Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Erstes Buch: Oswald

Zweites Kapitel

Reisen ist, was man auch sagen mag, eines der traurigsten Vergnügen des Lebens. Wenn man sich in einer fremden Stadt wohl fühlt, so ist's gewiß nur, weil man anfängt sich dort einzuheimen; aber ungekannte Länder durchstreifen, eine Sprache reden hören, die wir kaum verstehen, menschliche Gesichter sehen, welche weder zu unserer Vergangenheit noch Zukunft eine Beziehung haben, das ist Vereinsamung, ist ein Sichverlieren ohne Rast und Ruhe, und selbst ohne Würdigkeit. Denn dieses Treiben, diese Eile irgendwo anzukommen, wo Niemand uns erwartet, diese Erregung, deren einzige Ursache Neugierde ist, flößen uns wenig Schätzung für uns selber ein; bis endlich der Zeitpunkt kommt, wo uns die neuen Gegenstände ein wenig bekannter werden, und wir schon mit ein paar süßen Banden des Gefühls und der Gewohnheit an sie gekettet sind.

Daher nahm denn auch Oswalds Trübsinn zu, als er, um Italien zu erreichen, durch Deutschland reiste. Man mußte damals, des Krieges wegen, Frankreich und seine Nachbarstaaten meiden, und sich von den die Straßen oft völlig versperrenden Armeen fern halten. Diese Nothwendigkeit, sich mit den Einrichtungen, den Einzelheiten der Reise zu beschäftigen, täglich, fast stündlich, einen neuen Entschluß zu fassen, war Lord Nelvil ganz unerträglich. Seine Gesundheit, fern von Besserung, nöthigte ihn oft zu längerem Aufenthalt, wenn er vielleicht eben wo anzukommen eilte, oder doch wenigstens gern weiter gereist wäre. Sein Bluthusten kehrte wieder, und er glaubte dies wenig berücksichtigen zu dürfen, weil er, im Gefühl einer begangenen Schuld, sich mit großer Strenge anklagte. Er wünschte nur noch zu leben, um seinem Lande dienen zu können. »Hat das Vaterland nicht Rechte an uns?« sagte er sich. »Doch muß man ihm allerdings Nutzen bringen können, muß eine andere Existenz ihm bieten können, als die meine; der ich mich nach der Sonne des Südens schleppe, um von ihr einige belebende Strahlen zur Kräftigung gegen die eigene Schwäche zu erbetteln. Nur ein Vater würde mich, wie ich bin, noch gern aufnehmen, nur ein Vater mich noch lieben, – um so mehr, als Natur und Schicksal grausam mit mir verfuhren.«

Lord Nelvil hatte gehofft, daß der stete Wechsel der äußeren Umgebung seinen Geist von dem einförmigen Ideengang ablenken werde; doch vorläufig empfand er solche wünschenswerthe Wirkung durchaus nicht. Nach einem großen Unglück, das wir erfahren, müssen wir uns mit allen uns umgebenden Verhältnissen erst wieder vertraut machen, uns an die Gesichter gewöhnen, die man wiedersieht, an die Räume, welche man inne hat, an die wiederaufzunehmenden täglichen Beschäftigungen. Nichts vervielfältigt aber diese Anstrengungen, deren jede einen peinlichen Entschluß erfordert, so sehr, als eine Reise.

Lord Nelvils bestes und einziges Vergnügen war, die schönen Berge Tyrols zu durchstreifen. Er ritt hierbei ein aus der Heimath mitgenommenes Pferd, das gleich seinen schottischen Racegenossen die Höhen in schnellem Laufe zu erstürmen vermochte. Oft wich er von der großen Straße ab, um die bedenklichsten Fußpfade einzuschlagen. Anfangs sahen ihn die erstaunten Bergbewohner mit Schrecken am Rand der Abgründe; allein sie erkannten bald seinen Muth, seine sichere Gewandtheit und bewunderten ihn darum. Oswald liebte die Aufregung solcher Gefahr; sie hebt das Gewicht des Schmerzes hinweg; sie versöhnt auf Augenblicke mit einem Leben, das so leicht zu verlieren ist, und das, wenn wiedergewonnen, vielleicht erträglicher scheinen mag.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12