Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Neuntes Buch: Das Volksfest und die Musik

Drittes Kapitel

Oswald ging folgenden Tages schon frühzeitig zu Corinna, deren Mittheilung von gestern ihn beunruhigte. Ihre Kammerfrau kam ihm entgegen, um ihm ein Billet ihrer Herrin einzuhändigen, welches ihn benachrichtigte, daß sie sich an eben diesem Morgen in ein Kloster zurückgezogen habe und, wie sie das bereits gesagt, ihn erst nach dem Charfreitage wiedersehen werde. Sie gestand, daß sie Abends vorher nicht den Muth gehabt habe, ihm auch noch diese rasche Ausführung ihres Entschlusses mitzutheilen. Oswald war höchst peinlich betroffen. Diese Räume, in denen er Corinna gesehen, und die nun so verödet waren, machten ihm den schmerzlichsten Eindruck. Da war ihre Harfe, hier lagen ihre Bücher, ihre Zeichnungen, Alles, was sie gewöhnlich umgab, und sie nur fehlte. Ein ahnender Schauer durchbebte ihn: er erinnerte sich des verlassenen Zimmers seines Vaters.

»So kann ich einst vielleicht auch ihren Verlust erfahren«, sagte er vor sich hin, als er sich müde auf einen Stuhl sinken ließ; »dieser hohe Geist, dies reiche Herz, diese in Leben und Liebe leuchtende Gestalt kann der Tod erfassen, und das Grab der Jugend wäre dann so stumm, wie das des Alters? O, welche Täuschung ist das Glück! Und weshalb von der unerbittlichen Zeit, die immer über ihrer Beute wacht, sich noch einen schönen Augenblick rauben lassen? Corinna! Corinna! Du hättest mich nicht verlassen sollen! Unter Deinem Zauber vergaß ich alles grübelnde Nachsinnen; alles Andere versank im Glanz Deiner Gegenwart; jetzt, nun ich allein bin, jetzt finde ich mich wieder und meine Wunden brechen auf.« – Und er rief ihren Namen mit einer Art von Verzweiflung, die man nicht ihrer kurzen Abwesenheit beimessen konnte, sondern seiner steten quälenden Herzensangst, welche Corinna allein zu besänftigen im Stande war. Die Kammerfrau kam wieder herein; sie hatte Oswalds Selbstgespräch wohl zum Theil gehört, und davon gerührt sagte sie nun: »Mylord, ich will Ihnen ein Geheimniß meiner Herrin anvertrauen; vielleicht kann ich Sie damit ein wenig trösten. Folgen Sie mir in das Schlafzimmer, Sie werden dort Ihr Portrait sehen.« – »Mein Portrait!« rief Oswald, – »Sie hat es aus dem Gedächtnisse gemalt«, erwiderte Theresina (so hieß Corinnens Kammerfrau); »seit acht Tagen ist sie Morgens schon um fünf Uhr aufgestanden, um damit fertig zu sein, ehe sie ins Kloster ging.«

Oswald besichtigte das sehr ähnliche, mit vieler Sorgfalt angefertigte Portrait, welches Zeugniß gab, wie gegenwärtig er ihren Gedanken war. Seinem Bilde gegenüber hing das sehr schöne einer heiligen Jungfrau, und vor demselben stand Corinnens Betstuhl. Solche wunderliche Mischung von Liebe und Religion findet sich bei den meisten Frauen Italiens, und das oft unter viel ungewöhnlicheren Verhältnissen. Corinna, frei wie sie war, verknüpfte den Gedanken an Oswald nur mit den reinsten Gefühlen und Hoffnungen. Doch das Bild des Geliebten so einem Sinnbilde der Gottheit gegenüberstellen, und sich auf die Zurückgezogenheit eines Klosters durch acht, der Anfertigung dieses Bildes gewidmete Tage vorbereiten, das war immerhin ein Zug, der mehr noch die italienischen Frauen im Allgemeinen, als Corinna im Besonderen charakterisirte. Ihre Art von Frömmigkeit ließ mehr Fantasie und Gefühl, als seelischen Ernst und Strenge der Grundsätze vermuthen, und nichts konnte Oswalds Ansichten über ein richtiges Erfassen der Religion entgegengesetzter sein. Wie aber hätte er Corinna in einem Augenblicke tadeln können, wo er einem so rührenden Beweis ihrer Liebe begegnete?

Seine Blicke schweiften nachdenklich durch dieses zum ersten Mal von ihm betretene Gemach. Zu Häupten von Corinnens Bett sah er das Portrait eines älteren Mannes, dessen Züge jedoch durchaus nicht den Italiener verriethen. Zwei Armbänder waren an diesem Bilde befestigt: das eine aus schwarzen und weißen Haaren, das andere aus Haaren von wunderschönem Blond geflochten; und was Lord Nelvil als ein sonderbarer Zufall erschien: diese letzteren erinnerten ganz an die von Lucile Edgermond, deren seltene Schönheit ihm vor drei Jahren sehr aufgefallen war. Oswald betrachtete diese Armbänder schweigend, denn Theresina über ihre Herrin auszufragen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen; die Kammerfrau jedoch, welche Oswald zu errathen meinte, und seine Eifersucht erregt glaubte, beeilte sich ihm zu sagen, daß Corinna die Armbänder schon seit den eilf Jahren trage, während welcher sie ihr diene, und daß dies die Haare von Corinnens Vater, Mutter und Schwester seien. »Seit eilf Jahren sind Sie bei Corinna?« fragte Lord Nelvil, »so wissen Sie also – –« und dann brach er ab, über die unwillkürliche Frage erröthend, die zu äußern er im Begriffe war, und verließ schnell das Haus, um jeder weiteren Versuchung zu entfliehen.

Im Fortgehen wendete er sich mehrere Mal nach Corinnens Fenstern zurück; doch als auch diese ihm entschwanden, kam neue Trauer, die Trauer der Einsamkeit, über ihn. Er ging Abends in große Gesellschaft und versuchte sich zu zerstreuen, denn um in der Träumerei einen Reiz zu finden, muß man im Glück, wie Unglück, mit sich selbst im Frieden sein.

Die große Welt wurde Lord Nelvil bald ganz unerträglich; nun erst, da er die Leere, die Nüchternheit gewahrte, welche durch Corinnens Abwesenheit in der Gesellschaft entstanden, nun erst begriff er den Zauber und das schöne Geistesleben, das sie um sich zu verbreiten wußte. Er versuchte, mit einigen Damen zu reden; allein diese antworteten ihm in den landläufigen Phrasen, mit denen man sein Gefühl, seine Meinungen und besonders die Wahrheit verbirgt, wenn überhaupt die, welche sich deren bedienen, in dieser Beziehung etwas zu verbergen haben. Er trat zu den Männern, die, nach Geberde und Stimme zu urtheilen, sich eifrig über wichtige Gegenstände besprachen, und er hörte, daß man alltägliche Dinge in der alleralltäglichsten Form verhandelte. Darauf nahm er schweigend Platz und sah gelassen jener ziel- und zwecklosen Beweglichkeit zu, wie sie eben in den meisten Gesellschaften zu finden ist. Übrigens ist in Italien die Mittelmäßigkeit noch gutmüthig genug; sie zeigt wenig Eitelkeit, wenig Eifersucht, hat meist sogar viel Wohlwollen für geistige Überlegenheit, und wenn sie zuweilen auch recht lästig werden kann, verletzt sie wenigstens nie durch ihre Prätensionen.

Und doch waren es dieselben Gesellschaften, welche Oswald wenige Tage vorher so anziehend gefunden hatte. Das kleine Hinderniß, welches die Anwesenden seiner Unterhaltung mit Corinna entgegensetzten, die Sorgfalt, mit der sie sich wieder zu ihm wendete, wenn die Höflichkeitspflichten gegen Andere genügend erfüllt waren, das Einverständniß, das über die von der Gesellschaft ihnen auferlegten Rücksichten zwischen ihnen bestand, Corinnens Vergnügen in Oswalds Gegenwart zu sprechen, und indirekt Gedanken an ihn zu richten, deren wahren Sinn er allein verstand, – das Alles hatte diesen Cirkeln die schönste Reichhaltigkeit gegeben, und eifrig rief er sich jetzt die in ihnen verlebten süßen und angenehmen Augenblicke zurück, welche ihn über den Werth dieser Gesellschaften so sehr zu täuschen vermocht hatten. »Ach«, sagte er sich, »hier, wie in der ganzen Welt, kommt alles Leben nur von ihr! Besser, ich suche bis zu ihrer Wiederkehr die einsamsten Stätten auf. Ich werde ihre Abwesenheit weniger schmerzlich empfinden, wenn ich nichts um mich sehe, was Vergnügen bedeuten soll.«

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