wird; man will vor Allem das Auge ergötzen. Die Milde des Klima's gestattet den Handwerkern fast jeden Gewerbes im Freien, vor ihren Häusern, zu arbeiten. Der Schneider macht seine Kleider auf der Straße, der Gastwirth seine Speisen, und natürlich vervielfältigen diese, vor der Thür sich abwickelnden häuslichen Beschäftigungen die Bewegung auf tausendfache Art. Gesang und Tanz und lärmende Spiele begleiten das krause Bild noch obendrein, und es wird schwerlich einen Aufenthalt geben, wo sich der Unterschied zwischen Glück und Zerstreuung schärfer wahrnehmen ließe, als hier. Verläßt man endlich dann das Innere der Stadt, um den Quai zu erreichen, so hat man das Meer und den Vesuv vor sich, und vergessen sind die Menschen und das Menschliche!
Oswald und Corinna trafen während des Ausbruchs des Vesuv in Neapel ein. Bei Tage war nur ein schwarzer Rauch sichtbar, den sie auch für dunkle Wolken hätten halten können; Abends jedoch, als sie auf den Balkon ihrer Wohnung traten, genossen sie eines wundervollen Naturschauspiels. Der Feuerstrom senkt sich zum Meere nieder, und seine Flammenwogen geben, wie die des Wassers, das Bild einer in schneller, reißender Folge sich unaufhörlich wiederholenden Bewegung. Es ist, als ob die Natur, unter der Gestalt der verschiedenen Elemente, doch immer einen einzigen Urgedanken festhielte. Diese Wunder-Erscheinung des Vesuv staunt der Fremde mit Herzklopfen an. Gemeinhin ist man mit den äußeren Gegenständen seiner Umgebung so vertraut, daß man sie kaum noch gewahr wird, und vollends empfängt man von den flachen, nordischen Gegenden wohl selten neue Eindrücke. Hier aber wird das Staunen, welches die Schöpfung uns immer erregen sollte, von dem Anblick dieses ungekannten Wunders neu erweckt. Unser ganzes Wesen wird erschüttert von der Erhabenheit dieser Naturgewalt, und wir ahnen, daß noch viele der größesten Weltgeheimnisse dem Menschen verborgen blieben, und daß eine von ihm unabhängige Macht, deren Gesetze er nicht einzusehen vermag, ihn wechselweise bedroht oder beschützt. Oswald und Corinna beschlossen, den Vesuv zu besteigen; die mögliche Gefahr dieses Unternehmens verlieh demselben, da es gemeinschaftlich ausgeführt werden sollte, nur einen neuen Reiz.