Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Eilfstes Buch: Neapel und die Einsiedelei von St. Salvador.
Viertes Kapitel
Bekanntlich liegen die Ruinen von Pompeji in der Nähe des Vesuv; von diesen aus brachen Oswald und Corinna am nächsten Tage zu ihrem Unternehmen auf. Sie schwiegen Beide, denn die Entscheidung ihres Geschickes nahte heran, und diese ungewisse Hoffnung, deren sie sich so lange erfreut hatten, und welche so gut zu dem italienischen Klima, dem träumerischen Sichgehenlassen stimmte, sollte endlich durch einen fest ausgesprochenen Lebensplan verdrängt werden. Sie nahmen zuerst Pompeji in Augenschein, die eigenthümlichste aller Ruinen des Alterthums. In Rom findet man kaum andere, als die Trümmer öffentlicher Bauwerke, und diese Denkmale reden meist nur von der politischen Geschichte der verflossenen Jahrhunderte. Doch in Pompeji tritt uns das Privatleben der Alten in seiner ganzen Ursprünglichkeit entgegen. Der Vulkan hat, als er die Stadt mit Asche bedeckte, sie damit auch vor den Verheerungen der Zeit geschützt. Niemals hätten sich der Luft ausgesetzte Gebäude so erhalten können, während nun diese verschüttete Vergangenheit ganz unversehrt blieb. Die Malereien und Bronzen sind noch in erster Frische, und alles was zu häuslichem Gebrauche diente, hat sich in fast erschreckender Weise erhalten. Die Amphoren stehen noch da, bereit gesetzt für die Festlichkeit des folgenden Tages; das Mehl, das man eben kneten wollte, ist noch unverdorben; die Ueberreste einer Frau zeigen noch den Schmuck, welchen sie an jenem, von dem Vulkan so schrecklich unterbrochenen Festtage trug; ihre verdorrten Arme füllen die Armbänder von edlen Steinen nicht mehr aus. Nie sah man ein so wunderbares Bild von plötzlich unterbrochenem Leben. Die Furchen der Räder sind auf den Straßen noch sichtlich erkennbar; die steinernen Brunneneinfassungen zeigen noch die Einschnitte der Seile, die auf ihnen hin und her arbeiteten. An den Mauern eines Wachtgebäudes sieht man noch die schlecht geformten Buchstaben, und sonstige grobe Figurenzeichnungen, welche die Söldlinge dort einkratzten, um sich die Zeit zu vertreiben, – eine Zeit, die zu ihrem Verderben heranrückte.
Wenn man in der Mitte eines Platzes steht, wo verschiedene Straßen sich kreuzen, und von wo aus man nach allen Seiten in die fast noch ganz vorhandene Stadt hineinsehen kann, ist es, als müsse man hier Jemand erwarten, als werde ein Gebieter sogleich auftreten. Und eben dieser Schein von Leben, welcher über der Stätte ruht, macht ihr ewiges Stillschweigen noch trauriger. Aus versteinerter Lava sind diese Häuser gebaut, die wieder durch Lavaströme überfluthet wurden. Ruinen also auf Ruinen, Gruft auf Gruft! Diese Weltgeschichte, deren Zeitabschnitte sich von Vernichtung zu Vernichtung weiterzählen, dieses menschliche Dasein, dessen Spuren wir beim Schein desselben Vulkans verfolgen, der es verzehrte, erfüllen die Seele mit tiefer Schwermuth. Wie lange schon ist der Mensch da! Wie lange schon lebt er, leidet er, um endlich doch nur zu Grunde zu gehen! Wo findet man seine Gefühle, seine Gedanken wieder? Ist die Luft, welche man in diesen Trümmern athmet, noch von ihnen erfüllt? oder sind sie zum Himmel emporgestiegen, um dort, wo die Unsterblichkeit wohnt, ewig bewahrt zu werden? Man versucht jetzt zu Portici einige in Herculanum und Pompeji gefundene verbrannte Blätter von Handschriften zu entziffern, die allein uns von den Empfindungen der unglücklichen Opfer Nachricht bringen könnten. Wenn man sich dieser Asche nähert, welche wiederzubeleben die heutige Geschicklichkeit sich bemüht, fürchtet man zu athmen, in der Besorgniß, daß nicht ein Hauch den Staub entführe, dem noch edle Gedanken abzugewinnen sein können.
Die öffentlichen Gebäude Pompeji's sind, wiewohl es nicht zu den größeren Städten Italiens gehörte, immerhin noch sehr schön. Der Luxus der Alten richtete sich fast stets nur auf Gegenstände von allgemeinem Interesse. Ihre Wohnhäuser waren sehr klein, und ohne ausgesuchte Pracht; indessen ein hoher Kunstsinn spricht sich auch in diesen überall aus. Das ganze Innere fast ist mit gefälligen Malereien geschmückt, die Fußböden mit kunstvoll gearbeiteter Mosaik gepflastert. Auf den Schwellen der Thüren findet man häufig das ebenfalls in Mosaik ausgeführte »Salve« (Sei gegrüßt). Dieser Gruß war sicherlich keine bloße Höflichkeit, sondern eine ernst gebotene Gastfreundschaft. Die Zimmer sind auffallend eng, mit wenig Licht, nach der Straße hin stets ohne Fenster und fast alle in einen Säulengang mündend, der einen, innerhalb des Hauses gelegenen, marmorgetäfelten Hof umschließt, in dessen Mitte sich ein einfach geschmückter Wasserbehälter befindet. Eine derartige Wohnungseinrichtung zeigt klar, daß die Alten meist in freier Luft lebten, und so auch ihre Freunde empfingen. Von dieser Lebensweise macht man sich eine holde, überschwängliche Vorstellung; vollends, wenn man das Klima kennt, welches Natur und Menschen hier so innig verbindet. Es ist anzunehmen, daß bei solchen Gewohnheiten der Charakter der Unterhaltung und der Geselligkeit überhaupt sehr verschieden sein muß von dem, wie er sich in Gegenden gestaltet, wo die Kälte die Menschen zwingt, sich in ihre Wohnungen einzusperren. Man versteht Plato's Dialoge besser, wenn man diese Säulenhallen sieht, unter welchen die Alten halbe Tage lang lustwandelten. Ueber ihnen blaute unaufhörlich ein heiterer Himmel, der sie zu klarem Denken anregte, und nach ihrer Auffassung war die gesellschaftliche Ordnung nicht eine trockene Vereinigung von Berechnung und Gewalt, sondern das glückliche Zusammenwirken von Einrichtungen, welche die individuelle Begabung begünstigen, den Geist entwickeln, und dem Menschen die Vervollkommnung seines Selbst und seiner Nächsten als Ziel setzen.
Das Alterthum regt eine unersättliche Wißbegierde an. Den Gelehrten, welche sich damit begnügen, eine Sammlung von Namen anzuhäufen, und dies dann Geschichte nennen, mangelt wohl alle Fantasie. Aber in die Vergangenheit eindringen, den Menschenherzen, die vor Jahrhunderten zu schlagen aufgehört, ihre geheimen Wünsche und Gedanken nachfühlen, eine Thatsache aus einem Wort erklären, durch solche Thatsache Charakter und Sitten eines ganzen Volks begreifen; bis zur grauesten Vorzeit hinaufsteigen, um vielleicht eine Vorstellung zu erlangen, wie den damaligen Menschen die jugendliche Erde erschien, und wie sie das Leben ertrugen, das durch die mannigfaltigen Verzerrungen unserer gegenwärtigen Civilisation ein so zweifelhaftes Gut geworden ist, – das Alles erfordert eine fortgesetzte Anstrengung unseres Denkvermögens, die uns dann aber auch mit reichen Einsichten, mit schöner Erkenntniß lohnt. Diese Art von geistiger Beschäftigung war Oswald sehr anziehend, und er wiederholte es oft gegen Corinna, daß, wenn er in seinem Vaterlande nicht edlen Zwecken zu dienen hätte, er das Leben nur in solchen Gegenden erträglich gefunden haben würde, wo die Denkmale der Geschichte die Nüchternheit eines von der Gegenwart nicht erfüllten Lebens allenfalls zu ersetzen vermöchten. Man muß dem Ruhme wenigstens nachtrauern, wenn ihn zu erwerben uns versagt ist. Nur das Vergessen der Ideale erniedrigt die Seele, sie kann in der großen Vergangenheit irgendwo ein Asyl finden, wenn grausame Verhältnisse es nicht gestatten, daß die Blüthen unserer, vielleicht edlen Thaten zu lohnenden Früchten heranreifen.
Als sie Pompeji verlassen hatten, und Portici noch einmal berührten, wurden sie von dessen Einwohnern lebhaft aufgefordert, das Besteigen »des Berges« nicht zu unterlassen: so nennen sie kurzweg ihren Vesuv. Und brauchte er denn noch einen anderen Namen? Er ist den Neapolitanern Ruhm und Vaterland, ist das Wunder, das Abzeichen ihrer Heimat. Oswald wünschte, daß Corinna sich bis zu der Einsiedelei von St. Salvador, die auf der Hälfte des Weges liegt, tragen lasse; dort pflegen die Reisenden zu ruhen, ehe sie das Ersteigen des Gipfels unternehmen. Oswald bestieg hier ein Pferd und hielt sich zur Bewachung der Träger stets neben Corinna. Sein Herz war voll, und je höher es schlug unter den Gedanken, welche Natur und Geschichte hier in ihm anregten, je demuthsvoller betete er zu Corinna.
Am Fuße des Vesuv liegt der fruchtbarste und am besten kultivirteste Boden des ganzen Königreichs Neapel; der berühmte Rebstock, dessen Saft lacrima Christi genannt wird, hat hier seine Heimat, und findet sich dicht neben den von Lava verheerten Erdstrichen. Es ist, als mache die Natur hier in der nächsten Nähe des Vulkans noch eine letzte Anstrengung, als schmücke sie sich vor ihrem Untergange mit ihren reichsten Gewändern. Beim Höhersteigen breitet sich vor dem zurückgewendeten Blick Neapel und seine wundervolle Umgebung immer herrlicher aus. Unter den Strahlen der Sonne funkelt das Meer wie kostbares Edelgestein; stufenweise aber erlischt diese leuchtende Pracht der Schöpfung, bis sie endlich in dem aschigen, rauchenden Boden, der den Vulkan zunächst umgiebt, völlig erstirbt. Die eisenhaltigen Laven verflossener Jahre haben breite, schwarze Furchen zurückgelassen, und Alles um sie her ist unfruchtbar. Von einer gewissen Höhe ab fliegen keine Vögel mehr; eine Strecke weiter werden die Pflanzen seltener, später finden auch die Insekten in dieser aufgezehrten Natur nichts mehr, das zu ihrer Ernährung dienen könnte. Endlich verschwindet Alles, was Leben hat, man tritt in das Reich des Todes, und allein die Asche dieser verbrannten Erde bewegt sich noch unter dem unsicheren Tritt des Menschen.
Nè greggi nè armenti
Guida bifolco mai, guida pastore.
»Weder Schafe noch Rinder führte je ein Hirt auf diese Stätte.«
Hier auf der Grenze zwischen Leben und Tod wohnt ein Eremit. Ein Baum steht vor seiner Thür wie ein letztes Lebewohl der Vegetation; und die Reisenden haben die Gewohnheit, im Schatten seines matten Blätterschmucks die Dunkelheit zur Fortsetzung ihrer Pilgerschaft abzuwarten. Denn bei Tage haben die aus dem Vesuv aufsteigenden Flammen nur das Ansehen einer Rauchwolke, und seine Nachts so rothglühenden Lavaströme erscheinen im Sonnenlicht fast schwarz. Diese Metamorphose ist an sich schon ein sehr schöner Anblick; sie erneuert allabendlich das Erstaunen des Beschauers, welches eine ununterbrochene Fortdauer des großartigen Bildes ermüden würde. Die Gegend mit ihrer tiefen Einsamkeit wirkte erschütternd auf Oswalds Gemüth; in dieser Stimmung beschloß er, Corinna aus seiner Vergangenheit zu erzählen, und zugleich hoffte er, damit ihr Vertrauen zu wecken. »Sie wollen auf dem Grunde meiner Seele lesen«, fing er bewegt an, »so sei es denn; ich werde Ihnen Alles gestehen, meine Wunden werden sich öffnen, das fühle ich; aber darf man denn im Angesicht dieser erstarrten Natur die Schmerzen fürchten, welche die Zeit mit sich hinwegnimmt?«