An Bodmer

vom 20.12.1751

Tübingen, den 20. December 1751.

Mein Ihnen überlassenes Gedicht hat seine Bestimmung erreicht, es soll mir die oft gewünschte Ehre erwerben, Ihnen bekannt, und durch Dero Briefwechsel unterrichtet zu werden. Ich begnüge mich hieran, ohne an eine Verbesserung oder Unarbeitung dieses jugendlichen Arbeit zu gedenken. — Die Philosophie, deren ich mich fast ganz übergeben habe, macht mich in gewissen maßen, und sonderlich jetzt, unfähig, in der Dichtkunst etwas Ernstliches zu versuchen. Die eigentlichen philosophischen, die moralischen und satyrischen Gedichte sind mehr nach meinem Geschmacke, als diejenigen, worin die Dichtkunst herrschet; zwar schätze ich die heroischen Gedichte unendlich hoch, und glaube mit meinem geliebten Horaz: quod Homerus, quid sit pulchrum, quid turpe quid utile, quid non? — plenius ac melius Chrysippo et Crantore dicat.[1] Allein ich überlasse größern Geistern darin groß zu seyn, oder sich zu versuchen, und begnüge mich, die wenigen Nebenstunden, die mir meine Muse gleichsam entwendet, dazu anzuwenden, in philosophischen und moralischen Gedichten, und also in Absicht der Dichtkunst in einer kleinern Sphäre, die liebenswürdige Tugend zu preisen. Mein Schicksal ist mir oft unbegreiflich. Wie sehr rührt mich Ihre menschenfreundliche Gesinnung gegen mich, und Sie wünschen mir eben das, was ich wünsche, nehmlich frey zu seyn; es scheint aber nicht, daß ich es jemahls seyn werde. Mich hat öfters verlangt, ein geborner Englänger oder Schweizer zu seyn, und nur so viel zu haben, daß ich von der großen Welt abgesondert, und von Königen und Ministern unabhänglich, in einem ganz mittelmäßigen Zustand, der Tugend und Weisheit obliegen  könnte. Allein es hat der Vorsehung, welche alles gut macht, anders gefallen, und ich bin jetzt wie Ulysses, der da er an dem Phäacischen Ufer, nach seinem Schiffbruch, keine Wohnung und Pflaumbetten fand, Baumblätter zusammenraffte, und sich daraus unter den Obdach zweyer dicker Oehlbäume, so gut er konnte, ein Lager bereitete.

Mein Urtheil von Homer hat sich durch Ihre gütige und gründliche Anmerkung richtiger gemacht. Uebrigens ist es nicht Scaligers Ansehen, das mich seiner Meinung machte. Ohne vieles von ihm gelesen zu haben, weiß ich doch seinen kunstrichterlichen Werth zu gut, als ihm auf sein Wort zu glauben. Indeß scheint mir sein dießfälliges Urtheil gegründet, und mich dünkt die Summe der wesentlichen Schönheiten sey im Virgil größer als im Homer, und die Summe der wesentlichen Fehler in diesem größer als in jenem. Homer bleibt indessen ein Muster der Dichter, und ich gestehe, daß ich noch zu klein bin, von ihm zu urtheilen. Ich werde mich bemühen mich in Griechischen so fest zu setzen, ihn im Original lesen zu können, und wenn mich gleich seine Fehler immer beleidigen werden, so wird doch die Anmuth der Verse und die Schönheit des Ausdrucks, welche so bezaubernd seyn sollen, mich unempfindlicher gegen die Mängel machen.

Der Messias, der Noah sind für erhabnere Seelen geschrieben. Man muß fähig seyn, so zu empfinden, wie die Verfasser empfunden haben, wenn man sie recht schmecken soll. Aber wie viel sind deren, die Ihnen und Klopstock ähnlich sind. Und auch in diesem Falle, wenn die natürliche Beschaffenheit einer Seele fähig dazu ist, wird man diese Gedichte desto mehr schätzen, je mehr man Einsichten in die Wissenschaften hat. Uebrigens giebt es sogar Frauenzimmer, welche den Messias lesen und ihm nachempfinden. Eine Verwandtin von mir schätzt ihn unendlich hoch, und ich habe es dem Herrn Klopstock zu verdanken, daß ich sie etliche mahl so schön weinen gesehen habe, als seine Gidli weinte. Wie rühmlich sind Herrn Klopstock die Thränen meiner Freundin; doch nur in den Augen der Wenigen, die sie kennen. Ich wenigstens, (doch ich habe ja viele auf meiner Seite, die mich übertreffen) thue mir öfters auf den Beyfall einer solchen schönen, edlen und ungekünstelten Seele mehr zu gut, als auf Lobeserhebungen mancher Gelehrten von einem weniger edlen Herzen.

Hagedorn, der liebenswürdige Horazische Hagedorn, hat uns diese Messe den Horaz in Handecasyllaben gegeben. Dieses annehmliche Gedicht dünkt mich sein schönstes zu seyn. Ich kann nicht läugnen, daß mir die gewöhnliche Versification der Abendländer, und sonderlich die unsrige, sehr wohl gefällt. Außer Heldengedichten und Heroischen, oder eigentlich Horazischen Oden, fallen mir die Dactyle, Trochäen, Anapästen und wie sie heißen, sehr beschwerlich. Ich halte den Reim und unser sechsfüßiges jambisches Metrum für Stücke, die manche Arten von Gedichten sehr musicalisch und den Ohren gefällig machen, ob sie gleich einen Messias entstellen würden. Est inter Tanaim quidquam socerumque Viselli, est modus in rebus. Die Gedichte, welche Sie selbst, wie auch Herr von Haller, Hagedorn, Gellert, Schlegel, und lange vor ihnen Opitz und Canitz, im gewöhnlichen Sylbenmaas, so ausbündig schön gemacht, bezeugen die Wahrheit meiner Meinung a posteriori.

Der Gottschedisch-Schönaische Herrmann ist ganz herausgekommen in 12 Büchern, in langen Trochäen. Was hindert also, daß wir ihn nicht eine Aleneis heißen, zumahl da sein Gedicht mit Mord und Todschlag aufhört, wie Virgil seines, und es bey ihm wie im Ruz van Schad heißt: son tutti morti. Herrn Gottscheds Vorrede ist so schön gerathen, daß die vor der Schwarzias nur Kinderspiel dagegen ist. Man weiß in der That nicht, ob man lachen oder weinen solle, wenn er diesen poetischen Abortum der Ilias, Ueneis, dem Gierusalemma liberata und der Henriade an die Seite setzt.

Sie haben mir befohlen, Ihnen meine Gedanken von Dero übersandten Gedichten zu sagen; ich will es thun, ohne Bedenken, daß ich an einen Lehrer und Kenner schreibt, welchen ich weder zu loben noch zu tadeln fähig bin. Sie sind unser Homer; diese einnehmende Einfalt, dieses Hoheit, dieses ungkünstelte gefällige Wesen der Natur, finde ich nirgends so schön als im Homer und in Ihren Gedichten. Ihr Jakob und Rahel entzückt mich ganz. Er macht mich gegen die Sündflut und Jakob und Joseph ganz unentpfindlich, obgleich auch diese ihren Urheber nicht verläugnen. Ich werde dieses liebenswürdige Gedicht noch oft lesen: Sie haben die edle Einfalt der damaligen Zeiten, und die einnehmenden natürlichen Charakter der unschuldigen Bewohner des damaligen goldnen Alters unvergleichlich ausgedrückt. Ich bin ganz ungeduldig auf die folgenden Gesänge, und bitte Sie, dieses schätzbare Gedicht so groß zu machen als möglich. Elihu und Abjasaph haben nicht reizender singen können als Sie. Das Sujet, welches Sie darzu erwählt, ist unerschöpflich reich, da hingegen Jakob und Joseph zu historisch ist. Die Sündfluth sollten Sie selbst zu Ende bringen; ich glaube kaum daß Jemand anders im Stande seyn wird, ein Gedicht zu Ende zu bringen, wozu ein so starker und kühner Pinsel gehört.

Für die gültige Erinnerung, welche Sie mir wegen meines Gedichts geben, danke gehorsamst. Ich werde davon Vortheil zu ziehen suchen, sonderlich wenn ich jemals Zeit und Lust bekommen sollte, etwas Heroisches zu versuchen. Doch in diesem Fall würde ich mir von Ihnen die Fabel ausbitten, indem mir die von Herrmann nicht gefällt, und ich lieber über eine Materie arbeiten würde, die reicher, größer und mit keiner heidnischen Mythologie beschmutzt wäre.

Vielleicht ist es Ihnen schon bekannt, daß Gottsched eine neue Auflage seiner Dichtkunst besorgt hat, wo er nicht nur in der Vorrede Herrn Meier auf eine allen ehrliebenden Gemüthern abscheuliche Weise begegnet, sondern auch vom Messias, in dem Capitel von Heldengedicht, ein Urtheil fället, welches mehr als rasend ist. Doch wie ist diesem Niederträchtigen zu helfen; Naviget Antieyram — sonst ist kein Mittel.

Es sind hier von einigen Kindern in den schönen Wissenschaften, schwäbische Gedichte herausgekommen, welche sehr unbedeutend sind. Die Leute kennen ihren Horaz nicht, und wissen ihn noch weniger auszuüben; mediocribus esse poetis non Dii, non homines, non concessere columnae. — Haben sie alsdann das verdiente Schicksal, des Beyfalls der Kenner zu entbehren, so loben sie sich selber, wie Hagedorn sagt: »wir selber müssen uns loben, es lobt uns ja keiner als wir.« —

Ich nehme mir die Freyheit Ihnen eine jugendlich unreife Probe zu überschicken, welche ich vor einem halben Jahre Herrn Mejern zum Drucke überlassen habe. Vielleicht vergiebt man, wenn man ohnehin von Natur zum Vergeben geneigt ist, einem Werke seine Fehler, das in 10 Wochen von einem Jüngling von 18 Jahren geschrieben ist. Ob man aber diesem Jüngling die Kühnheit vergeben soll, seine petit ours mal lechés, wie Herr von Bar sagt, in die Welt geschickt zu haben, ist eine andere Frage. Ich werde mich glücklich schätzen, wenn mich dieser Versuch der gütigen Meinung nicht unwürdig macht, welche Sie von mir gefaßt. Unter den Richtern, deren Verbesserung ich mir in kurzen Vorberichte ausgebeten habe, sind Sie der oberste.


[1] Homer, was ist gut, was ist eine Schande, was nützlich ist, was nicht? - Mehr und bessere Chrysippus und Grantor sagen.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03