Lied einer jungen Mutter an ihr ungeborenes Kind.

(Nov. 1783.)

(Mit einer Composition von Hrn. Kapellmeister Schulze).

 

Wenn sich früh’ der Morgen röthet,
Fühl’ ich dich, o Mutterglück!
Und am stillen Abend betet
Froh mein Geist; es hebt mein Blick
Sich bethränt zu jenen Höhen,
Denen schon dein Geist entschwebt,
Und mit leisem lindem Wehen
Deiner Mutter Schoos belebt!

Von des Grabes Nacht umfangen,
Schlummerst du in tiefer Ruh;
Fühlst nicht Wonne, nicht Verlangen,
Meines Lebens Hofnung, du!
Fühlst nicht dieses sanfte Wallen,
Das der Mutter Busen hebt,
Wenn mit innigem Gefallen
Uns des Gatten Blick umschwebt.

Bist du Mädchen, o so schmücke
Holder Reiz und Unschuld dich;
Und dein stiller Geist beglücke,
Süsses Mädchen, dich und mich!
Durch der reinsten Liebe Bande
Fessle früh das beste Herz;
Und zum wahren Vaterlande
Geh’ hinüber ohne Schmerz!

Bist du Knabe, o so werde
Fromm dein Herz und kühn dein Muth,
Und aus jeglicher Geberde
Leuchte Geist und Tugendglut!
Nie verschleuß dein Ohr dem Wehe,
Welches deinen Bruder drückt;
Und voll Menschenliebe gehe
Durch dein Leben hoch beglückt.

Schlummre! Schlummre still verborgen,
Bis der Herr des Lebens winkt;
Und am schönsten Frühlingsmorgen
Seine Macht ans Licht dich bringt!
Nicht die Angst und nicht die Schmerzen,
Die erst mein Gebein durchzückt,
Fühl’, o Kind von meinem Herzen!
Bis mein Auge dich erblickt.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03