Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Erstes Buch: Oswald:
Drittes Kapitel
In Inspruck erfuhr Oswald von einem Kaufmann, bei dem er einige Zeit gewohnt, die Geschichte eines emigrirten Franzosen, des Grafen d'Erfeuil, welche ihn sehr für diesen jungen Mann einnahm. Derselbe hatte den gänzlichen Verlust eines sehr großen Vermögens mit vollkommenstem Gleichmuth ertragen, hatte sich und einen bejahrten Onkel, den er bis zu dessen Tode gepflegt, durch sein musikalisches Talent erhalten, und alle Geldanerbietungen, die ihm durch Freundeshand gemacht worden, beharrlich ausgeschlagen. Während des Krieges hatte er die glänzendste aller Tapferkeiten – die französische – gezeigt, und in aller Widerwärtigkeit stets einen unverwüstlichen Frohsinn bewiesen. Er gedachte jetzt nach Rom zu gehen, um dort einen Verwandten, dessen einstiger Erbe er war, wiederzusehen, und wünschte sich, behufs angenehmeren Reisens, einen Gefährten, oder besser noch einen Freund.
Lord Nelvils schmerzlichste Erinnerungen knüpften sich an Frankreich; doch war er frei von den Vorurtheilen, die beide Nationen trennen, und sein Herzensfreund, ein Mann, welcher die größesten seelischen Eigenschaften in wundervoller Vereinigung besessen hatte, war ein Franzose gewesen. So bat er den Kaufmann, hier den Vermittler zu machen, und in seinem Namen mit jenem edlen und unglücklichen jungen Manne eine gemeinschaftliche Reise verabreden zu wollen; nach einer Stunde schon erhielt er die Antwort, daß sein Anerbieten mit Dank angenommen werde. Oswald war befriedigt, diesen Dienst leisten zu können, aber es kostete ihn große Ueberwindung, dem Alleinsein zu entsagen, und seine Schüchternheit litt sehr bei der Vorstellung, daß er nun plötzlich mit einem ihm bisher unbekannten Manne in beständigem, intimem Verkehr leben solle.
Graf d'Erfeuil kam nun, um Lord Nelvil seinen Dank auszusprechen; seine eleganten Formen, seine feine Höflichkeit verriethen die beste Erziehung, und mit liebenswürdiger Ungezwungenheit wußte er über das Peinliche hinwegzukommen, was eine erste Begegnung unter solchen Verhältnissen nothwendig an sich hatte. Wer ihn sah, glaubte schwer an das Ungemach, das er erlitten, denn er trug sein Geschick mit einem Muth, der gänzliches Vergessen schien, und in seiner Unterhaltung lag eine Leichtigkeit, die allerdings bewundernswürdig war, wenn sie seine eigenen Angelegenheiten behandelte, die aber – das ließ sich nicht ableugnen – weniger wohlthuend blieb, sobald sie sich auf andere Gegenstände erstreckte.
»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Mylord«, sagte Graf d'Erfeuil, »daß Sie mir aus diesem Deutschland forthelfen, denn ich langweile mich hier zum Sterben.« – »Sie sind aber doch, wie ich höre, hier allgemein geachtet.« – »Ich lasse freilich wohl ein paar Freunde zurück, die ich sehr vermissen werde, denn man trifft in diesem Lande viel gute Menschen; allein ich verstehe kein Wort deutsch, und Sie werden mir zugeben, daß es etwas langweilig und ermüdend für mich gewesen wäre, es zu lernen. Seit ich das Unglück hatte, meinen Onkel zu verlieren, weiß ich nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll. Als ich mich ihm zu widmen hatte, war mein Tag ausgefüllt; jetzt schleppen sich die vierundzwanzig Stunden träge hin.« – »Das Zartgefühl, mit welchem Sie Ihrem Onkel begegneten, flößt die tiefste Verehrung für Sie ein«, sagte Lord Nelvil. – »Ich that nur meine Pflicht«, erwiderte der Graf, »der Arme hatte mich während meiner Kindheit mit Wohlthaten überhäuft; ich würde ihn nicht verlassen haben, und hätte er hundert Jahr gelebt. Doch ein Glück für ihn, daß er todt ist. Auch mir wäre der Tod ein Glück«, fügte er lachend hinzu, »denn ich habe wenig Hoffnungen auf dieser Erde. Im Kriege that ich mein Möglichstes, um getroffen zu werden; da nun aber das Schicksal mich verschonte, muß ich so gut zu leben suchen, als ich kann.« »Ich werde mir also Glück zu wünschen haben«, antwortete Lord Nelvil, »wenn Sie sich in Rom wohl gefallen und wenn –« »Du lieber Himmel«, unterbrach ihn Graf d'Erfeuil, »es wird mir überall gefallen; wenn man jung und frohen Muthes ist, findet sich ja das Uebrige von selbst. Nicht Bücher und Nachdenken haben mir zu meiner Philosophie verholfen, sondern die Gewohnheit des Lebens und des Unglücks; und Sie sehen wohl, Mylord, wie Recht ich habe, dem Zufall zu vertrauen, der mir soeben die schöne Gelegenheit bietet, Sie zu begleiten.« Hierauf verabredeten sie die Abreise auf den folgenden Tag; Graf d'Erfeuil grüßte den Lord mit leichter Anmuth und ging.
Sie brachen am nächsten Morgen auf. Nach den ersten Höflichkeiten sprach Oswald während mehrerer Stunden kein Wort; als er endlich bemerkte, wie dieses Stillschweigen seinen Genossen zu ermüden schien, richtete er an Jenen die Frage, ob er sich viel von der Reise verspreche. »Mein Gott«, erwiderte der Graf, »ich weiß ja, was man von diesem Lande allenfalls zu erwarten hat, und rechne daher nicht auf besonderes Vergnügen. Einer meiner Freunde, der sechs Monate in Italien gelebt hat, sagte mir, daß jede Provinz Frankreichs ein besseres Theater und angenehmere Geselligkeit biete, als Rom. Aber ich werde in dieser alten Weltstadt doch sicherlich ein paar Franzosen finden, mit denen ich plaudern kann, und das ist Alles, was ich verlange.« »Sie fühlten keine Neigung, das Italienische zu erlernen?« unterbrach Oswald. »Nein, durchaus keine«, erwiderte der Graf; »das lag nicht im Plan meiner Studien.« Und er nahm, als er dieses sagte, eine so vielbedeutende Miene an, daß man hätte glauben können, er rede von einem auf tiefste Ueberlegung gegründeten Entschlusse.
»Wenn ich's Ihnen gestehen soll«, fuhr Graf d'Erfeuil fort, »ich liebe unter den Nationen eigentlich nur die Engländer und die Franzosen; man muß stolz sein, wie Jene, oder glänzend wie Wir; alles Uebrige ist nur Nachahmung.« Oswald schwieg. Der Graf nahm nach einigen Minuten mit liebenswürdigster Heiterkeit die Unterhaltung wieder auf. In geistreicher, ungebundener Form spielte er mit dem Wort, mit der Phrase; doch lehnte sich sein Gespräch weder an äußerlich Wahrnehmbares, noch an das innere Empfinden: es hielt gewissermaßen die Mitte zwischen der Reflexion und dem Einfall, – vereinigte beide, und allein die Beziehungen der Gesellschaft lieferten den Stoff.
Er nannte Lord Nelvil wohl zwanzig verschiedene Namen, französische und englische, fragte, ob Jener sie kenne, und erzählte bei dieser Gelegenheit verschiedene Anekdoten mit der pikantesten Grazie. Doch wenn man ihn hörte, war es, als wolle er Einem begreiflich machen, daß die einzig geziemende Unterhaltung für einen Mann von Geschmack das medisirende Geschwätz der vornehmen Zirkel sei.
Lord Nelvil grübelte viel über des Grafen Charakter nach, über diese sonderbare Mischung von Muth und Frivolität, über diese Verachtung des Unglücks, die so groß gewesen wäre, wenn sie mehr Anstrengungen gekostet, so heroisch, wenn sie nicht in der Unfähigkeit zu allem tieferen Empfinden ihren Grund gehabt hatte. »Ein Engländer«, sagte sich Oswald, »würde unter ähnlichen Umständen von Sorgen überwältigt sein. Wo nimmt dieser Franzose seine Kraft her? Wo seine Beweglichkeit? Versteht er denn wirklich die wahre Kunst zu leben? Während ich mich für superior halte, bin ich vielleicht nur krank? Stimmt sein leichtes Dahinleben mit der Flüchtigkeit dieses Daseins besser, als meine Weise? Und muß man dem Nachdenken, wie einem Feinde, zu entrinnen suchen, statt sich ihm mit ganzem Ernste hinzugeben?« Umsonst hätte Oswald diese Zweifel zu beleuchten vermocht: Niemand kann aus der ihm zugewiesenen Geistessphäre heraus, und die Eigenschaften sind meist noch unbezwinglicher, als die Fehler!
Graf d'Erfeuil hatte für Italien keine Aufmerksamkeit, und machte es auch Lord Nelvil oft unmöglich, die seine darauf zu richten; unaufhörlich sprechend, suchte er diesen von der Bewunderung des schönen Landes und seines malerischen Reizes abzuziehen. Dennoch lieh Oswald, so viel er es vermochte, dem Flüstern des Windes, dem Rauschen der Wogen ein träumerisches Ohr; wie viel wohlthätiger waren ihm diese Stimmen der Natur, als die am Fuße der Alpen, unter erhabenen Ruinen oder am brausenden Meeresstrande ihm vorgetragenen Phrasen seines weltlichen Genossen!
Der Gram, welcher an Oswalds Seele zehrte, war dem Genusse der Schönheiten Italiens weniger hinderlich, als des Grafen Munterkeit; die Trauer einer fühlenden Seele kann sich sehr gut mit dem Entzücken an der Natur und der Freude an den schönen Künsten vereinigen; aber Leichtfertigkeit, unter welcher Form sie sich auch darbiete, raubt der Aufmerksamkeit ihre Spannung, dem Gedanken seine Originalität, dem Gefühl seine Tiefe. Eine der sonderbaren Wirkungen dieser Leichtfertigkeit war es, daß sie Lord Nelvil in seinem Verkehr mit dem Grafen viel Schüchternheit einflößte. Verlegenheit findet sich zumeist bei ernsten Charakteren. Geistreiche Leichtigkeit imponirt dem forschenden Geist; und wer sich glücklich nennt, scheint weiser, als der, welcher leidet. Graf d'Erfeuil war sanft, verbindlich, in Allem bequem, ernsthaft nur in der Eigenliebe; er war es werth, geliebt zu werden, wie er zu lieben verstand, das heißt, wie ein guter Kamerad in Freude und Gefahr; aber auf den getheilten Schmerz verstand er sich nicht. Er langweilte sich an Oswalds Schwermuth, und aus Gutherzigkeit sowohl, als aus Temperament, würde er sie gern zerstreut haben. »Was fehlt Ihnen?« fragte er oft; »sind Sie nicht jung, reich, und, wenn Sie nur wollen, auch gesund? Denn Sie sind nur krank aus Trübsinn. Ich habe mein Vermögen, meine Stellung verloren, ich weiß nicht, was aus mir werden wird, und erfreue mich doch des Lebens, als besäße ich alle Schätze der Welt.« »Sie besitzen einen ebenso seltenen als ehrenwerthen Muth«, erwiderte Lord Nelvil; »aber die Schicksalsschläge, von denen Sie betroffen wurden, sind viel weniger schwer zu tragen, als die Leiden der Seele.« »Die Leiden der Seele!« rief Graf d'Erfeuil, »ja, das ist wahr, das sind die grausamsten von allen ... aber ... dennoch muß man sich darüber trösten; denn ein vernünftiger Mensch soll Alles aus dem Gemüthe bannen, das weder ihm noch Andern frommen kann. Sind wir hienieden nicht dazu da, um vor Allem nützlich, und darauf glücklich zu sein? Mein lieber Nelvil, halten wir hieran fest.«
Was der Graf sagte, klang im alltäglichen Sinne des Wortes recht vernünftig, wie er denn auch in vieler Beziehung das war, was man einen guten Kopf nennt. Oberflächliche Menschen handeln bekanntlich selten thöricht und die leidenschaftlichen Charaktere sind stets viel mehr zur Thorheit bereit. Allein mit solcher Denkweise vermochte er nicht Lord Nelvils Vertrauen zu erregen; dieser hätte vielmehr den Grafen gern überzeugen mögen, daß er der Glücklichste der Menschen sei, nur um dem Unbehagen zu entgehen, welches dessen Trostgründe ihm bereiteten.
Dagegen wuchs des Franzosen Zuneigung für Lord Nelvil mit jedem Tage; die Resignation und Einfachheit desselben, seine Bescheidenheit und sein Stolz nöthigten ihm die größeste Hochachtung ab. Er umflatterte beweglich Oswalds ruhige Gelassenheit, und suchte gutmüthig Alles zusammen, was er in seiner Erinnerung von ernsterer Bedeutung auftreiben konnte, um Jenen damit zu unterhalten; und wenn es ihm dann nicht gelang, des Gefährten scheinbare Kälte zu besiegen, fragte er sich wohl verwundert: »Bin ich denn aber nicht voller Güte, voller Aufrichtigkeit und Muth? Bin ich nicht ein liebenswürdiger Gesellschafter? Was kann mir denn fehlen, um zu gefallen? Und ist zwischen uns vielleicht ein Mißverständnis das aus seiner unvollkommenen Kenntniß des Französischen entspringen mag?«