Corinna oder Italien
Sechstes Buch: Die Sitten und der Charakter der Italiener.
Zweites Kapitel
Das Gedränge hinderte Corinna, Lord Nelvil zu antworten. Man ging zum Abendessen und jeder Cavaliere servente beeilte sich, neben seiner Dame Platz zu nehmen. Eine Fremde trat jetzt erst in die Gesellschaft, und als sie keinen Sitz mehr fand, bot Niemand, außer Lord Nelvil und Graf d'Erfeuil, den seinen an. Es geschah aber nicht aus Unhöflichkeit, daß keiner der Italiener sich erhob; sondern es gehört in solchem Falle zu ihren Begriffen von Ehre und Pflicht, daß sie ihre Dame nicht auf einen Augenblick, nicht mit einem Schritt verlassen dürfen. Einige, die sich nicht hatten setzen können, standen hinter dem Stuhl ihrer Schönen zum Dienst für sie bereit. Die Damen redeten nur mit ihren Cavalieren; Fremde irrten um diesen Kreis, wo Niemand ihnen etwas zu sagen hatte, ganz vergeblich herum; denn die Frauen in Italien kennen keine Koketterie, sie haschen in der Liebe nicht nach dem Erfolg der Eigenliebe, und wollen allein nur dem gefallen, den sie lieben. Es giebt dort keine Neigungen, die mit geistigem Wohlgefallen beginnen, Herz und Auge entscheiden immer zuerst; den allerschleunigsten Anknüpfungen folgt oft aufrichtige Neigung, und selbst eine sehr lange Beständigkeit. Die Untreue eines Mannes wird in Italien strenger getadelt, als die einer Frau. Drei bis vier Männer folgen mit verschiedener Berechtigung einer und derselben Dame, und diese läßt sie mitgehen, ohne sich zuweilen auch nur die Mühe zu geben, dem sie empfangenden Hausherrn ihre Begleiter vorzustellen. Der Eine derselben ist der Begünstigte, der Andere strebt es zu werden, ein Dritter heißt der Leidende ( il patito); dieser Letzte wird ganz verschmäht, man gestattet ihm indessen doch die Rolle des Anbeters. Alle diese Rivalen leben friedlich nebeneinander, und die Sitte der Dolchstiche ist nur noch im niederen Volke vorhanden. In diesem Lande sind seltsame Mischungen von Einfachheit und Verderbtheit, von Gutmüthigkeit und Rachsucht, von Verstecktheit und Wahrhaftigkeit, von Schwäche und Kraft, welche sich alle durch eine bewährte Beobachtung erklären lassen: die guten Eigenschaften entspringen daraus, daß man nichts aus Eitelkeit thut, und die schlechten, weil viel um des Eigennutzes willen geschieht; gleichviel, ob dieser Eigennutz nun nach Liebe, nach Ehrgeiz oder nach Besitz trachtet.
Dem Unterschied der Stände wird in Italien im Allgemeinen wenig Bedeutung eingeräumt. Nicht aus Grundsatz ist man für aristokratische Vorurtheile so wenig empfänglich, sondern weil Leichtlebigkeit und Vertraulichkeit den gegenseitigen Verkehr ebnen helfen. Die Gesellschaft erhebt sich über nichts zum Richter und läßt daher Vieles gelten.
Nach dem Souper setzte sich Alles an den Spieltisch; einige Frauen spielten Hazard, Andere das schweigsamste Whist; und jetzt wurde nicht ein Wort in dem vorhin so geräuschvollen Zimmer gesprochen. Die Südländer gehen oft von der größesten Aufgeregtheit zur tiefesten Ruhe über. Mit unverdrossener Thätigkeit abwechselnde Faulheit ist auch noch einer von den Gegensätzen ihres Wesens. Im Ganzen sind es Menschen, die auf den ersten Blick zu beurtheilen man sich wohl hüten muß, denn es finden sich die einander widersprechendsten Eigenschaften und Mängel in ihnen. Wenn sie einmal sehr vorsichtig erscheinen, kann es geschehen, daß sie ein anderes Mal mit der größesten Verwegenheit auftreten; wenn sie träge sind, so waren sie vielleicht eben thätig oder bereiten sich zu künftiger Thätigkeit vor; und schließlich nützen sie ihre Seelenkräfte nicht im Gesellschaftstreiben aus, sondern halten sie für die entscheidenden Lebensverhältnisse zurück.
An dem erwähnten Gesellschaftsabend verloren einige Herren sehr bedeutende Summen im Spiel, ohne daß sich die geringste Veränderung in ihren Zügen wahrnehmen ließ. Dieselben Männer würden irgend eine unbedeutende Thatsache mit Feuer und eifrigen Geberden erzählt haben. Wenn die Leidenschaften einen gewissen Grad von Heftigkeit erreichen, fürchten sie die Zeugen und hüllen sich dann meist in Schweigen und äußere Unbeweglichkeit.
Ein bittrer Groll über die vorherige Tanzscene war in Oswald zurückgeblieben. Er glaubte, die Italiener und deren lebhafte Bewunderung hätten ihm wenigstens für einen Augenblick Corinnens Interesse abgewendet. Er war sehr unglücklich darüber; sein Stolz rieth ihm, es zu verbergen, hinderte ihn aber leider nicht daran, daß er geringschätzend von den Beifallsbezeigungen sprach, die seiner glänzenden Freundin doch Vergnügen gemacht hatten. Man forderte ihn zum Spielen auf, er dankte; Corinna that des gleichen und gab ihm darauf ein Zeichen, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Oswald besorgte, Corinna dem Geschwätz der Leute auszusetzen, wenn er den ganzen Abend hindurch so vor aller Welt allein mit ihr beschäftigt blieb. »Sein Sie ganz ruhig«, sagte sie. »Niemand wird sich um uns kümmern; in unserer Gesellschaft ist es Brauch, nur das zu thun, was Einem gefällt; hier giebt es keine willkürlichen Schicklichkeitsgesetze, keine geforderten Rücksichten. Wohlwollende Höflichkeit ist genügend, und Niemand beansprucht, daß der Eine sich um des Andern willen Zwang anthue. Wir haben zwar keine Freiheit, wie Ihr sie in England versteht, aber dafür genießt man im geselligen Leben die vollkommenste Unabhängigkeit.« – »Was etwa so viel bedeutet, daß man hier keine Achtung vor den Sitten hat«, sagte Oswald. – »Wenigstens hat man keine Heuchelei«, erwiderte Corinna; »Rochefoucauld sagt: Der geringste Fehler einer galanten Frau ist ihre Galanterie. Und wirklich, welches auch die Schwächen der italienischen Frauen sein mögen, sie flüchten sich doch wenigstens nicht hinter die Lüge; und wenn die Ehe hier nicht heilig gehalten wird, so geschieht dies mit Bewilligung beider Theile.«
»Aber nicht edler Freimuth ist die Ursache dieses Mangels an Verstellung«, erwiederte Oswald, »sondern Gleichgültigkeit gegen die öffentliche Meinung ist's. Bei meiner Ankunft wollte ich ein Empfehlungsschreiben an eine hier lebende Prinzessin abgeben, und beauftragte meinen Diener mit der Besorgung desselben. Indeß erwiderte er mir: »In diesem Augenblick kann Ihnen der Brief nichts helfen, denn die Prinzessin empfängt Niemand, sie ist »innamorata«. Diesen Zustand des Verliebtseins ruft man also, wie jede andere Lebensangelegenheit, in die Welt hinaus, und solche Öffentlichkeit wird nicht einmal durch eine außerordentliche Leidenschaft entschuldigt; mehrere Verhältnisse folgen so auf einander, und alle werden sie proklamirt. Die hiesigen Damen bedürfen in dieser Beziehung des Geheimnisses so gar nicht, daß sie fast mit weniger Verlegenheit von ihren Liebhabern, als unsere Frauen von ihren Gatten sprechen. Mit solcher unsittlichen Flatterhaftigkeit kann begreiflicher Weise kein tiefes oder zartes Gefühl verbunden sein. Daher kommt es auch, daß Ihr Volk, welches ja doch an weiter nichts als an die Liebe denkt, keinen einzigen Roman besitzt; denn diese hier so flüchtige, so öffentliche Liebe bietet keinen eigentlichen Stoff für irgend welche weitere Entwicklung, und um in dieser Hinsicht die herrschenden Sitten treu zu schildern, müßte man auf der ersten Seite anfangen und schließen. Verzeihen Sie, Corinna«, rief Lord Nelvil, als er den Schmerz, den er ihr verursachte, bemerkte; »Sie sind eine Italienerin, und dies sollte mich entwaffnen. Aber es ist ja eben eine der Ursachen Ihres unvergleichlichen Zaubers, daß Sie die schönsten Vorzüge der verschiedenen Nationen in sich vereinigen. Ich weiß nicht, wo Sie erzogen worden sind, aber gewiß haben Sie nicht Ihr ganzes Leben in Italien zugebracht; vielleicht selbst ist England Ihr ... Ach, Corinna, wenn dem so wäre, wie konnten Sie jenes Heiligthum von Sitte und Zartgefühl mit diesem Land vertauschen, wo nicht allein die Tugend, wo auch selbst die Liebe so unverstanden ist? Man athmet sie hier mit der Luft, aber dringt sie bis zum Herzen? Die italienischen Dichtungen, in denen die Liebe eine so große Rolle spielt, haben viel Anmuth, viel Einbildungskraft, und sind erfüllt mit Bildern von lebhaften und sinnlichen Farben. Aber wo finden Sie das schwermüthige und tiefe Gefühl, das unsere Poesien so seelenvoll macht? Was können Sie der Scene in Otway, zwischen Belvidera und ihrem Gatten, vergleichen? Was dem Romeo? Und was besonders den bewunderungswürdigen Versen Thompsons, der in seinem Frühlinge das Glück der ehelichen Liebe mit so edlen und rührenden Zügen schildert? Giebt es eine solche Ehe in Italien? Und kann da, wo kein häusliches Glück ist, kann da die Liebe gedeihen? Ist denn nicht dieses Glück das Ziel der Leidenschaft des Herzens, wie der Besitz das der sinnlichen Leidenschaft ist? Sind denn nicht alle jungen und schönen Frauen gleich, wenn die Eigenschaften der Seele und des Geistes nicht den Vorzug bestimmen? Und welchen Wunsch erregen diese Eigenschaften? Die Sehnsucht nach der Ehe, das heißt: die Gemeinschaft der Gefühle und Gedanken. Selbst die ungesetzliche Liebe ist da, wo sie sich bei uns findet, noch ein Wiederschein der Ehe, wenn ich so sagen darf. Man sucht bei ihr das innerliche Glück, das man in seinem Hause nicht genossen, und so ist in England die Untreue selber noch sittlicher, als die Ehe in Italien.«
Dies harte Urtheil verletzte Corinna tief; die Augen voller Thränen, stand sie auf, verließ die Gesellschaft und kehrte schnell nach Haus zurück. Oswald war in Verzweiflung, daß er einen gewissen Unmuth über den Beifall, welchen Corinnens Tanz erhalten, in solcher Weise hatte auslassen können. Er folgte ihr nach ihrer Wohnung, doch weigerte sie sich, ihn zu sprechen. Am nächsten Morgen ließ er sich von Neuem melden, ihre Thür blieb verschlossen. Solch wiederholtes Weigern lag sonst gar nicht in Corinnens Charakter; allein sie war von der Meinung, welche Lord Nelvil über die Italienerinnen ausgesprochen, zu schmerzlich beleidigt und fühlte deutlich, daß sie, eben um dieser Meinung willen, in Zukunft sich bemühen müsse, ihre Liebe zu verbergen.
Oswald seinerseits fand Corinnens Betragen in dieser Angelegenheit nicht ihrer sonstigen Natürlichkeit angemessen, und so redete er sich immer mehr in das Mißvergnügen hinein, das jener Ball ihm bereitet hatte. Auch bemühte er sich nicht, dieser Stimmung Herr zu werden; vielleicht hoffte er, sie könne ihm das Gefühl bekämpfen helfen, dessen Allmacht er fürchtete. Seine Grundsätze waren streng und er litt auf das Peinlichste davon, daß die Geliebte ihm ihre Vergangenheit so völlig unenthüllt ließ. Corinnens Benehmen schien ihm höchst anziehend, und nur zuweilen glaubte er es etwas zu sehr von dem Wunsche belebt, allgemein zu gefallen. Er fand viel Adel und große Bescheidenheit in ihren Reden, ihrer ganzen Haltung, aber zu wenig Strenge der Ueberzeugungen. Kurz, Oswald war überwältigt, hingerissen, und dennoch kämpfte in seinem Innern ein starker Widerspruch gegen diese Leidenschaft. Solche Lage giebt leicht eine gewisse Bitterkeit. Man ist mit sich und den Andern unzufrieden; man leidet und hat eine Art Bedürfniß, noch mehr zu leiden oder wenigstens eine gewaltsame Auseinandersetzung herbeizuführen, auf daß die eine der beiden streitenden, das Herz zertheilenden Empfindungen vielleicht endlich Sieger bleibe.
In solcher Stimmung schrieb Oswald an Corinna. Sein Brief, das fühlte er, war bitter und unziemlich; dennoch sendete er ihn in einer unklaren Aufwallung ab. Er war durch den Zwiespalt in seiner Brust so unglücklich, daß er um jeden Preis einen Konflikt, der Alles entschied, herbeisehnte.
Ein Gerücht, welchem er zwar nicht Glauben schenkte, und das Graf d'Erfeuil ihm zu erzählen gekommen war, trug vielleicht noch dazu bei, die Herbigkeit seiner Ausdrücke zu steigern. Man erzählte sich nämlich in Rom, daß Corinna den Prinzen Amalfi heirathen werde. Oswald wußte wohl, daß sie ihn nicht liebte, und mußte sich sagen, die Nachricht könne nur von jenem Balle herrühren; aber er erfuhr, daß sie den Fürsten, an dem Morgen, als er selbst nicht angenommen wurde, empfangen habe, und zu stolz, um Eifersucht auszudrücken, befriedigte er seinen geheimen Aerger, indem er die Nation herabsetzte, für welche, wie er mit dem größesten Unmuthe einsah, Corinna so viel Vorliebe hegte.