Die Morgenröthe

1776

Kommst du wieder, holder Morgenschimmer,
  Mit der lichten Flammenschrift?
Leuchte heller, schöner Seraph! immer
  Heller, bis dein Strahl die Seele trift;
 
Daß sie früh den Blick zum Himmel lenke,
  Daß sie heiter noch und frey,
Ihrer Abkunft große Würde denke,
  Voll von ihres Daseyns Zwecke sey.
 
Schön bist du, bekränzt mit lichten Stralen,
  Perus Gold beschämt dein Glanz,
Wer vermag dein Purpurlicht zu malen?
  Wer den holdgemischten Farbenkranz?
 
Und doch bist du wahrlich nur ein kleiner
  Tropfen jener Feuerflut,
Jenes Lichtermeers; nur ein Schimmer seiner
  Lebenvollen, schöpferischen Glut.
 
Kamst du nicht, die Schatten zu zerstreuen?
  Kamst du nicht, mit milderm Licht?
Unsern Blick zum vollen Tag zu weihen,
  Der im Pomp aus Nacht und Nebel bricht?
 
Ja, du bist ein Bild von jenen Boten,
  Die die Weisheit sich ersehn,
Wenn Verfall und Nacht der Erde drohten,
  Eilend ihre Fackel zu erhöhn;

Doch in einer milden Morgenwolke
  Ihren blendend hellen Tag
Zu verhüllen noch dem blöden Volke,
  Bis er dann die Nebel ganz durchbrach. -

Wie sie rosenfarbner immer malet,
  Und die goldnen Wolken theilt!
Wie der Tag aus ihren Blicken stralet!
  Wie der Nebelschwarm zu fliehen eilt!

Kommst du einst, ein Engel, zu verkünden
  Meinen letzten Erdentag,
O wie wird sie, weggestralt, verschwinden,
  Diese Nacht, die auf der Seele lag!

Ja, auf diesen hellen Purpurschwingen
  Wird mein sehnsuchtsvoller Geist
Eilends dann zu lichtern Sphären dringen,
  Wenn er sich der dunkeln Erd' entreißt.


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