Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Zehntes Buch: Die Charwoche.

Zweites Kapitel

Das Verlangen, die Religionsübungen der Italiener kennen zu lernen, bestimmte Lord Nelvil, einige der eifrigsten Redner der Fastenzeit zu hören. Er zählte die Tage bis zum Wiedersehen Corinnens; und während ihrer Abwesenheit wollte er nichts aus dem Bereich der Kunst sehen, nichts, dessen Zauber erst durch ihren anrufenden Geist recht für ihn ins Leben trat. Wenn Corinna nicht bei ihm war, glaubte er sich dem Genusse des Schönen nicht hingeben zu dürfen; er gestattete, er verzieh sich nur ein Glück, das von ihr kam. Poesie, Malerei, Musik, kurz Alles, was das Leben durch reiche, unbestimmte Fernsichten verschönt, es that ihm Alles wehe, wenn er nicht an ihrer Seite war.

Es ist Brauch in Rom, daß während der stillen Woche die Predigten Abends und bei sehr gedämpfter Erleuchtung Statt finden. Die Frauen sind dann, zur Erinnerung an den Tod des Heilands, schwarz gekleidet. Es liegt in dieser, durch so viele Jahrhunderte so vielmal erneuerten, jährlichen Trauer etwas das Gemüth tief Bewegendes, und fromm gestimmt tritt man in eine der vielen, schönen Kirchen ein; hier aber schlägt der Redner diese höhere Stimmung meist in wenig Augenblicken nieder.

Seine Kanzel ist eine ziemlich lange Tribüne, auf welcher er mit ebenso viel Regelmäßigkeit als Heftigkeit hin- und herläuft. Er verfehlt nie, beim Beginn einer Phrase abzusegeln, und mit deren Ende wieder anzukommen, gleich dem Pendel einer Uhr; und dabei macht er so viel Geberden, und eine so leidenschaftliche Miene, daß man eigentlich fürchtet, er müsse Alles, was er sagen will, vergessen. Doch ist das, wenn man sich so ausdrücken darf, nur eine systematische Wuth, dergleichen man viel in Italien sieht, wo die Lebhaftigkeit der äußeren Bewegung sich oft nur auf ein sehr oberflächlich Empfundenes gründet. Am Ende der Kanzel hängt ein Crucifix; der Prediger nimmt es herunter, küßt es, drückt es an sein Herz, und wenn der pathetische Abschnitt vorüber ist, hängt er es mit der äußersten Kaltblütigkeit wieder an seinen Platz. Sie haben auch noch ein anderes Mittel, um Effekt zu machen, dessen sich die gewöhnlichen Geistlichen häufig bedienen, nämlich ihr viereckiges Barret; mit unbegreiflicher Schnelligkeit nehmen sie dasselbe ab, und setzen es wieder auf. Einer von ihnen griff Voltaire und besonders Rousseau an, und maß ihnen die Schuld an der Irreligiosität des Jahrhunderts bei. Er warf sein Barret in die Mitte der Kanzel, erklärte, es habe Jean Jacques vorzustellen, redete es als diesen an, und schloß endlich feierlich: »Nun, du genfischer Philosoph, was hast du gegen meine Beweisgründe anzuführen?« Er schwieg einige Augenblicke, wie um die Antwort abzuwarten; als diese indessen ausblieb, setzte er das Barret wieder auf und endete die Unterhaltung mit den Worten: »Da du nun überzeugt bist, sprechen wir nicht mehr davon.«

Solche Seltsamkeiten kommen bei den römischen Predigern oft genug vor; denn nach dieser Richtung hin findet sich das ächte Talent dort sehr selten. Die Religion ist in Italien wie ein allmächtiges Gesetz geachtet; durch ihre Gebräuche und Ceremonien beherrscht sie die Einbildungskraft; allein in die Tiefe des Menschenherzens dringt sie nicht, denn man beschäftigt sich auf der Kanzel viel weniger mit den eigentlich sittlichen Begriffen, als mit strengen Glaubenslehren. Die Kanzelberedsamkeit ist also, wie viele andere Zweige der Literatur, den alltäglichsten, nichts malenden, nichts sagenden Behandlungsweisen verfallen. Ein neuer Gedanke würde eine Art von Aufruhr in diesen Köpfen verursachen, die so feurig und zugleich auch so träge sind, daß sie einer gewissen geistigen Einförmigkeit bedürfen, um zu ermüden, und diese Einförmigkeit auch lieben, weil sie sich an ihr ausruhen. Es herrscht in ihren Predigten eine Art von Rangordnung der Gedanken und Redensarten. Die einen sind meist die hergebrachte Folge der anderen, und diese Ordnung würde gestört werden, wenn der Redner aus seinem eigenen Inneren den Stoff nähme. Die christliche Philosophie, welche die Verwandtschaft der Religion mit der Menschennatur darzulegen sucht, ist dem italienischen Geistlichen grade so unbekannt wie jede andere. Ueber die Religion nachzusinnen würden sie kaum minder empörend finden, als gegen dieselbe gesonnen zu sein; sie sind also in dieser Beziehung an den alltäglichen Schlendrian gewöhnt. Der Cultus der heiligen Jungfrau ist den Italienern, wie allen südlichen Völkern, besonders lieb; gewissermaßen ist er identisch mit der Huldigung für die Frauen, wo, wie es sich von selbst versteht, diese in ihrer reinsten Gestalt auftritt. Doch die Kanzelredner behandeln auch diesen Gegenstand in denselben übertriebenen Phrasen; und es ist zu verwundern, daß sie solchen heiligen Ernst durch ihr Gebahren und ihre Schwätzereien nicht ganz ins Spaßhafte herabziehen. Man begegnet auf den Kanzeln der Italiener fast nie einem wahren, empfundenen Wort.

Durch die peinlichste aller Eintönigkeiten ermüdet, die nämlich einer gekünstelten Redegewalt, ging Oswald nach dem Coliseum, um den Capuziner zu hören, der dort unter freiem Himmel, und am Fuße eines der Altäre predigen sollte, welche, innerhalb der Kreismauer gelegen, den sogenannten Leidensweg bezeichnen. Welch reicher Stoff für die Beredtsamkeit ist dieses Denkmal, das einst eine Arena war, wo die Märtyrer den Gladiatoren folgten! Allein man darf nichts in diesem Sinne von dem armen Capuziner erwarten, der aus der Geschichte der Menschen nur sein eigenes Leben kennt. Wenn man es indessen möglich macht, seine schlechte Predigt gar nicht zu hören, fühlt man sich durch das, was ihn umgiebt, tief bewegt. Die meisten seiner Zuhörer sind von der Brüderschaft der Camaldulenser, die sich während der Bußübungen in eine Art grauer Kutte hüllen, welche den Kopf und den ganzen Körper bedeckt, und nur zwei kleine Oeffnungen für die Augen läßt. So könnte man die Schatten darstellen. Wie vergraben in dieses Gewand, werfen sie sich mit dem Gesicht zur Erde und schlagen betend an ihre Brust. Wenn der Redner in die Kniee sinkt, und um Gnade und Barmherzigkeit zum Himmel fleht, kniet auch das ihn umgebende Volk nieder, den Fleheruf wiederholend, und dieser zieht dann weiter, unter den alten Säulenhallen des Coliseums hinsterbend. Es ist kaum möglich, hierbei unerschüttert zu bleiben; dieser Schmerzensschrei, der sich an die ewige Güte wendet, der so von der Erde zum Himmel aufsteigt, bewegt die Seele bis in ihr Allerheiligstes. Oswald erbebte, als alle Anwesenden um ihn her auf die Kniee fielen; er blieb stehen, um nicht einen Cultus zu bekennen, der nicht der seine war; aber es wurde ihm schwer, sich nicht öffentlich den armen Sterblichen beizugesellen, die hier vor Gott im Staube lagen; und geziemt es denn nicht allen Menschen, das göttliche Erbarmen anzuflehen?

Das Volk war von Lord Nelvils schöner Gestalt und fremdländischem Wesen überrascht, und nicht etwa durch sein Stehenbleiben beleidigt. Man kann nicht toleranter sein, als die Römer. Sie sind es gewöhnt, daß man nur um des Sehens und Beobachtens willen zu ihnen kommt, und, sei es Hochmuth, sei es Gleichgültigkeit, sie suchen Andern ihre Meinung nicht aufzudringen. Noch viel sonderbarer scheint es uns, daß die körperlichen Geißelungen, welche Viele unter ihnen sich besonders während der Charwoche auferlegen, vor den Augen der Fremden, bei offenen Kirchenthüren, unternommen werden. Dieses Volk beschäftigt sich nicht mit andern Leuten; es thut nichts, um bemerkt zu werden, und unterläßt nichts, weil es bemerkt wird; es geht einfach seinen Zwecken, seinen Vergnügungen nach, und scheint von jenem nur nach dem Beifall Anderer jagenden Gefühl, welches man Eitelkeit nennt, keine Ahnung zu haben.

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