Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Winter war sonst ein sehr aufrichtiger Mensch – und da Reiser ihn fragte, was unter ihm und einer Anzahl seiner Mitschüler, die immer zusammenkämen, im Werke sei, so gab ihm Winter erst ohne Umschweife zu verstehen: er wolle es ihm nicht sagen – bis Reiser weiter in ihn drang und dann doch die ganze Sache erfuhr – wo dann jener sich damit aus der Verlegenheit zog, daß er die ganze Sache als unbedeutend vorstellte und als etwas, das doch wohl schwerlich zustande kommen würde usw.

Diese Erfahrung, die Reiser damals zuerst an seinem Freunde Winter machte, hat er nachher nur zu oft in seinem Leben wieder bestätigt gefunden. –

Außer Reisern war nun Iffland, von dem ich schon erwähnt habe, daß er nachher einer der beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden ist, derjenige, welcher sich unter der damaligen Generation der Primaner in Hannover in Ansehung seines Kopfes am mehrsten auszeichnete – und an den sich Reiser schon vor einigen Jahren anzuschließen gesucht hatte. – Allein die Verschiedenheit ihrer Glücksumstände hatte dieses Aneinanderschließen damals gehindert. –

Da nun aber Reiser angefangen hatte, sich auszuzeichnen, so fing Iffland von selber an, sich an ihn zu schließen – und sie unterredeten sich oft bei ihren einsamen Spaziergängen über ihre künftige Bestimmung in der Welt. – Iffland lebte auch ganz in der Phantasienwelt und hatte sich damals gerade ein sehr reizendes Bild von der angenehmen Lage eines Landpredigers entworfen – er war also entschlossen, Theologie zu studieren, und unterhielt Reisern fast beständig mit der Schilderung jener stillen, häuslichen Glückseligkeit, die er dann im Schoß einer kleinen Gemeinde, die ihn liebte, in seinem Dörfchen genießen würde. – Reiser, welcher dergleichen Spiele der Phantasie aus eigner Erfahrung kannte, prophezeite ihm im voraus, daß er diesen Entschluß zu seinem eignen Besten wohl nie in Erfüllung bringen würde: denn wenn er Prediger würde, so würde er wahrscheinlich ein großer Heuchler werden – er würde mit der größten Hitze des Affekts und mit aller Stärke der Deklamation doch immer nur eine Rolle spielen. – Ein geheimes Gefühl sagte Reisern, daß dies bei ihm selber wohl der Fall sein würde, darum konnte er jenem so gut den Text lesen. –

Iffland ist nun freilich nicht Prediger geworden – aber es ist doch sonderbar, jene Ideen von häuslicher stiller Glückseligkeit, die er damals so oft gegen Reisern geäußert hat, sind doch nicht verloren gegangen, sondern fast in allen seinen dramatischen Arbeiten realisiert, da er sie in seinem Leben nicht hat realisieren können. –

Da nun aber die Schauspieler wieder nach Hannover kamen, so wurden bei Iffland alle jene reizenden Phantasien von stiller Glückseligkeit auf einem Dorfe sehr bald verdrängt, und die herrschende Idee war nun bei ihm sowie bei Reisern wieder das Theater. –

Iffland war nun einer der vorzüglichsten Mitglieder der Gesellschaft, die sich zum Aufführen der Komödie verbunden hatten, aber hier hatte er dennoch seinen Freund Reiser auch vergessen. –

Diese Vernachlässigung von denen, die er noch für seine besten Freunde hielt, bei einer Sache, die ihm so sehr am Herzen lag wie diese, war ihm äußerst kränkend. – Er sprach mit Iffland darüber, der sich damit entschuldigte, er habe nicht geglaubt, daß Reiser zu der Sache noch Lust habe. – Und was Reisern am meisten kränkte, war, als er hörte, daß er bei der Rollenausteilung nicht etwa Feinde unter der Gesellschaft gehabt, die ihn hätten ausschließen wollen, sondern daß man gar nicht einmal an ihn gedacht, seiner nicht einmal erwähnt hatte. –

Da er sich nun indes erklärte, daß er an der Gesellschaft teilnehmen wolle, so war man ihm nicht zuwider, wenn er mit einer von den Rollen, die noch übrig waren, vorliebnehmen wollte. – Er mußte sich denn hiezu entschließen und erhielt in dem ersten Stück, das aufgeführt wurde, in dem Deserteur aus Kindesliebe, noch die Rolle des Peter, welche ihm freilich nicht die angenehmste war, die er doch aber lieber als gar keine nahm. –

Man wird die Erzählung dieser anscheinenden Kleinigkeiten nicht unwichtig finden, wenn man in der Folge sehen wird, daß sie auf sein künftiges Leben einen großen Einfluß hatten, und daß die Rollenausteilung bei den Komödien, die er mit seinen Mitschülern aufführte, gleichsam ein Bild von einem Teile seines künftigen Lebens war. –

Er wollte sich nicht zudrängen und war doch wieder nicht stark genug, es zu ertragen, wenn man ihn vernachlässigte. –

Da er nun ein Mitglied der theatralischen Gesellschaft geworden war, so verleitete ihn dies zu vielen Ausgaben, die seine Einkünfte überstiegen – und zu vielen Versäumnissen, die seine Einkünfte verminderten. – Er mußte die Gesellschaft zuweilen zu sich bitten, wie es ein jeder tat – und der öftern Proben wegen, die angestellt wurden, manche seiner Unterrichtsstunden, die er gab, versäumen. – Überdem war sein Kopf nun wieder beständig mit Phantasien erfüllt – er war zu keinem anhaltenden und ernsthaften Nachdenken, zu keinem Fleiß im Studieren mehr aufgelegt. –

Es bildeten sich nun schon Schriftstellerprojekte in seinem Kopfe – er wollte ein Trauerspiel ›der Meineid‹ schreiben. – Er sah schon den Komödienzettel angeschlagen, worauf sein Name stand – seine ganze Seele war voll von dieser Idee – und er ging oft wie ein Rasender in seiner Stube wütend auf und nieder, indem er alle die gräßlichen und fürchterlichen Szenen seines Trauerspiels durchdachte und durchempfand. – Der Meineid gereute den Meineidigen zu spät, und Mord und Blutschande war schon die Folge davon gewesen, als er eben im Begriff war, von unaufhörlicher Gewissensangst getrieben, den Meineid durch Aufopferung seines ganzen Vermögens, das er dadurch gewonnen hatte, wieder gutzumachen – und der schmeichelhafteste Gedanke für Reisern war, wenn er dies Stück noch in seinem jetzigen Stande, noch als Schüler vollenden würde, was man denn für Erwartungen von ihm schöpfen – wie es dann noch weit mehr ihm zum Ruhm gereichen müßte. –

Schon in seinem neunten Jahre, da er in die Schreibschule ging, hatte er sich mit einem seiner Mitschüler vorgenommen, daß sie zusammen ein Buch schreiben wollten – und beide schmeichelten sich schon damals mit der Idee, wie ihnen dies zum ewigen Ruhme gereichen würde. – Der Knabe, welcher damals den Entwurf zu dem Buche mit ihm machte, das ihre beiderseitigen Lebensgeschichten enthalten sollte, war ein sehr guter Kopf, der sich aber nachher durch einen übertriebenen Fleiß zugrunde richtete und im siebzehnten Jahre starb. –

Mit diesem spielte er auch schon damals zuweilen, ehe die Stunde anging, und wenn der Lehrer noch nicht da war, Komödie und fand immer in dieser Art von Belustigung ein unbeschreibliches Vergnügen – ob er gleich damals noch gar keine Komödie gesehen, sondern nur aus Erzählungen andrer einen ganz dunklen Begriff davon hatte. – Was aber die Verfertigung des Buchs anbetraf, so war ihm das damals schon eine so erhabene Idee – ein Buch war ihm eine so heilige und wichtige Sache, deren Hervorbringung er kaum einem Sterblichen, wenigstens keinem noch lebenden Sterblichen zutrauete. –

Überhaupt war es ihm noch lange nachher immer eine sonderbare Idee, wenn er hörte, daß die Personen, die irgendein berühmtes Werk geschrieben hatten, noch lebten und also aßen, tranken und schliefen wie er. –

Da er in seinem sechzehnten Jahre zum ersten Male Moses Mendelssohns Schriften las, so kam der Name, der alte Homerskopf auf dem Titel, alles zusammen, um eine sonderbare Täuschung bei ihm hervorzubringen, als ob dieser Moses Mendelssohn irgendein alter Weiser sei, der vor Jahrhunderten gelebt hätte und dessen Schriften nun etwa ins Deutsche übersetzt wären – er trug sich lange mit diesem Wahn herum, bis er einmal zufälligerweise von seinem Vater hörte, daß dieser Mendelssohn noch lebe, daß er ein Jude sei, auf den die ganze jüdische Nation sehr stolz wäre, und daß Reisers Vater ihn selbst in Pyrmont gesehen habe, und wie er aussähe usw. Dies brachte in Reisers Ideenzustande auf einmal eine große Veränderung hervor – seine Vorstellungen vom Alten und Neuen, Gegenwärtigen und Vergangnen mischten sich sonderbar durcheinander. – Er konnte sich nur mit Mühe zu dem Gedanken gewöhnen, sich einen Mann als noch lebend vorzustellen, den seine Einbildungskraft so lange in die vergangnen Jahrhunderte zurückversetzt hatte. – Er dachte sich einen solchen Mann wie eine unter den Menschen wandelnde Gottheit – und solche Menschen einst von Angesicht zu Angesicht zu sehen, mit ihnen sich zu unterreden, das war der höchste seiner Wünsche. –

Und nun hatte er sich doch im Ausdruck seiner Gedanken auf verschiedene Art versucht; er fing an zu hoffen, daß ihm vielleicht einmal ein Werk des Geistes gelingen würde, wodurch er sich den Weg in jenen glänzenden Zirkel bahnte und sich das Recht erwürbe, mit Wesen umzugehen, die er bis jetzt noch so weit über sich erhaben glaubte. – Daher schrieb sich vorzüglich mit die Schriftstellersucht, welche schon damals anfing, ihn Tag und Nacht zu quälen. –

Ruhm und Beifall sich zu erwerben, das war von jeher sein höchster Wunsch gewesen; – aber der Beifall mußte ihm damals nicht zu weit liegen – er wollte ihn gleichsam aus der ersten Hand haben und wollte gern, wie es der natürliche Hang zur Trägheit mit sich bringt, ernten ohne zu säen. – Und so griff nun freilich das Theater am stärksten in seinen Wunsch ein. – Nirgends war jener Beifall aus der ersten Hand so wie hier zu erwarten. – Er betrachtete einen Brockmann, einen Reineck immer mit einer Art von Ehrfurcht, wenn er sie auf der Straße gehen sahe, und was konnte er mehr wünschen, als in den Köpfen anderer Menschen einst ebenso zu existieren, wie diese in seinem Kopfe existierten. – So wie jene Leute vor einer so großen Anzahl von Menschen, als sonst nur selten oder nie versammlet sind, alle die erschütternden Empfindungen der Wut, der Rache, der Großmut nacheinander durchzugehen und sich gleichsam jeder Nerve des Zuschauers mitzuteilen, – das deuchte ihm ein Wirkungskreis, der in Ansehung der Lebhaftigkeit in der Welt nicht seinesgleichen hat. –

Allein er war nun freilich zu spät zu der theatralischen Gesellschaft getreten, um eine Rolle, wie er sie sich wünschte, zu erhalten, welches ihn außerordentlich kränkte. – Indes freute es ihn doch wieder, daß er nur noch eine Rolle bekam, da er den Ersatz erhielt, daß ihm die Verfertigung eines Prologs zu dem Deserteur aus Kindesliebe aufgetragen wurde, welcher nebst dem Personenverzeichnis gedruckt werden sollte. –

Nun wartete man nur darauf, bis die ordentlichen Schauspieler wieder wegreisen würden, um alsdann ebenfalls auf dem großen Königlichen Operntheater zu spielen, wozu sich die Primaner selbst die Erlaubnis erbeten hatten – so daß diesmal diese dramatischen Übungen so glänzend wurden, wie sie noch niemals gewesen waren. – Die ganze Einrichtung war dabei den jungen Leuten selbst überlassen – und da nun Reiser mit von der Gesellschaft war, so nahm er doch auch an allen öffentlichen Beratschlagungen und Debatten teil – eine Sache, die er von altersher nie gewohnt gewesen war, und die ihm daher fremd vorkam – es war ihm ordentlich, als käme es ihm nicht recht zu, wenn man ihn auch mit in Betrachtung zog. –

Ob er nun gleich eben keine äußere Veranlassung dazu hatte, so war ihm doch die Einsamkeit noch immer lieb – und seine vergnügtesten Stunden waren, wenn er etwa eine Strecke vor das Tor hinaus nach einer Windmühle ging, wo ringsumher in einem kleinen Bezirk eine romantische Abwechselung von Hügeln und Tälern war, und wo er sich im Garten in einer Laube eine Schale Milch geben ließ und dabei las – oder in seine Schreibtafel schrieb. – Dies war schon vor mehrern Jahren einer seiner liebsten Spaziergänge, und er war auch oft mit Philipp Reisern da gewesen. –

Als Werthers Leiden erschienen, fiel ihm bei den reizenden Beschreibungen von Wahlheim sogleich diese Windmühle ein und die manchen süßen Stunden, welche er einsam da genossen hatte.

Dann war vor dem neuen Tore ein künstlich angelegtes, ganz kleines Wäldchen, worin so viele Krümmungen und sich durchschlängelnde Pfade angebracht waren, daß man das Wäldchen wenigstens für sechsmal so groß hielt, als es war, wenn man darin herumirrte – man hatte ringsumher die Aussicht auf eine grüne Wiese, wo in der Ferne hinter den einzelnen hohen Bäumen, unter denen Reiser so gern zu wandern pflegte, und hinter dem kleinen Gebüsch, wo er sich so oft gelagert hatte, der Fluß hervorschimmerte, mit dessen Ufern er ebenfalls, durch seine öftern Spaziergänge an demselben, unter so manchen verschiednen Situationen seines Lebens vertraut geworden war. – Oft wenn er am Ende dieses Wäldchens auf einer Bank saß und in die weite Gegend hinausschaute, stiegen alle die vergangnen Szenen seines Lebens, der Kummer und Sorgen, die er dort an so manchem schwülen Sommertage mit sich herumgetragen hatte, wieder vor ihm auf, und das Andenken daran versetzte ihn in eine stille Wehmut, der er mit Vergnügen nachhing. – Er konnte auch in der Ferne die Brücke sehn, die über den Bach ging, an dem er so manche Stunde gesessen und so manches gelesen und gedichtet hatte. – Weil nun das Wäldchen so nahe vor der Stadt war, so pflegte er oft des Abends im Mondschein hinauszugehn und auch wohl mitunter ein wenig zu ›siegwartisieren‹, ohne doch den Siegwart gelesen zu haben, der erst ein Jahr nachher erschien. –

Hier hatte er in dem vorigen Jahre, da er neunzehn Jahr alt war, an einem rauhen Septemberabend seinen Geburtstag gefeiert – und sich selber die heiligsten Gelübde getan, sein künftiges Leben besser als das vergangne zu nutzen. –

Auf diesen einsamen Spaziergängen verfertigte er denn auch seinen Prolog, der sich wie seine Rede mit ›welch ein‹ anfing; denn in das sanft klingende ›welch ein‹ hatte er sich ordentlich verliebt, es schien gleich eine solche Fülle von Ideen zu fassen und alles Folgende hineinzufügen – er konnte sich keinen vollklingendern Anfang denken und hub daher denn auch seinen Prolog an:

     Welch eine Göttin geußt Entzücken
     Ins Herz des Fühlenden?
     Läßt mitleidsvoll vor seinen Blicken
     Oft Szenen sanfter Freud' entstehn,
     Und bildet ihre Haine schön
     Sanfttraurender Melancholie?
     Sie ists, des Himmels Phantasie –
     Oft wandelt sie auf Blumenwegen
     Mit ihm ins stille Tal hinab,
     Zeigt ihm die Unschuld da in Hütten
     Und Freuden, welche Gott ihr gab, usw.

Dieser Prolog wurde nun nebst dem Personenverzeichnis wie ein kleines Buch gedruckt, und auf dem Titel stand: ›verfaßt von Reiser, gesprochen von Iffland‹. – Reiser sah sich also aufs neue gedruckt, und was noch mehr war, so erhielt er von seinen Mitschülern den Auftrag, den Prinzen selbst zu der Komödie einzuladen, welches er denn mit dem Degen an der Seite und in seinem Galakleide, worin er die Rede gehalten hatte, tat. –

Die Noblesse und Honoratioren der Stadt wurden nun auch von den jungen Leuten selbst eingeladen, und Reiser erhielt hier wiederum Gelegenheit so wie damals, da er die Rede gehalten hatte, einen Teil der großen Welt in der Nähe zu sehen, den er vorher nur noch aus einer großen Entfernung angestaunt hatte – er sahe, daß die Minister, Grafen und Edelleute, mit denen er nun Gesicht gegen Gesicht sprach, nicht so erstaunlich von ihm verschiedene Wesen waren, sondern daß sie in ihren Äußerungen ebenso wie die gemeinsten Leute manchmal etwas Sonderbares und Komisches hatten, wodurch der Nimbus um sie verschwand, sobald man sie nur reden hörte und sich in der Nähe mit ihnen unterhielt. –

So glänzend nun Reisers Zustand schien, wenn er so über die Straße paradierte und in den ersten Häusern seine Cour machte, so war dieser Zustand doch im eigentlichen Verstande ein glänzendes Elend zu nennen – denn durch das schlechte Verhältnis seiner Ausgaben gegen seine Einkünfte wurden seine Umstände immer mißlicher, seine Lage immer ängstlicher. – Überdem drückte ihn das Einförmige seiner Lage, und daß er noch keine Aussicht vor sich sahe, die Universität mit Anstand zu beziehen – auch war ihm nun jener Beifall aus der ersten Hand, den ein Schauspieler einernten kann, so wichtig und so lieb geworden, daß sein Hang immer mehr nach dem Theater als nach der Universität war. –

Es war wirklich damals gerade die glänzendste Schauspielerepoche in Deutschland, und es war kein Wunder, daß die Idee, sich in eine so glänzende Laufbahn, wie die theatralische war, zu begeben, in den Köpfen mehrerer jungen Leute Funken schlug und ihre Phantasie erhitzte – das war denn damals auch der Fall bei der dramatischen Gesellschaft in Hannover – sie hatte gerade die vortrefflichsten Muster, einen Brockmann, Reineck, Schröder zu einem Zweck der Kunst vereinigt, täglich Lorbeern einernten sehen, und es war wirklich kein unrühmlicher Gedanke, solchen Mustern nachzueifern. –

Und um nun diesen Endzweck zu erreichen, brauchte man nicht erst drei Jahre auf der Universität studiert zu haben. – Dann kam bei Reisern die unwiderstehliche Begierde zum Reisen hinzu, welche sich seit der abenteuerlichen Wallfahrt nach Bremen seiner bemächtigt hatte – und der Gedanke, sich aus allen seinen bisherigen Verhältnissen, wo selbst das Beste ihm doch immer nur halb geglückt war, hinauszuversetzen und sein Glück in der weiten Welt zu suchen, fing allmählich an, bei ihm der herrschende zu werden – es war aber nur noch ein bloßes Spiel seiner Phantasie; er war noch nicht eigentlich entschlossen, die Sache selbst ins Werk zu richten. –

Während dieser Zeit besuchte ihn nun sein Vater in Hannover, den er jetzt zum ersten Male in seiner Stube, die mit sehr guten Möbeln versehen und schön austapeziert war, bewirten konnte. – Seinem Vater suchte er nun seine Lage von der angenehmsten und vorteilhaftesten Seite zu schildern und stellte ihm das Aufführen der Komödie als eine Sache vor, wodurch er nun sowohl wegen des gedruckten Prologs als auch, weil er den Prinz selbst dazu eingeladen hätte, wieder neue Aufmerksamkeit auf sich errege und sich ebenso wie durch die Rede an der Königin Geburtstage im auffallenden Lichte wieder zeigen könnte. –

Reisers Vater äußerte bei dieser Gelegenheit einen sehr wichtigen und wahren Gedanken, daß solche Vorfälle, wo einer sich öffentlich zu seinem Vorteil zu zeigen Gelegenheit hat, wie z. B. bei der Rede an der Königin Geburtstage, gleichsam wie ein Sieg zu betrachten wären, den man verfolgen müsse, weil dergleichen im Leben sich nur selten ereigne. –

Reiser begleitete seinen Vater bei dessen Rückreise eine Stunde vor das Tor hinaus, und da sie nun an eben den Fleck kamen, wo ihm derselbe einst seinen Fluch gegeben hatte, so standen sie zufälligerweise still – es fiel Reisern nachher erst ein, daß dies derselbe Fleck war – sie hatten sich bis dahin über die wichtigsten und erhabensten Gegenstände, worin die Mystik und die Metaphysik zusammentreffen, unterredet, und nun schloß Reisers Vater einen Bund mit seinem Sohne, daß sie von nun an gemeinschaftlich jenem großen Ziele der Vereinigung mit dem höchsten denkenden Wesen näher zu kommen streben wollten; worauf er ihm denn auf eben dem Fleck durch Auflegung der Hand seinen Segen erteilte, wo er ihm ehemals seinen Fluch gab. –

Reiser kehrte also nun in einer sehr guten Stimmung wieder zu Hause – und blieb darin, bis nun wieder eine neue Rollenbesetzung von den Stücken, die außer dem Deserteur aus Kindesliebe noch aufgeführt werden sollten, seine Phantasie erregte und seine durch vernünftiges Nachdenken eingewiegten romanhaften Ideen wieder erweckte. –

Die Stücke, die noch aufgeführt wurden, waren Clavigo, der Mann nach der Uhr und der Edelknabe. – Er hatte im Deserteur aus Kindesliebe mit einer unbedeutenden Nebenrolle vorlieb genommen und rechnete nun darauf, wenigstens die Rolle des Clavigo zu erhalten – so wie nun alle Wünsche seines Herzens sich auf das Theater hefteten, so waren sie insbesondre auf diese Rolle gleichsam gespannt – und man teilte sie nicht ihm, sondern einem andern zu, der sie offenbar schlechter spielte, wie Reiser sie gespielt haben würde. –

Reisers Kränkung hierüber war so groß, daß ihn dieser Vorfall in eine Art von wirklicher Melancholie stürzte. – Wem dies unwahrscheinlich oder unnatürlich vorkommt, der erwäge, daß sein ganzer Wunsch, den er schon jahrelang bei sich genährt hatte, jetzt gerade auf der Spitze der Erfüllung oder Nichterfüllung stand, öffentlich vor den versammleten Einwohnern seiner Vaterstadt seine Talente zu entwickeln und zeigen zu können, wie tief er empfand, was er sagte, und wie mächtig er wieder das durch Stimme und Ausdruck zu sagen imstande wäre, was er so tief empfand – solche erschütternde Empfindungen wieder bei Tausenden zu erregen, wie Reineck, der den Clavigo spielte, in ihm erregt hatte, das war für ihn ein so großer, stolzer und die Seele erhebender Gedanke, wie vielleicht nie für irgendeinen Sterblichen eine Rolle in einem Trauerspiel gewesen sein mag. – Hier wäre nun alles das weit über seine Erwartung erfüllt worden, was er sich schon vor mehr als fünf Jahren gewünscht hatte. – Denn das Auditorium war hier so glänzend und zahlreich, wie es vielleicht nie gewesen sein mochte. – Das Schauspielhaus, welches einige tausend Personen faßte, war so voll, daß niemand mehr Platz darin fand, und unter den Zuschauern befand sich der Prinz nebst dem ganzen Adel, die Geistlichkeit und die Gelehrten und Künstler der Stadt. – Vor einem solchen Auditorium und dazu in einer Stadt, die beinahe seine Vaterstadt war, worin er erzogen und so mancherlei widerwärtige Schicksale erlebt hatte, sich mit aller der Stärke der Empfindungen und des Ausdrucks, die er bis jetzt nur für sich allein hatte entwickeln können, öffentlich zu zeigen – konnte in seiner Lage wohl etwas Wünschenswerteres für ihn sein? –

Aber vom sterbenden Sokrates an schien der Genius der Schauspielkunst auf ihn zu zürnen.

Er suchte sich die Rolle des Clavigo zu erbitten und zu ertrotzen, aber beides half nichts; sein Nebenbuhler siegte. –

Dies griff ihn auf seiner verwundbarsten Seite, auf dem zärtlichsten Fleck seines Lebens an – alles übrige wurde ihm nun dadurch verbittert. – Keiner unter allen, der ihm die Rolle des Clavigo abgetreten hätte, würde so viel darunter verloren haben als er, daß er sie nicht erhielt. – Da sein eigentlicher gegenwärtiger Lebensfleck ihm so verdunkelt war, so zog es sich auch wieder über sein ganzes übriges Leben wie ein Flor; alles hüllte sich ihm in melancholische Trauer – er suchte die Einsamkeit wieder, wo er nur konnte, und fing an, sich in seinem Äußern zu vernachlässigen. –

Philipp Reiser machte indes auf seiner Stube Klaviere und nahm an allen diesen Possen keinen Teil. – Anton Reiser war seit seiner Verbindung mit der dramatischen Gesellschaft selten zu ihm gekommen – jetzt, da es ihm so wenig nach Wunsch ging, besuchte er ihn wieder öfter, hing bei ihm seiner Schwermut nach, ohne ihm doch den eigentlichen Grund davon zu sagen – denn er wollte sich gegen sich selbst nicht einmal recht merken lassen, daß seine Schwermut bloß davon herrührte, weil er die Rolle des Clavigo nicht erhalten hatte, sondern er wollte sich lieber überreden, daß dieselbe eine Folge von seiner Betrachtung des menschlichen Lebens überhaupt sei. –

Indes wurde ihm von der Zeit an, daß er die Rolle des Clavigo nicht erhielt, sein Aufenthalt in Hannover lästig, er fing von der Zeit an, unstet und flüchtig zu werden. – Sein jahrelanger sehnlichster Wunsch mußte in Erfüllung gebracht werden, mochte es nun auch sein, wo es wollte – er mußte irgendwo alles das wirklich machen, was bis jetzt durch eine so lang anhaltende Komödienlektüre und seinen schon so lange fortdaurenden Hang zum Theater in seiner Phantasie reif geworden war. –

Als der Clavigo probiert wurde, hatte er sich in eine der Logen versteckt – und während daß Iffland als Beaumarchais auf dem Theater wütete, wütete Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden lag, gegen sich selber, und seine Raserei ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt und sich die Haare raufte. – Denn die Erleuchtung, die Blicke unzähliger Zuschauer alle auf ihn allein hingeheftet und sich, vor allen diesen forschenden Blicken seine innersten Seelenkräfte äußernd, durch die Erschütterung seiner Nerven auf jede Nerve der Zuschauer wirkend – das alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwärtig – und nun sollte er nichts wie unter der Menge verloren ein bloßer Zuschauer sein, wie er jetzt war, während daß ein Dummkopf, der den Clavigo spielte, alle die Aufmerksamkeit auf sich zog, die ihm, dem stärker Empfindenden, gebührt hätte. –

Nach alle den vorhergehenden Situationen, worin er sich seit Jahren befunden hatte, war ihm nun die Rolle des Clavigo gleichsam Zweck seines Lebens geworden, das durch tausend drückende Lagen einmal ganz unter die Herrschaft der Phantasie zurückgedrängt war, die nun über dasselbe ihre Rechte ausüben wollte. – – Die Saite war bis zur höchsten Spannung hinaufgewunden, und nun sprang sie. –

Als diese schreckliche Probe vorbei war, so fand sich Reiser wieder ganz allein, ohne einen Freund, ohne einen, der sich seiner annahm. – Er wollte doch jemanden seinen Kummer klagen und ging zu Iffland, der sich von dem Augenblick fester wie jemals an ihn schloß: weil gerade dasselbe Bedürfnis bei ihm war, was Reisern zu ihm trieb. –

Ifflands Phantasie war ebenfalls bis auf den höchsten Grad gespannt, und sein Hang zum Theater überwiegend geworden, er bedurfte einen, dem er seine geheimsten Wünsche und seinen Kummer entdecken konnte. –

Nun hatten sein Vater und sein älterer Bruder nicht ohne Grund befürchtet, daß der Hang zum Theater durch den großen Beifall, den er sich durch sein Spiel erwarb, zu sehr genährt und am Ende überwiegend werden möchte, und ihm daher untersagt, an den dramatischen Übungen ferner teilzunehmen, wogegen er nun freilich alle möglichen Einwendungen machte und eben jetzt noch deswegen mit seinem Vater in Unterhandlung stand. – Er machte nun Reisern zum Vertrauten von seinem Vorsatz, sich ganz dem Theater zu widmen, so wie er ehmals mit ihm über seinen Entschluß, ein Dorfprediger zu werden, gesprochen hatte. – Die Rolle, welche Iffland schon gespielt hatte, war der Deserteur im Deserteur aus Kindesliebe und der Jude im Diamant, der als Nachspiel zum Deserteur gegeben wurde. – Den Juden hatte er so meisterhaft gespielt, daß er nachher mit ebendieser Rolle unter Ekhofs Augen debütierte und seine theatralische Laufbahn eröffnete – so wie er sich nun durch den Juden im höchsten Komischen gezeigt hatte, so zeigte er sich durch den Beaumarchais im höchsten Tragischen, und sein Spiel war wirklich in dieser letztern Rolle so hinreißend, daß man Brockmann selbst zu hören und zu sehen glaubte; und das Vergnügen, sich in dieser Rolle öffentlich zu zeigen, sollte ihm nun verleidet werden. – Er nötigte Reisern, die Nacht bei ihm auf seiner Stube zu bleiben, wo sie sich denn in reizenden Träumen von der Glückseligkeit, die der Stand eines Schauspielers gewährte, verloren, bis sie beide darüber einschliefen. –

Jetzt waren sie beide fast unzertrennlich und Tag und Nacht beisammen. – Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte Iffland, dies wäre gutes Wetter, davonzugehen – und das Wetter schien auch so reisemäßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend, die Gegenstände umher so dunkel, gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden. – Die Idee wurde in beider Köpfen so rege, daß nicht viel fehlte, sie hätten sie gleich ins Werk gerichtet – indes wollte doch Iffland womöglich in Hannover noch seinen Beaumarchais spielen – sie kehrten also nach der Stadt wieder um – so sehr sich nun auch Iffland für Reisern mit bewarb, so war es doch unmöglich, daß dieser die Rolle des Clavigo erhalten konnte – statt dessen trat ihm endlich der, welcher den Clavigo spielte, den Fürsten im Edelknaben ab – und in dem Manne nach der Uhr erhielt Reiser die Rolle des Magister Blasius. –

Reiser war nun darüber melancholisch, daß er den Clavigo nicht spielen sollte, und Iffland, daß er überhaupt nicht mehr mit Komödie spielen sollte – beide aber suchten sich zu überreden, daß sie des Lebens um sein selbst willen überdrüssig wären, und luden sich einmal des Nachts zwei Pistolen, womit sie fast die ganze Nacht hindurch Kurzweil trieben, indem sie ›sein oder nicht sein‹ hertragierten. –

Bei Reisern ging indes der Lebensüberdruß in der Tat so weit, daß er nicht aus der Stelle wich, wenn Iffland die geladene Pistole auf ihn hielt und den Finger anlegte, um sie abzudrücken, indes Reiser ebendasselbe wieder gegen ihn tat. –

Am andern Tage aber hatte er einen etwas ernsthaftern Auftritt mit Philipp Reisern, den er besuchte. – Er hatte die Nacht nicht geschlafen, eine dumme Trägheit blickte aus seinen hohlen Augen hervor, der Lebensüberdruß saß auf seiner Stirne, alle Spannkraft seiner Seele war dahin – er sagte zu Philipp Reisern guten Tag! – und dann stand er da wie ein Stock. –

Philipp Reiser, der ihn schon öfter aber noch nie in dem Grade in einem solchen Zustand der Erschlaffung gesehen hatte und der nun zu fürchten anfing, daß es wohl gänzlich mit ihm vorbei sein möchte – tat ihm im ganzen Ernst den Vorschlag, daß er ihn totschießen wollte, ehe ein verworfner und schlechter Mensch aus ihm würde, wie jetzt der Fall wäre. – Mit Philipp Reisern, dessen Begriffe ebenfalls romanhaft und überspannt waren, war in solchen Fällen nicht zu spaßen. – Anton Reiser verbat sich also diese Kur noch für jetzt und versicherte, daß er sich wohl noch einmal von seiner jetzigen Erschlaffung wieder erholen würde. –


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03