Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Zuweilen fing ihm nun auch sogar das Zärtliche an zu gelingen, wenn es mit einer gewissen sanften Schwermut vergesellschaftet war – so machte er z. B. für jemanden ein Abschiedsgedicht an dessen Geliebte – das sich nach einer bittern Klage über die Trennung schloß:

     Den Abschied? – O ich kann nur weinen –
     Mein Herz ist schwer und tränenvoll –
     Dir müssen heitre Tage scheinen –
     Geliebte – o leb wohl, leb wohl!

Und in seiner Rede an der Königin Geburtstage war folgende Stelle, die ich vorher nicht mit ausgezogen habe, eigentlich diejenige, wobei er am meisten und am wahrsten empfunden hatte:

      – – Sie lächelt – und die Fröhlichen jauchzen –
     Und die Traurigen trocknen vom nassen Auge die Zähre,
     Heitern den trüben Blick auf zur Freud' und lächeln und segnen
     Auch dem Tag entgegen, der ihnen Charlotten zum Trost gab. –

Auch er rechnete sich in Gedanken mit unter diese Zahl der Traurigen, die den trüben Blick zur Freude aufheitern. – Und er fand weit mehr Süßigkeit darin, sich unter der Zahl der Traurigen als unter der Zahl der Fröhlichen zu denken. – Dies war wiederum the joy of grief (die Wonne der Tränen), wohin von Kindheit an sein Herz hing. –

So brachte er nun den Winter ziemlich glücklich zu – aber da nun einmal seine Phantasie so lebhaft angeregt und sein Gemüt durch so viele sich durchkreuzende Wünsche und Hoffnungen bis auf den stärksten Grad in Bewegung gesetzt war, so mußte er notwendig anfangen, das Einförmige in seiner Lage zu empfinden. – Er war in seinem neunzehnten Jahre – fünf Jahre hatte er schon die Schule besucht und wußte noch nicht, wann er die Universität würde beziehen können. – Es fing an, ihm wieder so enge in Hannover zu werden, beinahe wie damals, da ihm die Reise nach Braunschweig zu dem Hutmacher bevorstand. – Alle seine Gedanken fingen allmählich an, ins Weite zu gehn – er träumte sich in eine romanhafte Zukunft hin. –

Und da nun der Frühling herankam, so erwachte auf einmal eine sonderbare Begierde zum Reisen in ihm, die er bis dahin noch nie in dem Grade empfunden hatte. –

Bremen liegt zwölf Meilen von Hannover, und bis an den Ort, wo Reisers Eltern wohnten, war grade die Hälfte Weges bis nach Bremen – und nun von Bremen die Weser hinunter bis nach der See zu fahren – das war das große Projekt, womit sich Reiser schon seit einigen Wochen trug – und seine Einbildungskraft spiegelte ihm Wunderdinge von dieser Reise vor. –

Der Anblick der Weser – der Schiffe – einer Handelsstadt – beschäftigten seine Seele im Wachen und im Traume. – Er ließ sich von einem seiner Mitschüler an dessen Bruder, welcher in Bremen ein Kaufmannsdiener war, einen Brief mitgeben und trat nun mit einem Dukaten in der Tasche seine Reise zu Fuße an. –

Dies war nun die erste sonderbare romanhafte Reise, welche Anton Reiser tat, und von der Zeit fing er eigentlich an, seinen Namen mit der Tat zu führen. –

Er hatte sich zu dieser Reise mit einer Spezialkarte von Niedersachsen – einem tragbaren Tintenfaß – und einem kleinen Buche von weißem Papier versehen, um über seine Reise unterwegs ein ordentliches Journal führen zu können. –

Mit jedem Schritte, den er tat, nachdem er aus den Toren von Hannover war, wuchs gleichsam seine Erwartung und sein Mut – und er war von seiner Reise so begeistert, daß er schon ein paar Meilen von Hannover sich auf einem Hügel an der Landstraße setzte, sein Tintenfaß, das mit einem Stachel versehen war, vor sich in die Erde pflanzte und auf diese Weise halbliegend anfing, in seinem Journal zu schreiben – es fuhren unten einige Kutschen vorbei, und die Leute, denen ein schreibender Mensch auf einem Hügel an der Landstraße freilich ein sonderbarer Anblick sein mußte, lehnten sich weit aus dem Schlage, um ihn zu betrachten – dies beschämte ihn etwas – aber er erholte sich bald wieder von der unangenehmen Wirkung, die dies neugierige Angaffen zuerst auf ihn tat, indem er sich in Ansehung dieser Menschen, die ihn nicht kannten, seine Existenz hinwegdachte – er war für diese Menschen gleichsam tot – darum schloß er auch den Aufsatz, welchen er auf dem Hügel an der Landstraße in sein Taschenbuch schrieb, mit den Worten:

     Was kümmert mich der Leute Tun,
     Wenn ich im Grabe bin?

Und nun setzte er seinen Stab weiter fort, kam am Abend in der Dämmerung vor dem Dorfe, wo seine Eltern wohnten, dicht vorbei, erkundigte sich nach dem nächsten Dorfe, das auf dem Wege nach Bremen zu lag, und da es nur noch eine Viertelmeile weit war, so ging er bis dahin und übernachtete in diesem Dorfe. –

Den andern Tag wanderte er denn über die öde dürre Heide fort und erfragte sich den Weg von einem Dorfe zum andern – konnte aber Bremen nicht erreichen – sondern mußte noch einmal in einem Dorfe, welches das letzte von Bremen war, übernachten – und den dritten Tag erreichte er denn seinen sehnlichsten Wunsch – er erblickte die Türme von Bremen – sahe nun das wirklich vor sich, womit seine Phantasie sich schon so lange beschäftigt hatte. – Er hatte außer Hannover und Braunschweig noch keine beträchtliche Stadt gesehen – und Bremen war ihm schon durch den Klang des Namens so merkwürdig geworden – seine Phantasie hatte der Stadt ein graues schwärzliches Ansehen gegeben – er war nun äußerst begierig, die Stadt inwendig zu betrachten – und wagte es, ohne Paß ins Tor zu gehen, indem er sich auf Befragen, wer er wäre, für einen Einwohner der Stadt, und da man noch genauer fragte, für einen von den Leuten des Prinzipals von dem Kaufmannsdiener ausgab, an den er einen Brief abzugeben hatte, worauf man ihn denn passieren ließ. –

Sobald er nun in der Stadt war, durchwanderte er erst ein paarmal die Straßen, und dann war sein erstes, daß er sich erkundigte, ob nicht etwa einer von den großen Kähnen, die auf der Weser lagen, nach der Mündung schiffen würde, wo noch zu Bremerlehe die hessischen Truppen lagen, die nach Amerika bestimmt waren und damals gerade absegeln sollten. –

Es fügte sich, daß gerade einer von den Kähnen abging, und Reiser begab sich nun zum ersten Male in seinem Leben zu Schiffe – und fuhr noch an demselben Tage bis sechs Meilen jenseit Bremen, wo angelegt und in einem Dorfe übernachtet wurde. –

Diese Schiffahrt, ob es gleich stürmisches und regnigtes Wetter war, machte Reisern unendliches Vergnügen, indem er mit seiner Landkarte in der Hand auf dem Verdeck stand und die Örter an beiden Ufern, deren Namen er nun wußte, die Musterung vor sich vorbeipassieren ließ – er aß und trank mit den Schiffern und kehrte am Abend mit ihnen in die Herberge ein. –

Von da wollte er den andern Morgen mit einem andern Schiffe weiter bis an die Seeküste fahren, er sah schon in Gedanken die ungeheuren Wasserfluten vor sich, und seine Einbildungskraft war gerade bis auf den höchsten Grad gespannt, da ihm plötzlich eine Sache einfiel, die er die ganze Reise über noch nicht reiflich erwogen hatte, ob nämlich auch seine Börse zureichen würde – und wie erschrak er, da er sich von dem Schiffer seine Rechnung machen ließ und, nachdem er sie bezahlt hatte, nur noch wenige Groschen übrig behielt. –

Er getraute sich nun den Abend nicht zu essen, sondern gab Kopfweh vor und ließ sich sogleich sein Bette zeigen – hier machte er fast die halbe Nacht Entwürfe, wie er nun mit Ehren aus diesem Gasthofe kommen sollte, wenn etwa seine Zeche mehr betrüge als die wenigen Groschen, die er noch übrig hatte. –

Da er sich nun am andern Morgen erkundigte, wieviel er bezahlen müsse, so langten zufälligerweise die wenigen Groschen, die er noch hatte, gerade zu, aber er behielt auch nicht einen Heller übrig und befand sich nun achtzehn Meilen von Hannover, zwölf Meilen von dem Ort, wo seine Eltern wohnten, und sechs Meilen von Bremen. – Er gab vor, daß er nun nicht nach der Seeküste mitfahren könne, weil er überlegt habe, daß es ihn doch zu lange aufhalten würde, und so wanderte er nun, froh, daß er noch so mit Ehren davongekommen war, aus seiner nächtlichen Herberge den geraden Weg wieder auf Bremen zu. –

Sein Brief an den Kaufmannsdiener in Bremen war nun noch seine einzige Hoffnung – ohne diesen war er, zwölf Meilen weit bis zu dem Wohnorte seiner Eltern, von aller Welt verlassen. –

Er war noch nüchtern, wie er seine Reise antrat, und mußte sich nun darauf gefaßt machen, den ganzen Tag so zu bleiben. – Der Weg, welcher anfangs längst dem Ufer der Weser hinging, war sandigt und ermüdend – demohngeachtet aber ging er gutes Muts fort, bis er gegen Mittag kam und die Sonnenhitze brennend wurde. –

Hunger, Durst und Müdigkeit überfielen ihn zugleich mit dem Gedanken, daß er hier auf dem öden Felde fremd, ohne Geld und gleichsam von aller Welt verlassen war – er suchte sich einige Brotkrumen aus der Tasche zusammen – und fand bei dieser Gelegenheit noch zwei sogenannte Bremergroten, wovon jeder ohngefähr vier Pfennige beträgt. –

Dies war ihm unter allen Umständen so lieb, als hätte er einen Schatz gefunden; er raffte alle seine übrigen Kräfte zusammen, um bald nach dem nächsten Dorfe zu kommen, wo er sich für den einen Groschen ein wenig Bier geben ließ, das ihm nun eine ganz ungehoffte Erquickung war, denn er hatte sich einmal darauf gefaßt gemacht, die sechs Meilen bis Bremen nüchtern zurückzulegen. –

Der Trunk Bier flößte ihm wieder neuen Mut ein, sowie das Vierpfennigstück, das er doch nun noch in der Tasche hatte. –

Freilich stellte sich auch der Hunger wieder ein, aber er suchte ihn zu überwinden und blieb resigniert. – Ein armer Handwerksbursch gesellte sich unterwegens zu ihm, der in dem Dorfe einkehrte und sich etwas zusammenbettelte. – Und Reisern machte das sonderbare Verhältnis eine Art von Vergnügen, daß dieser arme Handwerksbursch, der ihn vielleicht als einen wohlgekleideten Menschen beneiden mochte, doch jetzt im Grunde reicher war als er. –

Den Nachmittag erreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei. –

Gegen Abend erreichte er Bremen; aber ehe er an die Stadt kam, mußte er sich erst an das jenseitige Ufer der Weser übersetzen lassen, wofür gerade eine Bremergrote bezahlt werden mußte – daß er nun diesen gerade noch gespart hatte, deuchte ihm wiederum ein ordentlicher Glücksfall, weil er sonst die Stadt nicht mehr würde erreicht haben, woran ihm jetzt doch alles lag. –

Mit Sonnenuntergang kam er denn endlich noch an das Stadttor, und weil er ordentlich gekleidet war und das ganze Wesen eines Spazierengehenden annahm, der zuweilen still stehet und sich nach etwas umsieht und dann wieder ein paar Schritte weitergeht – so ließ man ihn ungehindert durchpassieren. –

Er fand sich also auf einmal wieder in dem Bezirk einer volkreichen Stadt, wo ihn aber niemand kannte und er so verlassen und allein, indem er traurig über das Geländer in die Weser hinabsahe, auf der Straße dastand, als wenn er auf einer unbewohnten wüsten Insel gewesen wäre. –

Eine Weile gefiel er sich gewissermaßen in diesem verlaßnen Zustande, der doch so etwas Sonderbares, Romanhaftes hatte. – Da aber das vernünftige Nachdenken über die Phantasie wieder den Sieg erhielt, so war freilich seine erste Sorge, von seinem Briefe an den Kaufmannsdiener Gebrauch zu machen. –

Wie groß war aber sein Erschrecken, da er sich in der Wohnung desselben nach ihm erkundigte und erfuhr, daß er erst den Abend spät zu Hause kommen würde. – Er blieb auf der Straße nicht weit von dem Hause stehen – die Dunkelheit der Nacht brach herein – in einen Gasthof getraute er sich ohne Geld nicht zu gehen – alle seine romanhaften Ideen, die ihm vorher diesen Zustand noch erleichtert hatten, waren verschwunden, er empfand nichts als die grausame Notwendigkeit, diese Nacht, von Hunger und Müdigkeit gequält, mitten in einer volkreichen Stadt unter freiem Himmel zubringen zu müssen. –

Indem er nun melancholisch dastand und sich verlegen nach allen Seiten umsah, kam ein wohlgekleideter Mann dahergegangen, der ihn genau betrachtete und ihn mit mitleidiger Miene fragte, ob er etwa hier fremd sei? – allein er konnte sich nicht überwinden, diesem Manne seinen Zustand zu entdecken – sondern war entschlossen, lieber auf alle Fälle die Nacht unter freiem Himmel zuzubringen, welches er auch würde getan haben, wenn nach so vielen Widerwärtigkeiten sich jetzt nicht wiederum ein glücklicher Umstand für ihn ereignet hätte. – Der Kaufmannsdiener hatte sich nämlich aus der Gesellschaft, worin er sich befand, losgerissen, um zu Hause etwas Notwendiges zu besorgen, und da er hörte, daß jemand einen Brief von seinem Bruder an ihn habe abgeben wollen, der nachher in der Nähe am Wasser spazieren gegangen wäre, so eilte er gleich, um den Überbringer des Briefes, dessen Anschein man ihm beschrieben hatte, womöglich aufzusuchen, und traf auch Reisern, den er gleich erkannte, wirklich an, da dieser schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, die Nacht ein Obdach zu finden. –

Sobald der junge Kaufmann nur die Handschrift seines Bruders erblickte, war er gegen Reisern äußerst freundschaftlich und gefällig und erbot sich sogleich, ihn in einen Gasthof zu führen. – Reiser entdeckte ihm denn seinen wahren Zustand, freilich mit einigen Erdichtungen; – er sei nämlich wider seine Gewohnheit zum Spiel verleitet worden und habe alle seine Barschaft verloren – denn daß er sich mit zu wenigem Gelde zu dieser Reise versehen habe, schämte er sich zu sagen, weil er dadurch noch mehr in der Meinung des jungen Menschen, von dem er jetzt allein Hülfe erwarten konnte, zu verlieren glaubte. –

Aber nun änderte sich auf einmal sein widriges Schicksal – der Kaufmann erbot sich sogleich, ihm so viel vorzustrecken, daß es ihm an nichts fehlen sollte – er führte ihn in einen angesehenen Gasthof, wo Reiser auf seine Empfehlung auf das beste bewirtet wurde und nun den Abend so vergnügt zubrachte, daß ihm alle Beschwerden des Tages vielfältig ersetzt wurden. –

Einige Gläser Wein, die er noch in Gesellschaft des Kaufmannsdieners trank, taten nach der Ermüdung und Entkräftung eines ganzen Tages eine so außerordentliche Wirkung auf seine Lebensgeister, daß er fast die ganze Gesellschaft, die sich alle Abend hier zu versammlen pflegte, mit Anekdoten von Hannover und lustigen Einfällen, die ihm sonst gar nicht gewöhnlich waren, unterhielt und sich den Beifall aller der Personen in diesem kleinen Zirkel erwarb, worunter sich auch derjenige mit befand, der ihn den Abend traurig und verlassen auf der Straße stehen sah und unter allen den vorübergehenden Leuten der einzige gewesen war, dem ein ganz fremder Mensch, welcher traurig und verlassen dastand, wichtig genug schien, daß er sich um ihn bekümmerte und ihn anredete. – Reiser gewann dadurch eine außerordentliche Zuneigung zu diesem Manne, denn ein solches Anreden und Besorgtsein um den Zustand eines ganz fremden Menschen, der wie verlassen und hülfebedürftig zu sein scheint, ist doch eigentlich die allgemeine Menschenliebe, woran man den frommen Samariter von dem vorübergehenden Priester und Leviten unterscheiden kann. –

Reiser hatte nicht leicht in seinem Leben einen Abend vergnügter zugebracht als diesen, wo er sich in einer fremden Stadt in einem ganz fremden Zirkel von Menschen geachtet sahe, ins Gespräch gezogen und mit aufmunterndem Beifall angehört wurde. –

Der Kaufmannsdiener nötigte ihn nun selbst, sich noch einige Tage in Bremen aufzuhalten, zeigte ihm die Merkwürdigkeiten der Stadt, und Reiser fand nun an eben dem Orte, wo er erst fremd, von keinem Menschen bemerkt, einsam und verlassen auf der Straße stand, so viele Menschen, die sich für ihn interessierten, mit ihm sich unterredeten und mit ihm ausgingen, daß er an diese Personen, die ihm so viele zuvorkommende gutmütige Höflichkeit und Freundschaftsbezeigungen erwiesen, eine Art von Anhänglichkeit bekam, welche es ihm schwer machte, sich nach einer so kurzen Zeit schon wieder auf immer von ihnen zu trennen.

Er speiste des Mittags in einer ansehnlichen Tischgesellschaft, wo ihm als einem Fremden immer mit ausgezeichneter Höflichkeit begegnet wurde, – eine Behandlung, die er bis jetzt noch eben nicht gewohnt gewesen war. – Der Kaufmannsdiener streckte ihm so viel vor, daß er nicht nur seine Rechnung im Gasthofe bezahlen, sondern auch mit Bequemlichkeit wieder nach Hannover zurückreisen konnte, welches er nun freilich zu Fuße tat. –

Und da ihm nun diesmal sein unbesonnener Anschlag so gut gelang, so bildete sich zuerst unvermerkt der Keim zu dem Gedanken in ihm, sein Glück nicht länger in seiner bisherigen eingeschränkten Lage abzuwarten, sondern es in der weiten Welt, die ihm offen stand, selbst aufzusuchen. –

Er hatte in einer fremden Stadt eine ganze Anzahl Menschen gefunden, die sich um ihn bekümmerten, teil an ihm nahmen und ihm seinen Aufenthalt angenehm machten; lauter Sachen, die er in Hannover nie gewohnt gewesen war. – Er hatte Abenteuer überstanden und in einem kurzen Zeitraum den schnellsten Glückswechsel erfahren – indem er kaum eine Stunde vorher noch von aller Welt verlassen und unmittelbar darauf sich in einem Zirkel von Menschen befand, die alle auf ihn aufmerksam waren und ihn in ihre Gespräche zogen. –

Was Wunder, daß nun dadurch der Gedanke bei ihm rege wurde, die traurige Einförmigkeit seines bisherigen Aufenthalts und seiner bisherigen Verhältnisse mit dergleichen Abwechselungen zu vertauschen – wodurch er, ohngeachtet aller Beschwerlichkeiten, die er darüber erdulden mußte, doch seine Seele auf eine angenehme, vorher noch nie empfundene Art erschüttert fühlte. –

Selbst die Wehmut, die er empfand, da ihm nun die Tore der Stadt, in welcher er noch gestern mit einer Anzahl ihm wohlwollender Menschen vertraulich an einem Tische gesessen hatte, aus den Augen schwanden und er also nun sogar die letzten hervorragenden Spuren dieses ihm in der kurzen Zeit so liebgewordenen Ortes aus seinem Gesichtskreise verloren hatte – selbst diese Wehmut hatte einen nieempfundenen Reiz für ihn – er kam sich selber größer vor, weil er eigenmächtig ganz ohne irgendeinen äußern Antrieb – nun zum ersten Male eine Reise nach einer ganz fremden Stadt getan hatte, in der er binnen ein paar Tagen mehr Menschen fand, die ihm wohlwollten, als er in Hannover ganze Jahre hindurch nicht hatte finden können. –

Das Wandern fing ihm an, so lieb zu werden – er phantasierte sich durch tausend angenehme Vorstellungen die Ermüdung hinweg – wenn es dunkel wurde, so betrachtete er den vor ihm sich hinschlängelnden Weg, auf den er beständig sein Augenmerk heften mußte, gleichsam wie einen treuen Freund, der ihn leitete. – Dies wurde ihm denn zuletzt eine dichterische Idee – es wurde Bild, Vergleichung, woran er tausend Dinge kettete. – ›Wie sich ein Wandrer an seinen Weg hält; so getreu wie der Weg dem Wandrer – so – und so –‹. Dies Ideenspiel verfolgte er im Gehen – und das Einförmige der Gegend bei der umgebenden Dunkelheit und des immerwährenden Fußaufhebens verschwand ihm unmerklich und machte ihn nicht verdrießlich. –

Es war schon ganz dunkel, da er zu seinen Eltern kam, die sich freilich wunderten, daß er dicht vor ihnen vorbeigegangen, erst nach Bremen gereist und dann zu ihnen gekommen war. – Demohngeachtet aber nahmen ihn seine Eltern wegen der vielen angenehmen Nachrichten, die sie von ihm erhalten hatten, diesmal mit Freuden auf. –

Und Reiser hatte nun so viel Stoff zu mystischen Unterredungen mit seinem Vater gesammlet, daß sie diesmal sich oft bis in die Nacht unterhielten. – Reiser suchte nämlich alle die mystischen Ideen seines Vaters, die er aus den Schriften der Madam Guion geschöpft hatte von ›Alles und Eins‹, vom ›Vollenden in Eins‹ usw., metaphysisch zu erklären, welches ihm sehr leicht wurde – indem die Mystik und Metaphysik wirklich insofern zusammentreffen, als jene oft eben das vermittelst der Einbildungskraft zufälligerweise herausgebracht hat, was in dieser ein Werk der nachdenkenden Vernunft ist. – Reisers Vater, der dies nie in seinem Sohne gesucht hatte, schien nun auch eine hohe Idee von ihm zu bekommen und ordentlich eine Art von Achtung gegen ihn zu hegen. –

Die Neigung zur Schwermut aber behielt auch hier beständig bei Reisern das Übergewicht. – Er stand mit seiner Mutter an der Türe, da das Kind eines Nachbars begraben wurde und der Vater in tiefer Trauer mit hangendem Haar und nassem Auge folgte. – Wenn sie mich nur auch erst so hintrügen, sagte Reisers Mutter, die freilich im Leben nicht viel Freude gehabt hatte, und Reiser, der sich doch noch viel Freude versprechen konnte, stimmte innerlich so herzlich in diesem Wunsch mit ein, als ob ihm das größte Herzeleid widerfahren wäre. –

Er nahm diesmal bei seiner Abreise von seiner Mutter und seinen Brüdern mit mehrerer Rührung wie gewöhnlich Abschied – und wanderte zu Fuß wieder nach Hannover. – Da er nun die vier Türme wieder erblickte, die er schon unter so mancherlei verschiedenen Verhältnissen wiedergesehen hatte, so wandelte ihm diesmal aufs neue ein ängstliches Gefühl an, da er aus der weiten Welt nun wieder in diesen kleinen Umkreis aller seiner Verhältnisse und Verbindungen zurückkehren sollte, das Allzubekannte dort deuchte ihm so fade. – Aber auf einmal erheiterte sich seine Seele wieder, da er ins Tor getreten war und gleich an einer Ecke einen Komödienzettel angeschlagen fand. – Dies überraschte ihn auf die angenehmste Weise – sein erster Gang war wie vor drei Jahren nach dem Schlosse, wo das Theater war, und wo der Hauptzettel mit dem Verzeichnis der Personen angeschlagen stand – man spielte den Clavigo, Brockmann den Beaumarchais, Reinecke den Clavigo, die älteste Dem. Ackermann (die jüngere war damals schon gestorben) spielte die Maria, Schröder den Don Carlos, die Reinecken die Schwester der Maria, Schütz den Buenco und Böheim den Freund des Beaumarchais. –

So vortrefflich war die Rollenbesetzung in diesem Stück bis auf die unbedeutendsten Nebenrollen. – Reiser kannte alle diese vortrefflichen Schauspieler – war es wohl zu verwundern, daß seine Erwartung auf das höchste gespannt wurde, aufs neue die Vorstellung eines Stücks von ihnen zu sehen, das er zwar noch nicht gelesen hatte, wovon er aber wußte, daß es von dem Verfasser der Leiden des jungen Werthers war? –

Durch diesen zufälligen Umstand, vergesellschaftet mit der Rückerinnerung an die Abenteuer, die er auf seiner Reise gehabt hatte, bildete sich eine sonderbare romantische Idee in seinem Kopfe, die nun wieder auf einige Jahre seines künftigen Lebens einen sehr großen Einfluß hatte. – Theater – und Reisen – wurden unvermerkt die beiden herrschenden Vorstellungen in seiner Einbildungskraft, woraus sich denn auch sein nachheriger Entschluß erklärt. –

Er versäumte nun wieder nicht leicht einen Abend die Komödie – dadurch aber wurde sein Kopf wieder so voll von theatralischen Ideen, daß ihm seine eigentlichen Geschäfte des beständigen Lernens und Lehrens – denn er hatte fast den ganzen Tag mit Unterrichtsstunden besetzt – schon zuweilen nicht recht mehr zu schmecken anfingen und er sich dann kein Bedenken machte, dann und wann eine der Stunden, wo er lehrte oder lernte, zu versäumen, indem er dann jedesmal rechnete, daß es doch nur eine Stunde sei. –

Nun wurden damals die Zwillinge von Klinger zuerst aufs Theater gebracht und freilich mit aller möglichen Kunst dargestellt, indem Brockmann den Guelfo, Reinecke den alten Guelfo, die Reinecken die Mutter, die Ackermann die Kamilla, Schröder den Grimaldi und Lambrecht den Bruder des Guelfo spielte. –

Dies schreckliche Stück machte eine außerordentliche Wirkung auf Reisern – es griff gleichsam in alle seine Empfindungen ein. – Guelfo glaubte sich von der Wiege an unterdrückt – das glaubte er von sich auch – ihm fielen dabei alle die Demütigungen und Kränkungen ein, denen er von seiner frühesten Kindheit an, fast so lange er denken konnte, beständig ausgesetzt worden war. – Er vergaß den Fürstensohn und alle die Verhältnisse eines Fürstensohnes und fand nur sich in dem unterdrückten Guelfo wieder. – Die bittre Lache, die Guelfo in der Verzweiflung über sich selbst aufschlug, griff in Reisers innerste Empfindungen ein – er erinnerte sich dabei aller der fürchterlichen Augenblicke, wo er wirklich am Rande der Verzweiflung stand und eben eine solche Lache über sich aufschlug – indem es sein eignes Wesen mit Verachtung und Abscheu betrachtete und oft mit schrecklicher Wonne in ein lautschallendes Hohngelächter ausbrach. –

Der Abscheu vor sich selber, den Guelfo empfand, indem er den Spiegel entzweischlägt, worin er sich nach der Mordtat erblickt – und daß er nun nichts wünscht, als zu schlafen – zu schlafen – das alles schien Reisern so wahr, so aus seiner eignen Seele, die beständig mit dergleichen schwarzen Phantasien schwanger ging, gehoben zu sein, daß er sich ganz in die Rolle des Guelfo hineindachte und eine zeitlang mit allen seinen Gedanken und Empfindungen darin lebte. –

Während daß also nun auf dem Königlichen Operntheater von der Schröderschen Gesellschaft Komödie gespielt wurde, kam auch die Zeit der Sommerferien heran, wo die Primaner jährlich öffentlich eine Komödie aufzuführen pflegten. –

Reiser zweifelte nicht, daß man ihm diesmal eine Rolle antragen würde, da er doch nun, seitdem er die Rede auf der Königin Geburtstag gehalten hatte, einer der angesehensten unter seinen Mitschülern war und daher auch gar nicht glaubte, daß man ohne ihn die Sache anfangen würde. –

Wie sehr erstaunte er also, da er vernahm, daß man die Sache dennoch ohne ihn angefangen und sogar schon die aufzuführenden Stücke bestimmt und ihm nicht einmal eine Rolle darin zugeteilt hatte. – Da er jetzt wirklich viele Freunde und vielen Anhang unter seinen Mitschülern hatte, so konnte er sich diese Zurückstellung erst gar nicht erklären, bis er denn freilich merkte, daß hier ein solcher Rollenneid und ein so ängstliches Bemühen, einander den Rang abzulaufen, stattfand, daß ein jeder genug für sich zu sorgen hatte und, wer sich nicht mit Gewalt hinzudrängte, auch nicht gerufen wurde. –

Reiser hat sich nachher oft an diesen Auftritt in seinem Leben zurückerinnert und Betrachtungen darüber angestellt, wie in diesen kindischen Bestrebungen nach einer so unbedeutenden Sache, als eine Rolle in einem Stücke war, das von den Primanern in Hannover aufgeführt wurde, sich doch das ganze Spiel der menschlichen Leidenschaften ebenso vollständig entwickelte, als ob es die allerwichtigste Angelegenheit betroffen hätte; und wie das Streben gegeneinander, dies Verdrängen und wieder Verdrängtwerden ein so getreues Bild des menschlichen Lebens im kleinen war, daß Reiser alle seine künftigen Erfahrungen hierdurch schon gleichsam vorbereitet sahe. –

Dies kam nun freilich wohl mit daher, weil den Primanern die Anordnung der Schauspiele und die Besetzung der Rollen aus ihrem Mittel gänzlich überlassen war. – Der Geist wurde dadurch gleichsam republikanisch – es konnten sich mehrere Kräfte entwickeln – List und Verschlagenheit gebraucht und Kabalen geschmiedet werden; wie es nur irgend bei der Wahl eines Parlamentsgliedes geschieht – denn es wurden über dergleichen öffentliche Angelegenheiten, auch wenn z. B. ein Aufzug mit Musik und Fackeln sollte veranstaltet werden, ordentlich Stimmen gesammlet, wodurch einer zum Anführer bei dem Zuge oder zu sonst etwas Öffentlichem gewählt wurde. –

Reiser sahe sich also nun auf einmal wieder, da er es am wenigsten vermutete, von demjenigen ausgeschlossen, woran sein ganzes Herz jetzt mehr wie jemals hing, und weswegen er vordem schon so viel erduldet hatte. – Er suchte sich zwar mit dem Gedanken zu trösten, daß man ihn verkenne, daß ihm von seinen Mitschülern Unrecht geschehen sei – aber dies wollte doch auf die Länge nicht zureichen – vorzüglich kränkte es ihn, daß sein Freund Winter ihm nichts davon gesagt hatte, der mit von der Gesellschaft der Spielenden war, und der es wußte, wie sehr sein Herz an dieser Sache hing. –

Aber dieser glaubte selbst in einem zu unvorteilhaften Lichte zu erscheinen, wenn er denjenigen als ein Mitglied in Vorschlag brächte, auf den die Aufmerksamkeit keines einzigen außer ihm gefallen war. – Winter meinte es deswegen übrigens noch gar nicht böse mit Reisern, sondern war nach wie vor sein Freund, nur bis auf diesen Punkt nicht. – Eine Erfahrung, die mancher vielleicht in seinem Leben öfter zu machen Gelegenheit gehabt hat. – Es hält schwer, in der Freundschaft standzuhalten, wenn sich alles wider jemanden erklärt – man fängt an, seinem eignen Urteil nicht recht mehr zu trauen, das immer noch einer Stütze außer sich zu bedürfen scheint, sei sie auch so klein sie wolle – wenn die Sache nur noch von einem einzigen in Regung gebracht wird, so will man gern der zweite sein, der einstimmt, nur der erste scheut sich ein jeder zu sein – und die Freundschaft muß schon einen sehr hohen Grad erreicht haben, wenn sie hier der entgegenstrebenden Politik nicht unterliegen soll. –


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03