Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.
von Karl Philipp Moritz
Erster Teil
Nun standen sie vor dem Hause. Es hatte eine schwärzliche Außenseite und eine große schwarze Tür, die mit vielen eingeschlagenen Nägeln versehen war.
Oben hing ein Schild mit einem Hute heraus, woran der Name Lobenstein zu lesen war.
Ein altes Mütterchen, die Ausgeberin vom Hause, eröffnete ihnen die Tür und führte sie zur rechten Hand in eine große Stube, die mit dunkelbraun angestrichnen Brettern getäfelt war, worauf man noch mit genauer Not eine halb verwischte Schilderung von den fünf Sinnen entdecken konnte.
Hier empfing sie denn der Herr des Hauses. Ein Mann von mittlern Jahren, mehr klein als groß, mit einem noch ziemlich jugendlichen, aber dabei blassen und melancholischen Gesichte, das sich selten in ein andres als eine Art von bittersüßen Lächeln verzog, dabei schwarzes Haar, ein ziemlich schwärmerisches Auge, etwas Feines und Delikates in seinen Reden, Bewegungen und Manieren, das man sonst bei Handwerksleuten nicht findet, und eine reine, aber äußerst langsame, träge und schleppende Sprache, die die Worte wer weiß wie lang zog, besonders wenn das Gespräch auf andächtige Materien fiel: auch hatte er einen unerträglich intoleranten Blick, wenn sich seine schwarzen Augenbrauen über die Ruchlosigkeit und Bosheit der Menschenkinder und insbesondere seiner Nachbarn oder seiner eignen Leute zusammenzogen.
Anton erblickte ihn zuerst in einer grünen Pelzmütze, blauem Brusttuch und braunen Kamisol drüber nebst einer schwarzen Schürze, seiner gewöhnlichen Hauskleidung, und es war ihm beim ersten Blick, als ob er in ihm einen strengen Herrn und Meister statt eines künftigen Freundes und Wohltäters gefunden hätte.
Seine vorgefaßte innige Liebe erlosch, als wenn Wasser auf einen Funken geschüttet wäre, da ihn die erste kalte, trockne, gebieterische Miene seines vermeinten Wohltäters ahnden ließ, daß er nichts weiter wie sein Lehrjunge sein werde.
Die wenigen Tage über, daß sein Vater da blieb, wurde noch einige Schonung gegen ihn beobachtet; allein sobald dieser abgereist war, mußte er ebenso wie der andre Lehrbursch in der Werkstatt arbeiten.
Er wurde zu den niedrigsten Beschäftigungen gebraucht; er mußte Holz spalten, Wasser tragen und die Werkstatt auskehren.
So sehr dies gegen seine Erwartungen abstach, wurde ihm doch das Unangenehme einigermaßen durch den Reiz der Neuheit ersetzt. Und er fand wirklich eine Art von Vergnügen, selbst beim Auskehren, Holzspalten und Wassertragen.
Seine Phantasie aber, womit er sich alles dies ausmalte, kam ihm auch sehr dabei zustatten. – Oft war ihm die geräumige Werkstatt mit ihren schwarzen Wänden und dem schauerlichen Dunkel, das des Abends und Morgens nur durch den Schimmer einiger Lampen erhellt wurde, ein Tempel, worin er diente.
Des Morgens zündete er unter den großen Kesseln das heilige belebende Feuer an, wodurch nun den Tag über alles in Arbeit und Tätigkeit erhalten und so vieler Hände beschäftiget wurden.
Er betrachtete dann dies Geschäft wie eine Art von Amt, dem er in seinen Augen eine gewisse Würde erteilte.
Gleich hinter der Werkstatt floß die Oker, auf welcher eine Fülle oder Vorsprung von Brettern zum Wasserschöpfen hinausgebaut war.
Er betrachtete dies alles gewissermaßen als sein Gebiet – und zuweilen, wenn er die Werkstatt gereinigt, die großen eingemauerten Kessel gefüllt und das Feuer unter denselben angezündet hatte, konnte er sich ordentlich über sein Werk freuen – als ob er nun einem jeden sein Recht getan hätte – seine immer geschäftige Einbildungskraft belebte das Leblose um ihn her und machte es zu wirklichen Wesen, mit denen er umging und sprach.
Überdem machte ihm der ordentliche Gang der Geschäfte, den er hier bemerkte, eine Art von angenehmer Empfindung, daß er gern ein Rad in dieser Maschine mit war, die sich so ordentlich bewegte: denn zu Hause hatte er nichts dergleichen gekannt.
Der Hutmacher Lobenstein hielt wirklich sehr auf Ordnung in seinem Hause, und alles ging hier auf den Glockenschlag: Arbeiten, Essen und Schlafen.
Wenn ja eine Ausnahme gemacht wurde, so war es in Ansehung des Schlafs, der freilich ausfallen mußte, wenn des Nachts gearbeitet wurde, welches denn wöchentlich wenigstens einmal geschahe.
Sonst war das Mittagessen immer auf den Schlag zwölf, das Frühstück morgens und das Abendbrot abends um acht Uhr pünktlich da.
Dies war es denn auch, worauf bei der Arbeit immer gerechnet wurde – so verfloß damals Antons Leben: des Morgens von sechs Uhr an rechnete er bei seiner Arbeit aufs Frühstück, das er immer schon in der Vorstellung schmeckte, und wenn er es erhielt, mit dem gesundesten Appetit verzehrte, den ein Mensch nur haben kann, ob es gleich in weiter nichts als dem Bodensatz vom Kaffee mit etwas Milch und einem Zweipfennigbrote bestand.
Dann ging es wieder frisch an die Arbeit, und die Hoffnung aufs Mittagessen brachte wiederum neues Interesse in die Morgenstunden, wenn die Einförmigkeit der Arbeit zu ermüdend wurde.
Des Abends wurde Jahr aus, Jahr ein eine Kalteschale von starkem Biere gegeben. Reiz genug, um die Nachmittagsarbeiten zu versüßen.
Und dann vom Abendessen an bis zum Schlafengehen war es der Gedanke an die bald bevorstehende sehnlichgewünschte Ruhe, der nun über das Unangenehme und Mühsame der Arbeit wieder seinen tröstlichen Schimmer verbreitete.
Freilich wußte man, daß den folgenden Tag der Kreislauf des Lebens so von vorn wieder anfing. Aber auch diese zuletzt ermüdende Einförmigkeit im Leben wurde durch die Hoffnung auf den Sonntag wieder auf eine angenehme Art unterbrochen.
Wenn der Reiz des Frühstücks und des Mittags- und Abendessens nicht mehr hinlänglich war, die Lebens- und Arbeitslust zu erhalten, dann zählte man, wie lange es noch bis auf den Sonntag war, wo man einen ganzen Tag von der Arbeit feiern und einmal aus der dunklen Werkstatt vors Tor hinaus in das freie Feld gehen und des Anblicks der freien offnen Natur genießen konnte.
O, welche Reize hat der Sonntag für den Handwerksmann, die den höheren Klassen von Menschen unbekannt ist, welche von ihren Geschäften ausruhen können, wenn sie wollen. – ›Daß deiner Magd Sohn sich erfreue!‹ – Nur der Handwerksmann kann es ganz fühlen, was für ein großer, herrlicher, menschenfreundlicher Sinn in diesem Gesetze liegt! –
Wenn man nun auf einem Tag Ruhe von der Arbeit schon sechs Tage lang rechnete, so fand man es wohl der Mühe wert, auf drei oder gar vier Feiertage nacheinander ein Dritteil des Jahres zu rechnen.
Wenn selbst der Gedanke an den Sonntag oft nicht mehr fähig war, den Überdruß an dem Einförmigen zu verhindern, so wurde durch die Nähe von Ostern, Pfingsten oder Weihnachten der Lebensreiz wieder aufgefrischt.
Und wenn dies alles zu schwach war, so kam die süße Hoffnung an die Vollendung der Lehrjahre, an das Gesellenwerden hinzu, welches alles andre überstieg und eine neue große Epoche ins Leben brachte.
Weiter ging nun aber auch der Gesichtskreis bei Antons Mitlehrburschen nicht – und sein Zustand war dadurch gewiß um nichts verschlimmert.
Nach einer allgütigen und weisen Einrichtung der Dinge hat auch das mühevolle, einförmige Leben des Handwerksmannes seine Einschnitte und Perioden, wodurch ein gewisser Takt und Harmonie hereingebracht wird, welcher macht, daß es unbemerkt abläuft, ohne seinem Besitzer eben Langeweile gemacht zu haben.
Aber Antons Seele war durch seine romanhaften Ideen einmal zu diesem Takt verstimmt.
Dem Hause des Hutmachers grade gegenüber war eine lateinische Schule, die Anton zu besuchen vergeblich gehofft hatte – so oft er die Schüler heraus- und hineingehen sahe, dachte er mit Wehmut an die lateinische Schule und an den Konrektor in Hannover zurück – und wenn er gar etwa vor der großen Martinsschule vorbeiging und die erwachsenen Schüler herauskommen sahe, so hätte er alles darum gegeben, dies Heiligtum nur einmal inwendig betrachten zu können.
Einmal eine solche Schule besuchen zu dürfen, hielt er zwar bei seinem jetzigen Zustande beinahe für unmöglich; demohngeachtet aber konnte er sich einen schwachen Schimmer von Hoffnung dazu nicht ganz versagen.
Selbst die Chorschüler schienen ihm Wesen aus einer höhern Sphäre zu sein; und wenn er sie auf der Straße singen hörte, konnte er sich nicht enthalten, ihnen nachzugehen, sich an ihrem Anblick zu ergötzen und ihr glänzendes Schicksal zu beneiden.
Wenn er mit seinem Mitlehrburschen in der Werkstatt alleine war, suchte er ihm alle die kleinen Kenntnisse mitzuteilen, welche er sich teils durch eignes Lesen und teils durch den Unterricht, den er genossen, erworben hatte.
Er erzählte ihm vom Jupiter und der Juno und suchte ihm den Unterschied zwischen Adjektivum und Substantivum deutlich zu machen, um ihn zu lehren, wo er einen großen Buchstaben oder einen kleinen setzen müsse.
Dieser hörte ihm denn aufmerksam zu, und zwischen ihnen wurden oft moralische und religiöse Gegenstände abgehandelt. Antons Mitlehrbursche war bei diesen Gelegenheiten vorzüglich stark in Erfindung neuer Wörter, wodurch er seine Begriffe bezeichnete. So nannte er z. B. die Befolgung der göttlichen Befehle die Erfülligkeit Gottes. – Und indem er vorzüglich die religiösen Ausdrücke des Herrn Lobenstein von Ertötung usw. nachzunahmen suchte, geriet er oft in ein sonderbares Galimathias.
Mit vorzüglichem Nachdruck wußte er sich einiger Stellen aus den Psalmen Davids, worin eben keine sanftmütigen Gesinnungen gegen die Feinde geäußert werden, zu bedienen, wenn er glaubte, durch die Haushälterin oder jemand anders angeschwärzt und verleumdet zu sein.
So waren fast alle Hausgenossen mehr oder weniger von den religiösen Schwärmereien des Herrn Lobenstein angesteckt, ausgenommen der Geselle: dieser warf ihm, wenn er ihm manchmal zuviel von Ertötung und Vernichtung schwatzte, einen solchen tötenden und vernichtenden Blick zu, daß Herr Lobenstein sich mit Abscheu wegwandte und stillschwieg.
Sonst konnte Herr Lobenstein zuweilen stundenlange Strafpredigten gegen das ganze menschliche Geschlecht halten. Mit einer sanften Bewegung der rechten Hand teilte er dann Segen und Verdammnis aus. Seine Miene sollte dabei mitleidsvoll sein, aber die Intoleranz und der Menschenhaß hatten sich zwischen seinen schwarzen Augenbrauen gelagert.
Die Nutzanwendung lief denn immer, politisch genug, darauf hinaus, daß er seine Leute zum Eifer und zur Treue – in seinem Dienste ermahnte, wenn sie nicht ewig im höllischen Feuer brennen wollten.
Seine Leute konnten ihm nie genug arbeiten – und er machte ein Kreuz über das Brot und die Butter, wenn er ausging.
Dem Anton, der ihm vielleicht nicht genug arbeiten konnte, verbitterte er sein Mittagessen durch tausend wiederholte Lehren, die er ihm gab, wie er das Messer und die Gabel halten und die Speise zum Munde führen sollte, daß diesem oft alle Lust zum Essen verging, bis sich der Geselle einmal nachdrücklich seiner annahm und Anton doch nun in Frieden essen konnte. –
Übrigens aber durfte er es auch nicht wagen, nur einen Laut von sich zu geben, denn an allem, was er sagte, an seinen Mienen, an seinen kleinsten Bewegungen fand Lobenstein immer etwas auszusetzen; nichts konnte ihm Anton zu Danke machen, welcher sich endlich beinahe in seiner Gegenwart zu gehen fürchtete, weil er an jedem Tritt etwas zu tadeln fand. – Seine Intoleranz erstreckte sich bis auf jedes Lächeln und jeden unschuldigen Ausbruch des Vergnügens, der sich in Antons Mienen oder Bewegungen zeigte: denn hier konnte er sie einmal recht nach Gefallen auslassen, weil er wußte, daß ihm nicht widersprochen werden durfte.
Während der Zeit wurden die ganz verblichnen fünf Sinne an dem schwarzen Getäfel der Wand wieder neu überfirnißt – die Erinnerung an den Geruch davon, welcher einige Wochen dauerte, war bei Anton nachher beständig mit der Idee von seinem damaligen Zustande vergesellschaftet. So oft er einen Firnisgeruch empfand, stiegen unwillkürlich alle die unangenehmen Bilder aus jener Zeit in seiner Seele auf; und umgekehrt, wenn er zuweilen in eine Lage kam, die mit jener einige zufällige Ähnlichkeiten hatte, glaubte er auch, einen Firnisgeruch zu empfinden.
Ein Zufall verbesserte Antons Lage in etwas.
Der Hutmacher Lobenstein war ein äußerst hypochondrischer Schwärmer; er glaubte an Ahndungen und hatte Visionen, die ihm oft Furcht und Grauen erweckten. Eine alte Frau, die zur Miete im Hause gewohnt hatte, starb und erschien ihm bei nächtlicher Weile im Traume, daß er oft mit Schaudern und Entsetzen erwachte, und weil er dann wachend noch fortträumte, auch ihren Schatten in irgendeiner Ecke seiner Kammer noch zu sehen glaubte. Anton mußte ihm von nun an zur Gesellschaft sein und in einem Bette neben ihm schlafen. Dadurch wurde er ihm gewissermaßen zum Bedürfnis, und er wurde etwas gütiger gegen ihn gesinnt. – Er ließ sich oft mit ihm in Unterredungen ein, fragte ihn, wie er in seinem Herzen mit Gott stehe, und lehrte ihn, daß er sich Gott nur ganz hingeben solle; wenn er dann zu dem Glück der Kinder Gottes auserwählt wäre, so würde Gott selbst das Werk der Bekehrung in ihm anfangen und vollenden usw. – Des Abends mußte Anton, ehe er zu Bette ging, für sich stehend leise beten, und das Gebet durfte auch nicht allzu kurz sein – sonst fragte Lobenstein wohl, ob er denn schon fertig sei und Gott nichts mehr zu sagen habe? – Dies war für Anton eine neue Veranlassung zur Heuchelei und Verstellung, die sonst seiner Natur ganz entgegen war. – Ob er gleich leise betete, so suchte er doch seine Worte so vernehmlich auszusprechen, daß er von Lobenstein recht gut verstanden werden konnte – und nun herrschte durch sein ganzes Gebet nicht sowohl der Gedanke an Gott als vielmehr, wie er sich durch irgendeinen Ausdruck von Reue, Zerknirschung, Sehnsucht nach Gott und dergleichen wohl am besten in die Gunst des Herrn Lobenstein einschmeicheln könnte. – Das war der herrliche Nutzen, den dies erzwungne Gebet auf Antons Herz und Charakter hatte.
Doch aber fand Anton auch zuweilen im einsamen Gebete noch eine Art von heimlichen Vergnügen, wenn er in irgendeinem Winkel der Werkstatt kniete und Gott bat, daß er doch eine einzige von den großen Veränderungen in seiner Seele hervorbringen möchte, wovon er seit seiner Kindheit schon so viel gelesen und gehört hatte. Und so weit ging die Täuschung seiner Einbildungskraft, daß es ihm zuweilen wirklich war, als ginge etwas ganz Besonders im Innersten seiner Seele vor; und sogleich war auch der Gedanke da, wie er nun diesen seinen Seelenzustand etwa in einem Briefe an seinen Vater oder den Herrn von Fleischbein einkleiden oder ihn Herrn Lobenstein erzählen wollte. Es waren also dergleichen eingebildete innere Gefühle immer eine süße Nahrung seiner Eitelkeit, und das innige Vergnügen, was er darüber empfand, wurde vorzüglich durch den Gedanken erweckt, daß er doch nun sagen könnte, er habe ein solches göttliches, himmlisches Vergnügen in seiner Seele empfunden – es schmeichelte ihn immer sehr, wenn erwachsene und bejahrte Leute seinen Seelenzustand für so wichtig hielten, daß sie sich darum bekümmerten. Das war der Grund, daß er sich so oft einen abwechselnden Seelenzustand zu haben einbildete, um dann etwa dem Herrn Lobenstein klagen zu können, daß er sich in einem Zustande der Leere, der Trockenheit befinde, daß er keine rechte Sehnsucht nach Gott bei sich verspüre usw., und sich alsdann den Rat des Herrn Lobenstein über diesen seinen Seelenzustand ausbitten zu können, der ihm denn auch immer mit vieler für ihn schmeichelhaften Wichtigkeit erteilt ward.
Ja, es kam gar einmal so weit, daß über seinen Seelenzustand mit dem Herrn von Fleischbein korrespondiert und ihm eine Stelle in dem Briefe des Herrn von Fleischbein, die sich auf ihn bezog, gezeigt wurde. Was Wunder, daß er auf die Weise veranlaßt wurde, sich durch allerlei eingebildete Veränderungen seines Seelenzustandes in seinen eignen Augen sowohl als in den Augen andrer bei dieser Wichtigkeit zu erhalten, da er als ein Wesen betrachtet wurde, bei dem sich eine ganz eigne besondre Führung Gottes offenbarte.
Er bekam nun auch eine schwarze Schürze wie der andre Lehrbursche, und anstatt daß ihn dieser Umstand hätte niederschlagen sollen, trug er vielmehr vieles zu seiner Zufriedenheit bei. Er betrachtete sich nun als einen Menschen, der schon anfing, einen gewissen Stand zu bekleiden. Die Schürze brachte ihn gleichsam in Reihe und Glied mit andern seinesgleichen, da er vorher einzeln und verlassen dastand – er vergaß über die Schürze eine Zeitlang seinen Hang zum Studieren und fing an, auch an den übrigen Handwerksgebräuchen eine Art von Gefallen zu finden, der ihn nichts eifriger wünschen ließ, als dieselben einmal mitmachen zu können. – Er freute sich innerlich, so oft er den Gruß eines einwandernden Gesellen hörte, der das gewöhnliche Geschenk zu fordern kam; und keine größere Glückseligkeit konnte er sich denken, als wenn er auch einmal als Geselle so einwandern und dann, nach Handwerksgebrauch, den Gruß mit den vorgeschriebenen Worten hersagen würde. –
So hängt das jugendliche Gemüt immer mehr an den Zeichen als an der Sache, und es läßt sich von den frühen Äußerungen bei Kindern, in Ansehung der Wahl ihres künftigen Berufes, wenig oder gar nichts schließen. – Sobald Anton lesen gelernt hatte, fand er ein unbeschreibliches Vergnügen darin, in die Kirche zu gehen; seine Mutter und seine Base konnten sich nicht genug darüber freuen. Was ihn aber in die Kirche trieb, war der Triumph, den er allemal genoß, wenn er nach dem schwarzen Brette, wo die Nummern der Gesänge angeschrieben waren, hinsehen und etwa einem erwachsenen Menschen, der neben ihm stand, sagen konnte, was es für eine Nummer sei: und wenn er denn ebenso und oft noch geschwinder als die erwachsenen Leute diese Nummer in seinem Gesangbuche aufschlagen und nun mitsingen konnte. –
Die Zuneigung des Herrn Lobenstein gegen Anton schien itzt immer größer zu werden, je mehr dieser nach seiner geistlichen Führung ein Verlangen bezeigte. – Er ließ ihn oft bis um Mitternacht an den Gesprächen mit seinen vertrautesten Freunden teilnehmen, mit denen er sich gemeiniglich über seine und anderer Erscheinungen zu unterhalten pflegte, welche zuweilen so schaudervoll waren, daß Anton mit berganstehendem Haare zuhorchte. Gemeiniglich wurde erst spät zu Bett gegangen. Und wenn der Abend mit solchen Gesprächen zugebracht war, so pflegte Lobenstein am folgenden Morgen beim Aufstehen wohl zu fragen, ob Anton die Nacht nichts vernommen, nichts in der Kammer gehen gehört habe?
Manchmal unterhielt sich auch Lobenstein des Abends mit Anton allein, und sie lasen dann zusammen etwa in den Schriften des Taulerus, Johannes vom Kreutz und ähnlichen Büchern. – Es schien, als ob zwischen ihnen eine dauerhafte Freundschaft entstehen würde. Anton faßte auch wirklich eine Art von Liebe gegen Lobenstein, aber diese Empfindung war immer mit etwas Herben untermischt, mit einem gewissen Gefühl von Ertötung und Vernichtung, welches durch Lobensteins bittersüßes Lächeln erzeugt wurde.
Indes blieb Anton jetzt von harten und niedrigen Arbeiten mehr wie sonst verschont. Lobenstein ging zuweilen mit ihm spazieren; ja, er nahm ihm sogar einen Klaviermeister an. – Anton war entzückt über seinen Zustand und schrieb einen Brief an seinen Vater, worin er demselben auf das lebhafteste seine Zufriedenheit bezeigte.
Nun hatte aber auch Antons Glück im Lobensteinschen Hause den höchsten Gipfel erreicht, und sein Fall war nahe. Alles sahe ihn mit neidischen Augen an, seitdem ihm der Klaviermeister gehalten wurde. Es wurden hier Kabalen, wie an einem kleinen Hofe gespielt; man verleumdete ihn, man suchte ihn zu stürzen.
So lange Lobenstein gegen Anton hart und unbillig verfahren war, genoß er des Mitleids und der Freundschaft aller übrigen Hausgenossen; sobald es aber schien, als ob dieser ihm seine Freundschaft und Vertrauen zuwenden würde, nahm in eben dem Maße ihre Feindschaft und Mißtrauen gegen ihn zu. Und sobald es ihnen nur gelungen war, ihn wieder zu sich herunterzubringen, und man es so weit gebracht hatte, daß der Klaviermeister wieder abgedankt war, hatte man auch weiter nichts mehr gegen Anton: man war sein Freund wie zuvor.
Nun hielt es aber nicht schwer, ihn der Gewogenheit eines so argwöhnischen und mißtrauischen Mannes, wie Lobenstein war, zu berauben; man durfte nur einige lebhafte Äußerungen von ihm erzählen, man durfte Herrn Lobenstein nur auf verschiedne wirkliche Fehler der Nachlässigkeit und Unordnung, die Anton an sich hatte, bei jeder Gelegenheit aufmerksam machen, um seinen Gesinnungen bald eine andre Richtung zu geben. Dies wurde denn von der Haushälterin und den übrigen Untergebenen sehr gewissenhaft getan. – Indes dauerte es doch noch einige Monate, ehe man völlig seinen Zweck erreichte. Während welcher Zeit Lobenstein sogar Antons Klaviermeister zu bekehren sich Mühe gab, welcher ein sehr rechtschaffner und frommer Mann war, aber Herrn Lobensteins Meinung nach sich Gott noch nicht ganz hingegeben hatte und sich nicht leidend genug gegen ihn verhielt.
Dieser Mann mußte denn auch oft bei Herrn Lobenstein speisen, verdarb es aber am Ende dadurch, daß er sich zu viel Butter auf das Brot schmierte. Auf diesen Umstand machte die Haushälterin Herrn Lobenstein aufmerksam, um dadurch ihren Zweck zu erreichen, dem Klavierspielen Antons ein Ende zu machen, damit er nicht mehr über die andern Hausgenossen erhoben wäre.
Anton hatte überdem nicht viel Genie zur Musik und lernte folglich nicht viel in seinen Stunden. Ein paar Arien und Choräle waren alles, was er mit vieler Mühe fassen konnte. Und die Klavierstunde war ihm immer eine sehr unangenehme Stunde. Auch wurde ihm die Applikatur sehr schwer, und Lobenstein fand immer an der Figur seiner weit ausgespreiteten Finger etwas auszusetzen.
Indes gelang es ihm doch einmal, wie dem David beim Saul, den bösen Geist des Herrn Lobenstein durch die Kraft der Musik zu vertreiben. Er hatte ein kleines Versehen begangen, und weil die Neigung des Herrn Lobenstein gegen ihn schon anfing, sich in Haß zu verwandeln, so hatte dieser ihm des Abends vor dem Schlafengehen eine harte Züchtigung dafür zugedacht. Anton merkte dies an allem wohl. Und als die Stunde heranzunahen schien, faßte er den Mut, einen Choral, den ersten, den er gelernt hatte, auf dem Klavier zu spielen und dazu zu singen. Dies überraschte Herrn Lobenstein, er gestand ihm, daß grade diese Stunde zu einer nachdrücklichen Bestrafung bestimmt gewesen wäre, die er ihm nun schenkte.
Anton erdreistete sich nun sogar, ihm einige Vorstellungen wegen der anscheinenden Abnahme seiner Freundschaft und Liebe gegen ihn zu tun, worauf Lobenstein ihm gestand, daß seine Zuneigung gegen ihn freilich so stark nicht mehr sei, und daß dieses notwendig an Antons verschlimmertem Seelenzustande liegen müsse, wodurch gleichsam eine Scheidewand zwischen ihm und seiner ehemaligen Liebe gezogen wäre. Er habe die Sache Gott im Gebet vorgetragen und diesen Aufschluß darüber erhalten.
Dies war nun sehr traurig für Anton, und er fragte, wie er es denn anzufangen habe, um seinen verschlimmerten Seelenzustand wieder zu verbessern. – Seinen Weg in Einfalt zu wandeln und sich ganz Gott zu überlassen, war die Antwort, sei das einzige Mittel, seine Seele zu retten. – Weiter wurden keine nähern Anweisungen erteilt. Herr Lobenstein hielt es nicht für gut, Gott gleichsam vorzugreifen, der sich selber von Anton abgezogen zu haben schien. – Die nachdrücklich ausgesprochnen Worte aber, seinen ›Weg in Einfalt zu wandeln‹, hatten darauf Bezug, daß ihm Anton seit einiger Zeit zu klug zu werden anfing, zu viel sprach und vernünftelte und überhaupt wegen der Zufriedenheit mit seinem Zustande zu lebhaft wurde. – Diese Lebhaftigkeit war ihm der gerade Weg zu Antons Verderben, der nach dieser Heiterkeit in seinem Gesichte notwendig ein ruchloser, weltlichgesinnter Mensch werden mußte, von dem nichts anders zu vermuten stand, als daß ihn Gott selbst in seinen Sünden dahingeben würde. –
Hätte Anton seinen Vorteil besser verstanden, so hätte er itzt durch ein niedergeschlagenes, misanthropisches Wesen, vorgegebene Beängstigungen und Beklemmungen seiner Seele noch alles wieder gutmachen können. Denn nun würde Lobenstein geglaubt haben, Gott sei im Begriff, die verirrte Seele wieder zu sich zu ziehen. –
Aber weil Lobenstein den Grundsatz hatte, daß derjenige, welchen Gott bekehren wolle, auch ohne sein Zutun bekehrt werde; und daß Gott erwählet, welchen er will, und verwirft und verstocket, welchen er will, um seine Herrlichkeit zu offenbaren – so schien es ihm gleichsam gefährlich, sich in die Sache Gottes zu mischen, wenn es etwa den Anschein hatte, als ob einer wirklich von Gott verworfen wäre.
Mit Anton hatte es nun, seinen lebhaften und weltlich gesinnten Mienen nach, bei dem Herrn Lobenstein würklich beinahe diesen Anschein. – Die Sache war ihm so wichtig gewesen, daß er darüber mit dem Herrn von Fleischbein korrespondiert hatte. – Und nun zeigte er Anton wiederum in dem Briefe des Herrn von Fleischbein eine Stelle, die ihn betraf; und worin der Herr von Fleischbein versicherte, allen Kennzeichen nach ›habe der Satan seinen Tempel in Antons Herzen schon so weit aufgebauet, daß er schwerlich wieder zerstört werden könne‹. –
Das war wirklich ein Donnerschlag für Anton – aber er prüfte sich und verglich seinen jetzigen Zustand mit dem vorhergehenden, und es war ihm unmöglich, irgendeinen Unterschied dazwischen zu entdecken; er hatte noch ebenso oft eingebildete göttliche Rührungen und Empfindungen wie sonst; er konnte sich nicht überzeugen, daß er ganz aus der Gnade gefallen und von Gott verworfen sein sollte. Er fing an der Wahrheit des Orakelspruchs von dem Herrn von Fleischbein an zu zweifeln.
Dadurch verlor sich seine Niedergeschlagenheit wieder, die ihm sonst vielleicht aufs neue den Weg zu der Gunst des Herrn Lobenstein würde gebahnt haben, dessen Freundschaft er nun durch seine fortgesetzten vergnügten Mienen vollends verscherzte.
Die erste Folge davon war, daß ihn Lobenstein aus seiner Kammer entfernte und er wieder bei dem andern Lehrburschen schlafen mußte, der nun anfing, wieder sein Freund zu werden, weil er ihn nicht mehr beneidete; die andre, daß er wieder anfangen mußte, mehr wie jemals die schwersten und niedrigsten Arbeiten zu verrichten, wobei er immer in der Werkstatt bleiben mußte und nur selten zu Herrn Lobenstein in die Stube kommen durfte. Der Klaviermeister wurde nur noch deswegen beibehalten, weil Lobenstein das angefangne Werk der Bekehrung in ihm vollenden und also statt einer verlornen Seele Gott wieder eine andre zuführen wollte.
Der Winter kam heran, und jetzt fing Antons Zustand wirklich an, hart zu werden: er mußte Arbeiten verrichten, die seine Jahre und Kräfte weit überstiegen. Lobenstein schien zu glauben, da nun mit Antons Seele doch weiter nichts anzufangen sei, so müsse man wenigstens von seinem Körper allen möglichen Gebrauch machen. Er schien ihn jetzt wie ein Werkzeug zu betrachten, das man wegwirft, wenn man es gebraucht hat.
Bald wurden Antons Hände durch den Frost und die Arbeit zum Klavierspielen gänzlich untauglich gemacht. – Er mußte fast alle Woche ein paarmal des Nachts mit dem andern Lehrburschen aufbleiben, um die geschwärzten Hüte aus dem siedenden Färbekessel herauszuholen und sie dann unmittelbar darauf in der vorbeifließenden Oker zu waschen, wo zu dem Ende erst eine Öffnung in das Eis mußte gehauen werden. Dieser oft wiederholte Übergang von der Hitze zum Frost machte, daß Anton beide Hände aufsprangen und das Blut ihm heraussprützte.
Allein statt dieses ihn hätte niederschlagen sollen, erhob es vielmehr seinen Mut. Er blickte mit einer Art von Stolz auf seine Hände und betrachtete die blutigen Merkmale daran als so viel Ehrenzeichen von seiner Arbeit; und solange diese harten Arbeiten noch für ihn den Reiz der Neuheit hatten, machten sie ihm ein gewisses Vergnügen, das vorzüglich im Gefühl seiner körperlichen Kräfte bestand; zugleich gewährten sie ihm eine Art von süßem Freiheitsgefühl, das er bisher noch nicht gekannt hatte.
Es war ihm, als wenn er nun auch sich selbst etwas mehr nachsehen könne, nachdem er ebenso wie die andern gearbeitet und des Tages Last und Hitze wie sie getragen hatte. Unter den beschwerlichsten Arbeiten empfand er eine Art von innerer Wertschätzung, die ihm die Anstrengung seiner Kräfte verschaffte; und oft würde er diesen Zustand kaum gegen die peinliche Lage wieder vertauscht haben, worin er sich beim Genuß der strengen und alle Freiheit vernichtenden Freundschaft Lobensteins befand.
Dieser aber fing jetzt an, ihn immer härter zu drücken: oft mußte er in der bittersten Kälte den ganzen Tag über in einer ungeheizten Stube Wolle kratzen. Dies war ein klüglich ausgesonnenes Mittel des Herrn Lobenstein, um Antons Arbeitsamkeit zu vermehren: denn wenn er nicht vor Kälte umkommen wollte, so mußte er sich rühren, soviel nur in seinen Kräften stand, daß ihm Abends oft beide Arme wie gelähmt und doch Hände und Füße erfroren waren.