Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Zehntes Buch: Die Charwoche.

Erstes Kapitel

Oswald verbrachte den folgenden Tag in den Gärten einiger Mönchsklöster. Er ging zuerst zu den Karthäusern und hielt sich vor der Klosterpforte einige Zeit mit der Bewunderung zweier egyptischer Löwen auf, die durch einen gewissen, weder dem Thier, noch dem Menschen gehörenden Ausdruck in ihrer Physiognomie es begreiflich machen, wie das Heidenthum auch durch solch ein Sinnbild seine Götter darzustellen liebte.

Das Karthäuserkloster ist auf den Trümmern der Bäder des Diocletian erbaut, und die zu demselben gehörige Kirche ist mit Granitsäulen geschmückt, welche man dort noch aufrecht stehend gefunden hat. Die Mönche des Klosters zeigen sie bereitwillig; nur durch ihr Interesse an diesen Ruinen stehen sie noch mit der Welt in Verbindung. Die Lebensweise der Karthäuser läßt in den Menschen, welche sie zu führen im Stande sind, entweder einen sehr beschränkten Geist, oder die edelste und dauerndste religiöse Erhebung voraussetzen. Diese Folge von öden, ereignißarmen Tagen erinnert an den berühmten Vers:

»Auf den zerstörten Welten schläft regungslos die Zeit.«

Es scheint, als diene hier das Leben nur dazu, den Tod zu betrachten. Ein regsamer Geist wäre bei einer solchen Einförmigkeit des Daseins die grausamste aller Qualen. In der Mitte des Klosterhofes erheben sich vier Cypressen. Der dunkle und schweigsame, vom Winde schwer zu bewegende Baum bringt eben auch keine Abwechselung in diese Zurückgezogenheit. Zwischen den Cypressen liegt ein Brunnen, der sein spärliches Wasser matt und langsam ausströmt; es ist, als ob dieses Stundenglas für eine so geräuschlos dahinschleichende Zeit ganz besonders geeignet wäre. Zuweilen dringt der Mond mit seinem blassen Licht hier hinein, und sein Gehen und Kommen bildet in diesem gleichförmigen Leben ein Ereigniß.

Und auf solche Weise existirende Menschen sind doch dieselben, denen ein Krieg etwa mit seiner ganzen Thätigkeit kaum genügen würde, wenn sie daran gewöhnt wären. Die verschiedenen Fügungen des menschlichen Geschickes auf Erden geben zum Nachdenken unerschöpflichen Stoff. Tausend innere Erlebnisse gehen in der Seele vor, es bilden sich tausend Gewohnheiten, und machen aus jedem Einzelmenschen eine Welt und eine Weltgeschichte. Einen Anderen vollkommen zu erkennen, wäre das Studium eines ganzen Lebens. Was heißt denn Menschenkenntnis? Beherrschen kann man die Menschen, sie verstehen kann nur Gott allein.

Von den Karthäusern begab sich Oswald nach dem, auf den Ruinen von Nero's Palast erbauten Kloster des heiligen Bonaventura; da, wo einst gewissenlos so viele Verbrechen begangen wurden, legen sich jetzt arme, von Gewissensskrupeln geplagte Mönche für leichte Vergehen die grausamsten Strafen auf. »Wir hoffen einzig«, sagte einer von ihnen, »daß im Augenblicke des Todes unsere Sünden nicht unsere Bußübungen übersteigen werden.« – Lord Nelvil stieß bei seinem Eintritt in das Kloster an eine Fallthür, er fragte nach deren Zweck: »Hier werden wir begraben«, sagte einer der Jüngsten unter den Mönchen, der schon von tödtlicher Krankheit ergriffen schien. Da die Bewohner des Südens den Tod sehr fürchten, muß man sich wundern, Einrichtungen zu finden, welche ohne Unterlaß daran erinnern; doch liegt es in der menschlichen Natur, sich gern das am meisten Gefürchtete vorzustellen. Es giebt ein Sichberauschen in Traurigkeit, das der Seele wenigstens die Wohlthat erzeigt, sie ganz auszufüllen.

Der antike Sarkophag eines Kindes dient in diesem Kloster als Brunnen. Die schöne Palme, deren Rom sich rühmt, ist der einzige Baum im Garten dieser Brüderschaft. Sie haben durchaus nicht auf äußere Dinge Acht. Ihre Ordensregeln sind zu streng, um dem Geiste irgend welche Freiheit zu lassen. Ihre Blicke sind niedergeschlagen, ihr Gang ist langsam; sie machen keinen Gebrauch mehr von ihrem Willen, und haben der Herrschaft über ihr Selbst entsagt: »so sehr ermüdet dieses Reich seinen traurigen Besitzer«. – Indessen wirkte dieser Aufenthalt nicht sehr auf Oswald ein; die Fantasie empört sich gegen eine so stark ausgesprochene Absicht, ihr das Gedenken an den Tod unter jeder Gestalt zu erneuern. Wenn solche Mahnung uns unerwartet kommt, wenn die Natur, und nicht der Mensch uns davon spricht, empfangen wir einen viel tieferen Eindruck.

Sanfte und weiche Empfindungen erfüllten Oswalds Seele, als er beim Sonnenuntergang in den Garten San Giovanni e Paolo trat. Die Brüder dieses Ordens sind weniger strengen Regeln unterworfen; ihr Garten beherrscht die ganzen Ruinen des alten Roms. Man sieht von da das Coliseum, das Forum, alle noch aufrecht stehenden Siegesbogen, Obelisken und Säulen. Welch eine schöne Lage für solche abgeschiedene Freistätte! In der Betrachtung dieser von längst Dahingegangenen errichteten Denkmale mögen die Einsiedler hier Trost dafür finden, daß sie eben nichts sind in der Welt. Oswald wandelte lange unter dem in Italien so seltenen Schatten dieses Gartens einher, dessen schöne Bäume dann und wann die Aussicht auf Rom unterbrechen, so daß man immer wieder mit neuem Vergnügen zu ihr zurückkehrt. Es war um die Abendstunde, wenn alle Glocken Roms das Ave Maria läuten:

Squilla de lositano,

Che paja il giorno pianger che si muore.

Dante

... »Und aus der Ferne beweinet Glockenklang des Tages Sterben.« Das Abendgebet dient als Stundenzähler. In Italien heißt es: »Ich werde Sie eine Stunde vor, eine Stunde nach dem Ave Maria besuchen; und so sind des Tages Stunden, wie die der Nacht, damit fromm bezeichnet. Andachtsvoll genoß Oswald das wundervolle Sonnenschauspiel; Abends sinkt die Sonne langsam zwischen den Ruinen unter, und es scheint einen Augenblick, als wolle sie sich, wie Menschenwerk, dem allgemeinen Verfalle unterwerfen. Oswalds grübelnde Gedanken stiegen wieder in ihm auf. Corinna selbst konnte ihn eben jetzt nicht beschäftigen, sie war zu zaubervoll, zu glückverheißend. Unstät suchte sein Blick in dem dunkelnden Gewölk des Himmels nach dem Schatten seines Vaters; er wähnte, es möchte irgend ein reiner, wohlthuender Hauch ihm ein väterliches Segenswort zuflüstern.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12