Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Wenn er nun allein auf seiner Stube war, so befand er sich so weit recht wohl, aber zu dem Rektor konnte er noch kein Zutrauen fassen. Wenn er ihn gleich im Schlafrock und in der Nachtmütze sahe, so schien doch immer ein Nimbus von Ernst und Würde sich um ihn her zu verbreiten, der Reisern in großer Entfernung von ihm hielt – er mußte ihm seine Bibliothek in Ordnung bringen helfen; wenn er denn zuweilen so dicht bei ihm stand, indem er ihm Bücher zureichte, daß er seinen Atem hören konnte, so fühlte er oft einige anschließende Kraft in sich – aber in dem folgenden Augenblick war die Schüchternheit und Verlegenheit wieder da. – Demohngeachtet liebte er den Rektor – und sein mit romanhaften Ideen angefüllter Kopf ließ ihn manchmal den Wunsch tun, daß er doch mit dem Rektor auf irgendeine unbewohnte Insel versetzt werden möchte, wo sie durch das Schicksal gleichgemacht auf einen freundschaftlichen und vertrauten Fuß umgehen könnten.

Der Rektor tat alles, um Reisern Mut und Zutrauen einzuflößen; er ließ ihn verschiedne Mal mit sich allein an seinem Tische speisen und unterredete sich mit ihn. – Reiser hatte damals schon Schriftstellerprojekte: er wollte die alte Acerra philologika in einen bessern Stil bringen, und der Rektor war so gütig, ihn zu ermuntern, daß er immer dergleichen Projekte für die Zukunft nähren und sich mit dergleichen Ausarbeitungen beschäftigen solle.

Wenn nun Reiser über so etwas mit dem Rektor sprach, so fehlte es ihm immer an den rechten Ausdrücken, deren er sich bedienen sollte, welches seine Perioden sehr unterbrochen machte. – Denn er schwieg lieber, ehe er das unrechte Wort zu dem Gedanken wählte, den er ausdrücken wollte. – Der Rektor half ihm dann mit vieler Nachsicht zurecht. – Er ließ ihn auch zuweilen des Abends zu sich auf die Stube kommen und sich von ihm vorlesen. –

Reiser erdreistete sich denn auch manchmal, Fragen an ihn zu tun: in wiefern z. B. ein Stuhl ein Individuum zu nennen sei, da man ihn doch immer noch wieder teilen könne, welcher Zweifel ihm bei der Logik, die er vom Direktor hörte, aufgefallen war – und der Rektor löste ihm sehr herablassend seinen Zweifel auf und lobte ihn dabei wegen seines Nachdenkens über dergleichen Gegenstände; ja, er scherzte zuweilen gar mit ihm, und wenn er ihm den Auftrag gab, irgendein Buch oder sonst etwas zu holen, so tat er dies nie in einem befehlenden Tone, sondern bittweise. – So war nun alles soweit recht gut – aber das Blattumschlagen schien nun einmal für Reisern eine unglückliche Sache zu sein – er mußte einmal für den Rektor geheftete Bücher aufschneiden und machte das so ungeschickt, daß er mit dem Federmesser tiefe Einschnitte in die Blätter machte, wodurch ein paar Bücher fast ganz verdorben wurden. – Der Rektor wurde darüber sehr böse und machte ihm den bittern Vorwurf, als ob er aus Bosheit die Einschnitte in die Blätter gemacht habe, um von der Arbeit frei zu sein. – Das war nun freilich nicht der Fall – der Vorwurf schmerzte Reisern und trug viel dazu bei, seinen allmählich wachsenden Mut wieder niederzuschlagen.

Indes erholte er sich doch noch einmal wieder, da ihn der Rektor auf einer kleinen Reise nach einer benachbarten katholischen Stadt mitnahm, um die Feier des Fronleichnamsfestes mit anzusehen. – Der Rektor, der Konrektor, der Kantor und ein paar Kandidaten der Theologie fuhren auf einem Wagen mit Extrapost, wo Reiser auch ein Plätzchen erhielt. – Nun hörte er diese ehrwürdigen Männer, die durch das Aneinanderschließen, welches gemeiniglich bei einer kleinen Reisegesellschaft stattzufinden pflegt, vertraulich gemacht waren, sehr lebhaft miteinander scherzen; und dies tat eine ganz besondere Wirkung auf Reisern. – Der Nimbus um ihre Köpfe verschwand allmählich, und er sahe an ihnen zum ersten Male Menschen, wie andre Menschen sind. – Denn noch nie hatte er eine Gesellschaft von Schwarzröcken zusammengesehen, die sich ohne Zwang miteinander besprachen und alle das steife, zeremonienmäßige Wesen, das ihnen sonst von ihrem Stande anklebt, auf eine Zeitlang gegeneinander ablegten. Nur der gute Kantor behielt immer ein gewisses steifes Wesen bei, und da unterwegs eine große Menge Bettler, die geistliche Lieder absangen, dem Wagen entgegenkamen, schraubte man den Kantor mit diesem Auftritt, indem man ihn wegen dieser schrecklichen Disharmonien, wodurch sein Gehör ganz erschüttert wurde, herzlich bedauerte. – Es war zum ersten Male, daß Reiser sahe, wie sich solche ehrwürdige Männer auch ebenso wie andre Leute untereinander schrauben könnten. Und diese Erfahrung, die er machte, war ihm sehr nützlich, indem er nun jeden Priester, den er sonst noch immer gewissermaßen als eine Art von übermenschlichem Wesen betrachtete, sich etwa in den Zirkel einer solchen Reisegesellschaft dachte und ihn denn in seiner Vorstellung von dem Nimbus, der ihn vorher umgab, mit leichter Mühe entblößte.

Allein er fühlte es demohngeachtet wieder lebhaft, welch ein unbedeutendes Wesen er in dieser Gesellschaft war; und da man alle Merkwürdigkeiten der Klöster und andre Sachen in der katholischen Stadt besahe, wozu noch eine Anzahl zum Teil auch fremder Personen sich gesellte, so fühlte er, wie es sich immer von selbst verstand, daß er bei allem der letzte war, und daß er dies noch als eine große Ehre ansehen mußte, die ihm widerfuhr – dieser Gedanke machte, daß er sich in der Gesellschaft verlegen, albern und dumm betrug, und dies verlegene und alberne Betragen fühlte er auch wieder selbst weit stärker, als es vielleicht irgend jemand außer ihm bemerken mochte; darum war er die Zeit über, in welcher er so viel Neues zu hören und zu sehen bekam, nichts weniger als glücklich und wünschte sich wieder auf sein einsames Stübchen mit der Bank und dem alten Klaviere und dem Bücherbrett, das über dem Bett am Nagel hing.

Was aber nun vorzüglich anfing, ihm sein Schicksal zu verbittern, war eine neue unverdiente Demütigung, wozu seine gegenwärtige Lage, die er doch wiederum nicht ändern konnte, die Veranlassung gab.

Als er nämlich die ersten Male Prima besuchte, so hörte er schon zuweilen hinter sich zischeln: Sieh, das ist des Rektors Famulus! Eine Benennung, mit welcher Reiser den allerniedrigsten Begriff verband; denn er wußte von den Verhältnissen eines Famulus auf der Universität noch nichts. Ihm bezeichnete Famulus womöglich noch weniger als einen Bedienten, der seinem Herren die Schuh putzt. – Dabei deuchte es ihm, als ob er allgemein von seinen Mitschülern mit einer Art von Verachtung betrachtet würde. – Dann dachte er sich in seinem kurzen Rocke, womit er sich immer selbst in einer lächerlichen Gestalt erschien. – In Sekunda war er ohngeachtet seiner schlechten Kleidung von seinen Mitschülern noch geachtet worden, wegen der hohen Meinung, die man davon hatte, daß ihn der Prinz studieren ließ. In Prima wußte man dies zwar auch zum Teil, aber die Idee, daß er beim Rektor Famulus war, schien ihn in aller Augen herabzusetzen. – Nun kam in Prima außerordentlich viel auf den Platz an, wo man saß: höhere Plätze konnten nur durch langen fortgesetzten Fleiß erlangt werden. Gemeiniglich rückte man alle halbe Jahre nur eine Bank in die Höhe. – Die ersten vier Bänke machten den untern und die letztern drei den obern Zötus aus. – Wer nun bei den halbjährigen Versetzungen zurückblieb, für den war dies eine der größten Erniedrigungen.

Nun hatte Reiser gleich am dritten Morgen, während daß ein Primaner von dem untern Katheder ein geschriebnes Gebet ablas, da ihm sein Nachbar etwas sagte, eine lächelnde Miene gemacht, und da er sahe, daß er vom Direktor bemerkt wurde, diese Miene plötzlich in eine ernsthafte zu verwandeln gesucht. – Und der Eindruck, welcher noch von dem Blattumschlagen in seiner Seele zurückgeblieben war, machte, daß diese plötzliche Veränderung seiner Miene nicht im mindesten auf eine edle, sondern vielmehr höchst mißtrauische, gemeine und sklavische Furcht verratende Art geschahe, woraus der Direktor mit einem Blick des Zorns und der Verachtung, den er währendem Gebet auf Reisern warf, seine niedrige, gemeine Denkungsart zu schließen schien. – Ein solcher Blick vom Direktor war schon etwas, das allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen pflegte. – Da nun aber das Gebet vorbei war, so sagte er Reisern ein paar Worte über das Niederträchtige in seiner Miene, welche diesen auf einmal der Verachtung der ganzen Klasse aussetzten, der die Aussprüche des Direktors Orakel waren.

Reiser getraute sich von nun an nicht mehr, seine Augen zu dem Direktor aufzuschlagen, und mußte sich in den Stunden desselben wie ein Wesen betrachten, auf das nicht die mindeste Rücksicht genommen ward: denn der Direktor rief ihn niemals auf. – Ein paar junge Leute, die nach Reisern in Prima kamen, wurden über ihn gesetzt, und er mußte verschiedene Monate lang der letzte von allen bleiben. – Der junge Rehberg, ein vorzüglicher Kopf, der sich nachher als Maler berühmt gemacht hat, saß neben Reisern und schien sich an ihn schließen zu wollen; allein ein Blick des Direktors, womit derselbe ihn ansahe, da er einmal mit Reisern sprach, dämpfte jeden Funken von Achtung, den er gegen Reisern zu haben schien, und machte sein Herz von ihm abgewandt. – Das Betragen des Direktors gegen Reisern war eine Folge von dessen schüchternen und mißtrauischen Wesen, das eine niedrige Seele zu verraten schien; allein der Direktor erwog nicht, daß eben dies schüchterne und mißtrauische Wesen wieder eine Folge von seinem ersten Betragen gegen Reisern war.

Dieser war nun einmal in der Achtung seiner Mitschüler gesunken, und jeder nahm sich jetzt heraus, zum Ritter an ihm zu werden, jeder wollte seinen Witz an ihm üben, und nahm er es gleich mit einem auf, so waren wieder zwanzig andre, die miteinander wetteiferten, ihn zum Ziel ihres Spottes zu machen; selbst seine Bravour, wenn er sich zuweilen mit denen, die es zu arg machten, schlug, wodurch jeder andre sich vielleicht wieder in Achtung gesetzt hätte, wurde lächerlich gemacht. – Man zischelte sich nicht mehr in die Ohren: Seht da, des Rektors Famulus! sondern sobald er des Morgens hereintrat, hieß es: Da kömmt der Famulus! und diese Ehrenbenennung schallete ihm aus allen Ecken entgegen. – Es war, als ob sich alles verschworen hätte, sich auf ihn zu setzen und ihn lächerlich zu machen. –

Dieser Zustand wurde ihm eine Hölle – er heulte, tobte und geriet in eine Art von Raserei darüber, und auch dies wurde lächerlich gemacht. – Zuletzt trat denn zuweilen eine Art von Dumpfheit der Empfindung an die Stelle seines bis zur Wut und Raserei beleidigten Stolzes – er hörte und sahe nicht mehr, was um ihn her vorging, und ließ alles mit sich machen, was man wollte, so daß er in dem Zustande ein würdiger Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu sein schien.

Was Wunder, wenn er am Ende durch diese fortgesetzte Behandlung würklich niederträchtig gesinnt geworden wäre? – Aber er fühlte noch immer Kraft genug in sich, in gewissen Stunden sich ganz aus seiner wirklichen Welt zu versetzen. – Das war es, was ihn aufrecht erhielt. – Wenn seine Seele durch tausend Demütigungen in seiner wirklichen Welt erniedrigt war, so übte er sich wieder in den edlen Gesinnungen der Großmut, Entschlossenheit, Uneigennützigkeit und Standhaftigkeit, sooft er irgendeinen Roman oder heroisches Drama durchlas oder durchdachte. – Oft träumte er sich auf diese Weise über allen Kummer der Erde hinaus, in heitre Szenen hin, wenn er vom Frost erstarrt im Chore sang, und verphantasierte so manche Stunde, wo denn gewisse Melodien, die er hörte und mitsang, seinen Traum oft fortpflanzen halfen. – Nichts klang ihm z. B. rührender und erhabener, als wenn der Präfektus anhub zu singen:

     Hylo schöne Sonne
     Deiner Strahlen Wonne
     In den tiefen Flor –

Das Hylo allein schon versetzte ihn in höhere Regionen und gab seiner Einbildungskraft allemal einen außerordentlichen Schwung, weil er es für irgendeinen orientalischen Ausdruck hielt, den er nicht verstand und eben deswegen einen so erhabnen Sinn, als er nur wollte, hineinlegen konnte: bis er einmal den geschriebenen Text unter den Noten sahe und fand, daß es hieß:

Hüll, o schöne Sonne, usw.

Diese Worte sang der Präfektus nach seiner thüringischen Mundart immer: Hylo schöne Sonne. – Und nun war auf einmal das ganze Zauberwerk verschwunden, welches Reisern so manchen frohen Augenblick gemacht hatte. – Ebenso war es ihm immer sehr rührend, wenn gesungen wurde: ›Du verdeckest sie in den Hütten‹ oder: ›lieg ich nur in deiner Hut, o so schlaf ich sanft und gut.‹ –

Er wiegte sich oft so sehr in die süßen Empfindungen von dem Schutz eines höhern Wesens ein, daß er Regen und Frost und Schnee vergaß und sich in der ihn umgebenden Luft wie in einem Bette sanft zu ruhen schien.

Allein von außen her schien sich alles zu vereinigen, um ihn zu demütigen und niederzubeugen.

Da es Sommer wurde, verreiste der Rektor auf einige Wochen, und er blieb nun während der Zeit allein in dessen Hause zurück, wo er die Zeit zu Hause ziemlich vergnügt zubrachte, indem er sich aus der Bibliothek des Rektors einiger Bücher zum Lesen bediente und unter andern auf Moses Mendelsohns Schriften und die Literaturbriefe verfiel, woraus er sich damals zuerst Exzerpte machte. –

Insbesondre zog er sich alles aus, was das Theater anging, denn diese Idee war jetzt schon die herrschende in seinem Kopfe und gleichsam schon der Keim zu allen seinen künftigen Widerwärtigkeiten.

Durch das Deklamieren in Sekunda war sie zuerst lebhaft in ihm erwacht und hatte die Phantasie des Predigens allmählich aus seinem Kopf verdrängt – der Dialog auf dem Theater bekam mehr Reize für ihn als der immerwährende Monolog auf der Kanzel. – Und dann konnte er auf dem Theater alles sein, wozu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte – und was er doch so oft zu sein wünschte – großmütig, wohltätig, edel, standhaft, über alles Demütigende und Erniedrigende erhaben – wie schmachtete er, diese Empfindungen, die ihm so natürlich zu sein schienen und die er doch stets entbehren mußte, nun einmal durch ein kurzes, täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen. –

Das war es ohngefähr, was ihm die Idee vom Theater schon damals so reizend machte. – Er fand sich hier gleichsam mit allen seinen Empfindungen und Gesinnungen wieder, welche in die wirkliche Welt nicht paßten. – Das Theater deuchte ihm eine natürlichere und angemeßnere Welt als die wirkliche Welt, die ihn umgab.

Nun kamen die Sommerferien heran, und die Primaner führten, wie sie alle Jahr zu tun pflegten, öffentlich verschiedene Komödien auf. – Reiser konnte bei der allgemeinen Verachtung, der er als ein sogenannter Famulus des Rektors ausgesetzt war, sich nicht die mindeste Hoffnung machen, eine Rolle zu erhalten; ja, er konnte nicht einmal von irgendeinem der Mitschüler ein Billett erhalten, um zuzusehn. Dies schlug ihn mehr als alles Bisherige nieder – bis er auf den Einfall kam, mit zwei bis dreien seiner Mitschüler, welche auch keine Rollen hatten, gleichsam eine Partie der Mißvergnügten auszumachen und auf deren Wohnstube bei einer kleinen Anzahl Zuschauer eine Komödie besonders aufzuführen. –

Hiezu wurde denn Philotas gewählt, wo Reiser einem andren, der die Rolle des Philotas schlecht machte, sie mit Geld abkaufte und also nun den Philotas spielte.

Nun war er in seinem Elemente. – Er konnte einen ganzen Abend lang großmütig, standhaft und edel sein – die Stunden, wo er sich zu dieser Rolle übte, und der Abend, wo er sie spielte, waren von den seligsten seines Lebens – obgleich das Theater nur ein schlechtes Zimmer mit weißen Wänden und das Parterre eine Kammer war, die daran stieß, und wo man statt der ausgehobenen Türe eine wollene Decke angebracht hatte, die zum Vorhang dienen mußte; und obgleich das ganze Auditorium nur aus dem Wirt des Hauses, der ein Töpfer war, nebst dessen Frau und seinen Gesellen bestand und die ganze Erleuchtung nur mit Pfenniglichtern bewerkstelligt wurde, die auf kleinen an die Wand geklebten Stücken von nassen Leimen brannten. –

Zum Nachspiel wurde aus Millers historisch-moralischen Schilderungen der sterbende Sokrates gegeben, worin Reiser nur einen Freund des Sokrates und der eine von seinen Mitschülern, namens G..., den sterbenden Sokrates selbst machte, welcher denn ordentlich den Giftbecher leerte und zuletzt unter Zuckungen auf einem Bette, das in die Stube gesetzt war, verschied. –

Dies letzte Nachspiel war es nun, was Reisern nachher fast seine ganzen Schuljahre verbittert hat. –

Die andern Primaner hatten nämlich erfahren, daß außer der ihrigen von denen, welchen sie keine Rollen gegeben hatten, noch besonders eine Komödie aufgeführt worden sei – sie sahen dies als einen Eingriff in ihre Rechte an, und als ob es gleichsam aus Trotz und Verachtung geschehen sei. –

Sie suchten sich für diese unverzeihliche Beleidigung, wofür sie es hielten, auf alle Weise zu rächen, und von der Zeit an durfte von den vieren, welche den Philotas und den sterbenden Sokrates aufgeführt hatten, keiner des Abends sicher auf der Straße gehen. – Diese viere waren von der Zeit an ein Gegenstand des Hasses, der Verachtung und des Spottes, welcher Reisern gerade am meisten traf; denn die andern besuchten die Schulstunden selten. – Gegen Reisern hatte man schon vorher nichts als Verachtung bezeigt, die außer einer Art von unerklärbarer allgemeiner Antipathie gegen ihn ihren Grund vorzüglich in seiner erniedrigenden oder wenigstens für erniedrigend gehaltenen Situation, seiner blöden Miene und seinem kurzen Rock haben mochte; zu dieser Verachtung gesellte sich nun jetzt noch eine allgemeine Erbitterung gegen ihn, welche den Spott, womit man ihn überhäufte, so beißend wie möglich zu machen suchte. –

Und ob nun gleich nicht er, sondern G... die Rolle des sterbenden Sokrates in dem Nachspiel gemacht hatte, so hieß er doch von nun an mit einem allgemeinen Spottnamen ›der sterbende Sokrates‹ und verlor diesen beinahe nicht eher, bis diese ganze Generation nach und nach die Schule verlassen hatte; noch ein Jahr vorher, ehe er selbst die Schule verließ, war er eine lange Zeit kränklich gewesen und gar nicht aus dem Hause gekommen; als er nun wieder einer Komödie zusehen wollte, welche die Primaner damals aufführten, ließ man ihn zwar herein, aber man sahe ihn mit einem verächtlichen, höhnischen Blick an und sagte: Da ist der sterbende Sokrates, so daß Reiser gleich umkehrte und traurig wieder zu Hause ging. –

Sonst pflegt doch immer bei den Menschen eine gewisse Gutmütigkeit zu herrschen, daß sie nur denjenigen zum Gegenstande ihres Spottes machen, der gewissermaßen unempfindlich dagegen ist; sehen sie hingegen, daß einer durch den Spott wirklich beleidigt und gekränkt wird, so treiben sie's wenigstens nicht unaufhörlich, sondern das Mitleid gewinnt doch endlich über die Spottsucht die Oberhand.

Aber das war bei Reisern der Fall nicht – seine Gestalt verfiel von Tage zu Tage, er wankte nur noch wie ein Schatten umher; es war ihm beinahe alles gleichgültig; sein Mut war gelähmt – wo er konnte, suchte er die Einsamkeit – aber das alles erweckte auch kein Fünkchen Mitleid gegen ihn. – So sehr waren aller Gemüter mit Haß und Verachtung gegen ihn erfüllt. –

Außer ihm war noch ein gewisser T... ein Gegenstand des Spottes, der zum Teil durch seine stotternde Sprache Veranlassung dazu gab. – Dieser aber schüttete den Spott ab, wie das Tier mit der unempfindlichen Haut die Schläge. – Indem man seiner spottete, so rechtfertigte man sich selbst damit, daß ihn der Spott nicht kränkte. – Bei Reisern nahm man darauf keine Rücksicht. – Dies erbitterte endlich sein Herz und machte ihn zum offenbaren Menschenfeinde.

Wo sollte nun wohl bei ihm ein rühmlicher Wetteifer, Fleiß und Lust zum eigentlichen Studieren herkommen? – Er wurde ja ganz aus der Reihe herausgedrängt – er stand einsam und verlassen da – und suchte nur das, wodurch er sich immer noch mehr absondern und in sich selbst zurückziehen konnte; alles, was er für sich allein auf der Stube arbeitete, las und dachte, machte ihm Vergnügen, aber zu allem, was er in den Schulstunden mit andern gemeinschaftlich arbeiten sollte, war er träge und verdrossen; es war ihm immer, als ob er gar nicht dazu gehörte. –

Das war nun die schöne Erfüllung seiner Träume von langen Reihen von Bänken, auf denen die Schüler der Weisheit saßen, unter deren Zahl er sich mit Entzücken dachte, und mit denen er einst um den Preis zu wetteifern hoffte. –

Der Rektor, bei dem er wohnte, kam nun auch von seiner Reise wieder zurück und hatte seine Mutter mitgebracht, die seine Wirtschaft auf das genaueste einzurichten suchte. – Es wurde Winter, und man dachte nicht daran, Reisers Stube zu heizen – er stand erst die bitterste Kälte aus und glaubte, man würde doch endlich auch an ihn denken – bis er hörte, daß er sich bei Tage in der Gesindestube mit aufhalten sollte. –

Nun fing er an, sich um seine äußern Verhältnisse gar nicht mehr zu bekümmern. – Von seinen Lehrern sowohl als von seinen Mitschülern verachtet und hintangesetzt – und wegen seines immerwährenden Mißmuts und menschenscheuen Wesens bei niemand beliebt, gab er sich gleichsam selber in Rücksicht der menschlichen Gesellschaft auf – und suchte sich nun vollends ganz in sich zurückzuziehen.

Er ging zu einem Antiquarius und holte sich einen Roman, eine Komödie nach der andern und fing nun mit einer Art von Wut an zu lesen. – Alles Geld, was er sich vom Munde absparen konnte, wandte er an, um Bücher zum Lesen dafür zu leihen; und da nach einiger Zeit der Antiquarius ihn kennen lernte und ihm ohne jedesmalige bare Bezahlung Bücher zum Lesen liehe, so hatte sich Reiser, ehe er es merkte, tief in Schulden hineingelesen, die, so klein sie sein mochten, damals für ihn unerschwinglich waren.

Er suchte diese Schuld zum Teil durch den Verkauf seiner angeschafften Schulbücher zu tilgen, die ihm der Antiquarius für ein Spottgeld abnahm – und ihm dafür aufs neue Bücher zum Lesen lieh, bis er wieder in neue Schulden geriet und denn wieder ängstlich auf Tilgung derselben denken mußte.

Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen. – Wenn es ihm an einem Buche fehlte, so hätte er seinen Rock gegen den Kittel eines Bettlers vertauscht, um nur eins zu bekommen. – Diese Begierde wußte der Antiquarius wohl zu nutzen, der ihm nach und nach alle seine Bücher ablockte und sie oft in seiner Gegenwart sechsmal so teuer wieder verkaufte, als er sie ihm abgekauft hatte.

Es war unter diesen Umständen keinem zu verdenken, der Reisern für einen lüderlichen aus der Art geschlagnen jungen Menschen hielt, welcher seine Schulbücher verkaufte, statt seine Kenntnisse zu vermehren und den Unterricht seiner Lehrer zu nutzen, nichts als Romane und Komödien las – und dabei sein Äußeres ganz vernachlässigte; denn es war sehr natürlich, daß Reiser keine Lust zu seinem Körper hatte, da er doch niemanden in der Welt gefiel – und dann wurde auch alle das Geld, was die Wäscherin und der Schneider hätten bekommen sollen, dem Bücherantiquarius hingebracht – denn das Bedürfnis zu lesen ging bei ihm Essen und Trinken und Kleidung vor, wie er denn wirklich eines Abends den Ugolino las, nachdem er den ganzen Tag nicht das mindeste genossen hatte, denn seinen Freitisch hatte er über dem Lesen versäumt und für das Geld, was zum Abendbrot bestimmt war, hatte er sich den Ugolino geliehen und ein Licht gekauft, bei welchem er in seiner kalten Stube in eine wollene Decke eingehüllt die halbe Nacht aufsaß und die Hungerszenen recht lebhaft mitempfinden konnte.

Indes waren diese Stunden noch die glücklichsten, welche er gleichsam aus dem Gewirre der übrigen herausriß – seine Denkkraft war vollkommen wie berauscht – er vergaß sich und die Welt. –

Er las auf die Weise nach der Reihe die zwölf oder vierzehn Bände durch, welche damals vom deutschen Theater heraus waren, und weil er Yoriks empfindsame Reisen mit großem Vergnügen zwei- bis dreimal durchgelesen hatte, so lieh er sich auch von dem Antiquarius die empfindsamen Reisen durch Deutschland von Schummel. –

Nun hatte er damals schon angefangen, sich die Titel der Bücher, welche er gelesen hatte, in einem dazu bestimmten Buche niederzuschreiben und sein Urteil dabei zu setzen, das mehrmalen ziemlich richtig ausfiel; wie er denn z. B. bei die empfindsamen Reisen durch Deutschland von Schummel das Urteil schrieb: ein exercitium extemporaneum, weil der Verfasser selbst gestand, daß er alle die verschiedenen Sachen in diesem dicken Buche bloß zusammengeschrieben habe, damit man urteilen solle, zu welchem Fach in der Schriftstellerei er sich wohl am besten schicken würde. – Der Verfasser dieser empfindsamen Reisen hat nachher dies exercitium extemporaneum durch seinen Spitzbart hinlänglich wieder gutgemacht.

Aber nicht leicht hat Reisern bei irgendeinem Buche die Zeit, welche er auf das Lesen desselben gewandt hatte, mehr gereut als bei diesen empfindsamen Reisen. –

So lernte er nun von selbst allmählich das Mittelmäßige und Schlechte von dem Guten immer besser unterscheiden. –

Bei allem aber, was er las, war und blieb nun die Idee vom Theater immer bei ihm die herrschende – in der dramatischen Welt lebte und webte er – da vergoß er oft Tränen, indem er las, und ließ sich wechselsweise bald in heftige, tobende Leidenschaft des Zorns, der Wut und der Rache und bald wieder in die sanften Empfindungen des großmütigen Verzeihens, des obsiegenden Wohlwollens und des überströmenden Mitleids versetzen. –

Seine ganze äußere Lage und seine Verhältnisse in der wirklichen Welt waren ihm so verhaßt, daß er die Augen davor zuzuschließen suchte. – Der Rektor rief ihn im Hause bei seinem Namen, wie man einen Bedienten ruft; und einmal mußte er einen seiner Mitschüler, der ein Sohn eines Freundes vom Rektor war, bei demselben zum Essen bitten; und während daß dieser des Abends bei dem Rektor speiste, mußte Reiser Wein holen und in der Gesindestube sein, die gleich neben der Stube war, wo gespeist wurde, und wo er hören konnte, wie sein Mitschüler sich mit dem Rektor unterhielt, während daß er bei der Magd in der Stube saß.

Der Rektor gab verschiedene Privatstunden – wenn er nun etwa eine davon nicht halten konnte, so mußte Reiser bei seinen Mitschülern, mit denen er doch auch an diesem Unterricht teilnahm, herumgehen und ihnen die Privatstunde absagen, welches den Übermut derselben gegen ihn noch vermehrte.

Diese Zurücksetzung hatte ihren guten Grund in seinem Betragen – er war unteilnehmend an allem, was außer ihm vorging, und zu jedem Geschäft, was ihn aus seiner Ideenwelt herauszog, träge und verdrossen. – Was Wunder, da er an nichts teilnahm, daß man auch wieder an ihm nicht teilnahm, sondern ihn verachtete, hintansetzte und vergaß?

Allein man erwog nicht, daß eben dies Betragen, weswegen man ihn zurücksetzte, selbst eine Folge von vorhergegangner Zurücksetzung war. – Diese Zurücksetzung, welche in einer Reihe von zufälligen Umständen gegründet war, hatte den Anfang zu seinem Betragen und nicht sein Betragen, wie man glaubte, den Anfang zur Zurücksetzung gemacht.

Möchte dies alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer und in ihren Urteilen über die Entwicklung der Charaktere junger Leute behutsamer machen, daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten, ehe sie es wagten, durch ihr Urteil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte, um ihn plötzlich umzuschaffen, weil nicht die Grundlage seines Charakters, sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen schuld war.

Anton Reisers Schicksal schien es nun einmal zu sein, Wohltaten zu seiner Qual zu empfangen. – Es war Wohltat, daß er ein Jahr lang bei der Frau Filter im Hause war, und in welcher peinlichen und drückenden Lage brachte er dieses Jahr zu! – Es war Wohltat, daß er bei dem Rektor im Hause war, nur was für unzählige Demütigungen und Verachtung von seinen Mitschülern zog ihm dieser ihm so reizend geschilderte Aufenthalt zu!

Dem äußern Anschein nach konnte nun auch von Reisern niemand als schlecht urteilen – und der Rektor sagte selbst zum Pastor Marquard, es würde höchstens einmal ein Dorfschulmeister aus ihm werden. – Dies hielt der Pastor Marquard nachher Reisern wieder vor, und sein Mut wurde durch dies Urteil des Rektors über ihn, dem er damals noch nicht viel Selbstgefühl entgegensetzen konnte, noch mehr niedergeschlagen.

Weil nun der Rektor sicher zu glauben schien, daß aus Reisern doch nie etwas würde, so brauchte er ihn indes, wozu er noch zu brauchen war, nämlich zu allerlei kleinen Diensten, die er ihn in und außer dem Hause verrichten ließ – und Reiser wurde nun im Grunde völlig wie ein Domestik betrachtet, ob er gleich ein Primaner hieß.

Einmal genoß er denn doch noch die Vorrechte eines Primaners, da er von dem Chorgelde, das er erhielt, seinen Teil zum Neujahrgeschenke für den Rektor mit hergab und auch dem Aufzuge mit Fackeln beiwohnte, da dem Direktor und dem Rektor nach hergebrachter Weise zum Neujahr eine Musik gebracht und ein Vivat gerufen wurde. –

Ob er gleich bei diesem Zuge der letzte oder einer der letzen in der Ordnung war, so erhob es doch seinen Mut außerordentlich wieder, da er sich ohngeachtet der vielen Herabwürdigungen und Demütigungen, die er erfahren hatte, doch hier gleichsam wieder in Reihe und Glied mit den übrigen stehen sahe, einen Degen nebst einer Fackel tragen und das Vivat mit rufen durfte.


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