Briefe auf einer Reise durch Deutschland und der Schweiz im Sommer 1808.

von Charlotte von Ahlefeld.

Siebzehnter Brief

Rolle, ohnweit Genf, den 29. Juli.

Unser gestriger Tag war reich an Freuden, aber auch an Mühen. Sehr früh verließen wir Orbe, ein kleines Städtchen, wo wir die Nacht geblieben waren, um über Romain motiers nach den Val de Joux zu gelangen. Der Weg war beschwerlich — wir mußten viel steigen, denn die gewaltsamen Anstrengungen der Pferde nöthigten uns aus Mitleid dazu. Es klingt sonderbar, daß man, um ein Thal zu erreichen empor klimmen muß. Auch besteht die Merkwürdigkeit des Val de Joux hauptsächlich darin, daß es in den höchsten Gipfel des Jura gleichsam eingedrückt, und 1902 Fuß über den Genfer See, und 3054 Fuß über das Meer erhaben ist.

Ein kleines Dorf, Le Pont, nahm uns auf und gewährte uns Schutz vor den öfteren Regengüssen, die erfolgten. Doch wenn sie vorüber waren, lag die belohnte reichlich durch ihren Anblick die Mühe, sie besucht zu haben.

Le Pont liegt zwischen dem Joux und dem Bremmel-See, und das Wirthshaus hatte gerade die Brücke vor sich, welche beide Seen trennt. Steile Felsen, dürftig bewachsen, ragten starr empor und spiegelten sich in den Fluthen, die wie durch ein Wunder in dieser Höhe erscheinen und die keinen andern Abfluß haben, als durch sogenannte entonnoirs, welche mit dumpfen Rauschen die schwellende Wasserfülle vermindern und sie durch verborgene Ritzen der Felsen — Gott weiß, wohin — leiten. Nur einer dieser entonnoirs oder Trichter ist von selbst entstanden, die übrigen hat die Furcht der Bewohner vor Ueberschwemmung eröffnet, und sie werden mit Sorgfalt unterhalten. Wir brachten die Nacht in einem elenden Wirthshause in Brassü zu, und fuhren früh über Chimey nach Rolle, einem kleinen Städtchen am Genfer See, dem die Natur eine himmlisch heitere Lage gewährt hat. Ich gieng lange allein, und zuletzt noch mit meinen Reisegefährten am Ufer des Sees spazieren. Der milde Glanz der untergehenden Sonne beleuchtete freundlich alles um uns her, und selbst in die dunklen Schatten der Bäume, unter denen wir wanderten, wehte die Abendröthe ein zauberisches Licht. Mit dem ruhigen Glück, das in dem stillen Genuß der Gegenwart lag, verband ich die schmerzlich süßen Freuden der Erinnerung, und indem sich die Vergangenheit vor mir aufrollte, fühlte ich die leisen Schauer der Sehnsucht in mir erwachen.


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