Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Bei Tage ging er größtenteils in öden Gegenden umher, suchte, wenn es regnete, in den Kirchen Schutz und brachte auf die Weise beinahe vierzehn Tage zu, in welcher Zeit niemand wußte, wo er geblieben war; bis endlich denn doch einer seiner Freunde ihn ausspähte und er auf einmal von Neries, Ockord, W... und noch einigen, die sich für ihn interessierten, in dem Gasthofe unvermutet überrascht und über seine Entfernung ihm freundschaftliche Vorwürfe gemacht wurden.

Er konnte nun sein Haar vor der Stirn über die Perücke schon etwas überkämmen, und wenn er sich dann stark puderte, so hatte es einigermaßen den Anschein, als ob er eigenes Haar trüge.

Er entschloß sich also, mit den Freunden, die ihn abholten, wieder in die menschliche Gesellschaft zu gehen, aber er wollte auch so viel wie möglich nur unter ihnen sein und wünschte auch auf alle Weise entfernt und einsam zu wohnen.

Auch diesen Wunsch suchte man ihm zu gewähren. Der gutmütige W... sprach gleich mit seinem Onkel, dem damaligen Regierungsrat und Professor Springer in Erfurt, und stellte ihm Reisers Zustand und sein Bedürfnis einer einsamen Wohnung lebhaft vor.

Der Regierungsrat Springer ließ Reisern zu sich kommen, und wenn dieser jemals aufmunternd angeredet und mit wahrer Teilnehmung aufgenommen wurde, so war es von diesem Manne, gegen welchen Reiser die innigste Zuneigung und Verehrung faßte.

Er las damals ein statistisches Kollegium, welches Reiser ein paarmal mit anhörte und, da ihn die Sache sehr interessierte, vom Regierungsrat Springer aufgefordert wurde, sich diesem Fache zu widmen, wobei er ihn auf alle mögliche Weise unterstützen wolle.

Den Anfang dieser Unterstützung machte nun der Regierungsrat Springer sogleich damit, daß er Reisern seinem Wunsche gemäß eine einsame Wohnung gab, indem er ihm sein eigenes Gartenhaus einräumte, wozu Reiser den Schlüssel bekam und wo er aus seinem Fenster die schönste Aussicht über einen Teil der aneinandergrenzenden Gärten hatte, welche ganz Erfurt umgaben.

Reiser genoß auch wieder seinen Freitisch, der Doktor Froriep nahm sich seiner auf das tätigste an und suchte ihm auf alle Weise Unterstützung zu verschaffen; er fing sogar an mathematische Kollegia zu hören, seine guten Freunde zogen ihn mit zu allen ihren literarischen Zusammenkünften und lasen ihm zum Teil ihre Ausarbeitungen vor, so daß die Sache nunmehro im besten Gange war, wenn ein neuer unglücklicher Anfall von Poesie nicht alles wieder verdorben hätte.

Zuerst mochte wohl sein neuer Aufenthalt in der einsamen romantischen Wohnung nicht wenig dazu beitragen, seine Einbildungskraft aufs neue zu erhitzen. Dann kam ein Brief dazu, den er an Philipp Reisern in Hannover schrieb und welcher seinen Rückfall beschleunigte.

Dies Schreiben war denn ganz im Tone der Wertherschen Briefe abgefaßt. Die patriarchalischen Ideen mußten auch auf alle Weise wieder erweckt werden, nur schade, daß es hier nicht wohl ohne Affektation geschehen konnte.

Denn um diesen Brief schreiben zu können, schaffte sich Reiser erst einen Teetopf an und lieh sich eine Tasse, und weil er kein Holz im Hause hatte, kaufte er sich Stroh, welches man in Erfurt zum Brennen braucht, um sich selber in seinem Stübchen in dem kleinen Öfchen seinen Tee zu kochen, womit er endlich, nachdem er vor Rauch beinahe erstickt war, zustande kam.

Und als dies nun nur erst einmal geschehen war, so schrieb er gleichsam triumphierend an Philipp Reisern.

Jetzt, mein Lieber! bin ich in einer Lage, welche ich mir nicht reizender wünschen könnte. Ich blicke aus meinem kleinen Fenster über die weite Flur hinaus, sehe ganz in der Ferne eine Reihe Bäumchen auf einem kleinen Hügel hervorragen und denke an Dich, mein Lieber, usw. Ich habe die Schlüssel dieser einsamen Wohnung und bin hier Herr im Haus und Garten usw. Wenn ich denn manchmal so dasitze an dem kleinen Öfchen und mir selbst meinen Tee koche usw.

In dem Tone ging es fort und ward ein stattlicher und langer Brief; und als nun Reiser es nicht über das Herz bringen konnte, diesen schönen Brief nicht auch seinem kritischen Freunde, dem Doktor Sauer, zu zeigen, so verdarb dieser vollends die Sache, indem er ihm nach seiner gutmütigen Höflichkeit das Kompliment machte: wenn ihm Reisers Gegenwart nicht selbst zu lieb wäre, so würde er wünschen, entfernt zu sein, um nur solche Briefe von Reisern zu erhalten.

Und nun war auf einmal der beinahe zur Ruhe gebrachte Dichtungstrieb bei Reisern wieder angefacht. Er suchte nun zuerst sein Gedicht über die Schöpfung vollends durch das Chaos durchzuführen und hub mit neuer Qual an, in der Darstellung von gräßlichen Widersprüchen und ungeheuren labyrinthischen Verwickelungen der Gedanken sich zu verlieren, bis endlich folgende beide Hexameter, die er aus der Bibel nahm, ihn aus einer Hölle von Begriffen erlösten.

Auf dem stillen Gewässer rauschte die Stimme des Ewigen
Sanft daher und sprach: es werde Licht! und es ward Licht.

Merkwürdig war es, daß ihm nun die Lust verging, dies Gedicht weiter fortzuführen, sobald der Stoff nicht fürchterlich mehr war. Er suchte also nun einen Stoff aus, der immer fürchterlich bleiben mußte und den er in mehreren Gesängen bearbeiten wollte; was konnte dies wohl anders sein als der Tod selber!

Dabei war es ihm eine schmeichelhafte Idee, daß er als ein Jüngling sich einen so ernsten Gegenstand zu besingen wählte; daher hub er denn auch sein Gedicht an:

Ein Jüngling, der schon früh den Kelch der Leiden trank, usw.

Als er nun aber zum Werke schritt und den ersten Gesang seines Gedichts, wovon er den Titel schon recht schön hingeschrieben hatte, wirklich bearbeiten wollte, fand er sich in seiner Hoffnung, einen Reichtum von fürchterlichen Bildern vor sich zu finden, auf das bitterste getäuscht.

Die Flügel sanken ihm, und er fühlte seine Seele wie gelähmt, da er nichts als eine weite Leere, eine schwarze Öde vor sich erblickte, wo sich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende Leben wie bei der Schilderung des Chaos anbringen ließ, sondern eine ewige Nacht alle Gestalten verdeckte und ein ewiger Schlaf alle Bewegungen fesselte.

Er strengte mit einer Art von Wut seine Einbildungskraft an, in diese Dunkelheit Bilder hineinzutragen, allein sie schwärzten sich, wie auf Herkules' Haupte die grünen Blätter seines Pappelkranzes, da er sich, um den Cerberus zu fangen, dem Hause des Pluto nahte. Alles, was er niederschreiben wollte, löste sich in Rauch und Nebel auf, und das weiße Papier blieb unbeschrieben.

Über diesen immer wiederholten vergeblichen Anstrengungen eines falschen Dichtungstriebes erlag er endlich und verfiel selbst in eine Art von Lethargie und völligem Lebensüberdruß.

Er warf sich eines Abends mit den Kleidern aufs Bette und blieb die Nacht und den ganzen folgenden Tag in einer Art von Schlafsucht liegen, aus der ihn erst am Abend des folgenden Tages, wo es gerade Weihnachten war, ein Bote von seinem Gönner, dem Regierungsrat Springer, weckte, dessen Frau an Reisern ein sehr großes Weihnachtsbrot zum Geschenk übersandte.

Dies war nun gerade, was ihn in seiner unwiderstehlichen Schlafsucht noch bestärkte. Er schloß sich mit diesem großen Brote ein und lebte vierzehn Tage davon, weil er nur wenig genoß, indem er Tag und Nacht wo nicht in einem immerwährenden Schlafe, doch, die letzten Tage ausgenommen, in einem beständigen Schlummer im Bette zubrachte. Hiezu kam nun freilich der Umstand, daß er kein Holz hatte, um einzuheizen; er hätte aber auch nur ein Wort sagen dürfen, um dies Bedürfnis zu befriedigen, wenn es ihm nicht gewissermaßen selbst lieb gewesen wäre, den Mangel des Holzes als einen Beweggrund zu dieser sonderbaren Lebensart vorschützen zu können.

Reiser wurde in diesem Zustande auch von seinen Freunden nicht gestört, weil er gegen diese oft den Wunsch geäußert hatte, daß er nur einmal ein paar Wochen lang ganz einsam zu sein wünschte.

Nun hatte aber dieser Zustand eine sonderbare Wirkung auf Reisern: die ersten acht Tage brachte er in einer Art von gänzlicher Abspannung und Gleichgültigkeit zu, wodurch er den Zustand, den er vergeblich zu besingen gestrebt hatte, nun gewissermaßen in sich selber darstellte. Er schien aus dem Lethe getrunken zu haben und kein Fünkchen von Lebenslust mehr bei ihm übrig zu sein.

Die letztern acht Tage aber war er in einem Zustande, den er, wenn er ihn isoliert betrachtet, unter die glücklichsten seines Lebens zählen muß.

Durch die lange fortdaurende Abspannung hatten sich allmählich die schlafenden Kräfte wieder erholt. Sein Schlummer wurde immer sanfter; durch seine Adern schien sich ein neues Leben zu verbreiten; seine jugendlichen Hoffnungen erwachten wieder eine nach der andern; Ruhm und Beifall krönten ihn wieder; schöne Träume ließen ihn in eine goldne Zukunft blicken. Er war von diesem langen Schlafe wie berauscht und fühlte sich in einem angenehmen Taumel, sooft er von dem süßen Schlummer ein wenig aufdämmerte. Sein Wachen selber war ein fortgesetzter Traum; und er hätte alles darum gegeben, in diesem Zustande ewig bleiben zu dürfen.

Wenn er daher die gefrornen Fenster ansah, so war ihm dies der angenehmste Anblick, weil er dadurch genötigt wurde, immer noch einen Tag länger im Bette zu bleiben. Sein großes Brot auf dem Tische betrachtete er wie ein Heiligtum, das er so sehr wie möglich schonen mußte, weil von der Dauer dieses Brots mit die Dauer seines glücklichen Zustandes abhing.

Nun fühlte er sich aber auch wieder, sobald es gelten sollte, zu nichts zu schwach. Das Theater stand wieder so glänzend wie jemals vor ihm da; alle die theatralischen Leidenschaften durchstürmten wieder eine nach der andern seine Seele, und die Gemüter der Zuschauer wurden durch sein Spiel erschüttert.

Als nun sein Brot verzehrt war, stand er gegen Abend auf, ordnete seinen Anzug so gut wie möglich, und sein erster Gang war ins Theater, wo er sich in einen Winkel setzte und erstlich ein Stück, namens Inkle und Yariko, alsdann aber die Leiden des jungen Werthers aufführen sahe. Der Verfasser des letztern hatte fast nichts getan, als die Wertherschen Briefe in Dialogen und Monologen verwandelt, die denn freilich sehr lang wurden, aber doch das Publikum sowohl als die Schauspieler wegen des rührenden Gegenstandes außerordentlich interessierten.

Nun ereignete sich aber gerade bei der tragischen Katastrophe des letztern Stücks ein sehr komischer Zufall. Man hatte sich nämlich irgendwo ein paar alte verrostete Pistolen geliehen und war zu nachlässig gewesen, sie vorher zu probieren.

Der Akteur, welcher den Werther spielte, nahm sie vom Tische auf und sagte denn alles, wie es im Werther steht, buchstäblich dabei: »Deine Hände haben sie berührt; du hast selber den Staub davon abgeputzet usw.« Dann hatte er sich auch, um alles genau und vollständig darzustellen, einen Schoppen Wein und Brot bringen lassen, wozu denn der Aufwärter nicht ermangelte, auch ein Brotmesser mit auf den Tisch zu legen.

Am Ende aber war das Stück so eingerichtet, daß Werthers Freund Wilhelm, indem er den Schuß fallen hörte, hereinstürzen und ausrufen mußte: »Gott! ich hörte einen Schuß fallen!«

Dies war alles recht schön; als aber Werther das unglückliche Pistol ergriff, es an die rechte Stirne hielt und auf sich losdrückte, so versagte es ihm in seiner Hand.

Durch diesen widrigen Zufall noch nicht aus der Fassung gebracht, schleuderte der entschlossene Schauspieler das Pistol weit von sich weg und rief pathetisch aus: »Auch diesen traurigen Dienst willst du mir versagen?« Dann ergriff er plötzlich die andere, drückte sie wie die erste los, und, o Unglück! auch diese versagte ihm.

Nun erstarb ihm das Wort im Munde; mit zitternden Händen ergriff er das Brotmesser, das zufälligerweise auf dem Tische lag, und durchstach sich damit zum Schrecken aller Zuschauer Rock und Weste. – Indem er nun fiel, stürzte sein Freund Wilhelm herein und rief – »Gott! ich hörte einen Schuß fallen!«

Schwerlich kann wohl eine Tragödie sich komischer wie diese schließen. – Dies brachte aber Reisern nicht aus seiner hochschwebenden Phantasie, vielmehr bestärkte es ihn darin, weil er so etwas Unvollkommenes vor sich sahe, das durch etwas Vollkommenes ersetzt werden mußte.

Er hörte, daß in acht Tagen die Schauspieler von Erfurt abreisen und nach Leipzig gehen würden; er hörte ferner, daß der geschickteste Schauspieler unter dieser Truppe, namens Beil, einen Ruf nach Gotha erhalten hätte; er hatte also nun keinen Nebenbuhler mehr zu fürchten; Leipzig war der Ort, um zu glänzen; seine Perücke konnte er sehr geschickt unter den wiedergewachsenen Haaren verbergen. Wie viele neue Gründe, um der Leidenschaft, die schon vorher da war und nur eine Weile geschlummert hatte, aufs neue über die Vernunft den Sieg zu geben.

Er machte seinen Freunden sogleich den Entschluß bekannt, daß er gesonnen sei, mit der Speichschen Truppe nach Leipzig zu gehen, daß er einen unwiderstehlichen Trieb in sich fühle, der ihn unglücklich machen würde, wenn er ihn überwinden wollte, und der ihn in allen seinen Unternehmungen doch immerfort hindern würde.

Er stellte seine Gründe so leidenschaftlich und stark vor, daß selbst sein Freund Neries ihm nichts dagegen sagen konnte, der ihm sonst schon die reizendsten Schilderungen gemacht hatte, wie sie im künftigen Frühling wieder auf dem Steigerwalde den Klopstock lesen würden usw.

Reiser hielt sich nun schon bei den Schauspielern auf und brachte dem Regierungsrat Springer den Schlüssel zu dem Gartenhause wieder, indem er ihm auf das lebhafteste seinen unglücklichen Zustand schilderte, wenn er den Trieb zum Theater unterdrücken wollte.

Der Regierungsrat Springer behandelte Reisern auch hier noch auf die toleranteste Art. Er riet ihm selber, wenn der Trieb bei ihm so unwiderstehlich sei, demselben zu folgen, weil dieser Trieb, der immer wiedergekehrt war, vielleicht einen wahren Beruf zur Kunst in sich enthielte, dem er sich alsdann nicht entziehen solle. Wäre aber das Gegenteil und sollte Reiser sich selber täuschen und in seiner Unternehmung nicht glücklich sein, so möchte er sich unter jeden Umständen und in jeder Lage dreist wieder an ihn wenden und seiner Hülfe versichert sein.

Reiser nahm mit so gerührtem Herzen Abschied, daß er kein Wort vorbringen konnte, so sehr hatte die Großmut und Nachsicht dieses Mannes sein Gemüt bewegt. Er machte sich selber beim Weggehen die bittersten Vorwürfe, daß er sich einer solchen Liebe und Freundschaft jetzt nicht würdiger zeigen konnte.

Als nun Reiser, um Abschied zu nehmen, zum Doktor Froriep kam, welcher seinen Entschluß durch Neries schon wußte, so wurde er von diesem ebenso nachsichtsvoll wie von seinem andern Gönner behandelt; und der Doktor Froriep erklärte sich, daß er seinen Entschluß ihm nicht nur nicht widerraten, sondern ihn vielmehr darin bestärken würde, wenn die Schaubühne schon in dem Maße eine Schule der Sitten wäre, als sie es eigentlich sein könnte und sein sollte.

Eine kleine Ironie fügte er denn doch am Ende nicht ohne Grund hinzu, indem er zu seiner kleinen Tochter, die er auf dem Arme trug, sagte: Wenn du groß bist, so wirst du denn auch einmal von dem berühmten Schauspieler Reiser hören, dessen Name in ganz Deutschland berühmt ist! Aber auch diese sehr wohlgemeinte Ironie blieb bei Reisern fruchtlos, der sich demohngeachtet mit inniger Rührung und bittern Vorwürfen gegen sich selber an alles das erinnerte, was der Doktor Froriep für ihn schon getan hatte und wovon er nun selbst den Endzweck vereitelte.

Allein es schien ihm nunmehro Pflicht der Selbsterhaltung, allen diesen innern Vorwürfen kein Gehör zu geben, weil er sich fest überzeugt glaubte, daß er der unglücklichste Mensch sein würde, wenn er seiner Neigung nicht folgte.

Die Speichsche Truppe aber war die letzten Wochen wegen Mangel an Einnahme in die äußerste Armut geraten. Der Direktor Speich reiste mit der Garderobe allein nach Leipzig voraus, und von den übrigen Schauspielern mußte ein jeder selbst zusehen, daß er so gut wie möglich den Ort seiner Bestimmung erreichte; einige reisten zu Pferde, andere zu Wagen und noch andere zu Fuß, nachdem es die Umstände eines jeden erlaubten, denn die gemeinschaftliche Kasse war längst erschöpft: in Leipzig aber hoffte man nun, bald sich wieder zu erholen.

Reiser machte sich denn auch denselben Nachmittag, wo er Abschied genommen hatte, zu Fuß auf den Weg, und sein Freund Neries begleitete ihn zu Pferde bis nach dem nächsten Dorfe auf dem Wege nach Leipzig, wo Neries am künftigen Sonntage predigen wollte.

Nachdem sie im Gasthofe eingekehrt waren und sich noch einmal aller der seligen Szenen erinnert hatten, die sie genossen haben wollten, wenn sie am Abhange des Steigers Klopstocks Messiade zusammen lasen, so machte sich Reiser wieder auf den Weg, und Neries begleitete ihn noch eine ganze Strecke hin, bis es dunkel wurde.

Da umarmten sie sich und nahmen auf die rührendste Weise voneinander Abschied, indem sie sich bei diesem Abschiede zum erstenmal Bruder nannten. Reiser riß sich los und eilte schnell fort, indem er seinem Freunde zurief: Nun reit zurück!

Als er aber schon in einiger Entfernung war, sah er sich wieder um und rief noch einmal: Gute Nacht! Sobald er dies Wort gesagt hatte, war es ihm fatal, und er ärgerte sich darüber, sooft es ihm wieder einfiel. Denn die ganze empfindsame Szene hatte selbst in der Erinnerung dadurch einen Stoß erlitten, weil es komisch klingt, einem, dem man auf lange Zeit oder vielleicht auf immer schon Lebewohl gesagt hat, nun noch einmal ordentlich eine gute Nacht zu wünschen, gleichsam als wenn man am andern Morgen wieder einen Besuch bei ihm ablegen würde. –

Es war eine schneidende Kälte. Reiser aber wanderte nun, ohne irgendeine Bürde zu tragen, mit reizenden Aussichten auf Ruhm und Beifall seine Straße fort.

Oft, wenn er auf eine Anhöhe kam, stand er ein wenig still und übersah die beschneiten Fluren, indem ihm auf einen Augenblick ein sonderbarer Gedanke durch die Seele schoß, als ob er sich wie einen Fremden hier wandeln und sein Schicksal wie in einer dunkeln Ferne sähe. – Diese Täuschung verschwand aber ebenso bald, wie sie entstand; und er dachte dann wieder im Gehen vor sich, wie Leipzig aussehen, in was für Rollen er auftreten würde usw.

Auf die Weise legte er den Weg von Erfurt nach Leipzig sehr vergnügt zurück; im Gehen aber sprach er häufig den Namen Neries aus, den er wirklich liebte, und weinte heftig dabei, bis ihm das komische ›gute Nacht‹ einfiel, welches er gar nicht in den Zusammenhang dieser rührenden Erinnerung mit zu bringen wußte.

In Erfurt hatte man ihm schon gesagt, daß er in Leipzig in dem Gasthofe ›Zum goldenen Herzen‹ einkehren müsse, wo die Schauspieler immer logierten und gleichsam dort ihre Niederlage hätten.

Als er in die Stube trat, fand er denn auch schon eine ziemliche Anzahl von den Mitgliedern der Speichschen Truppe vor, die er als seine künftigen Kollegen begrüßen wollte, indem er an allen eine außerordentliche Niedergeschlagenheit bemerkte, welche sich ihm bald erklärte, als man ihm die tröstliche Nachricht gab, daß der würdige Prinzipal dieser Truppe gleich bei seiner Ankunft in Leipzig die Theatergarderobe verkauft habe und mit dem Gelde davongegangen sei. – Die Speichsche Truppe war also nun eine zerstreuete Herde.


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