Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Ob nun gleich Neries und Reiser fast unzertrennlich beisammen waren, so sehnte sich der letztre doch wieder nach einsamen Spaziergängen, die ihm immer das reinste Vergnügen gewähret hatten; allein dies hatte er sich nun auch verleidet; denn gemeiniglich versprach er sich von einem solchen Spaziergänge zu viel und kehrte verdrießlich wieder zu Hause, wenn er nicht gefunden hatte, was er suchte; sobald das Dort nun Hier wurde, hatte es auch alle seinen Reiz verloren, und der Quell der Freude war versiegt. –

Der Verdruß, der dann in die Stelle der gereizten Hoffnung trat, war von einer so groben, gemeinen und niedrigen Art, daß auch nicht der mindeste Grad von einer sanften Melancholie oder etwas dergleichen damit bestehen konnte. Es war ohngefähr die Empfindung eines Menschen, der ganz vom Regen durchnäßt ist, und indem er vor Frost schaudernd zu Hause kehrt, auch noch eine kalte Stube findet.

Ein solches Leben führte Reiser und schrieb dabei immer an seiner Abhandlung gegen die falsche Empfindsamkeit fort, wobei er denn bei seinen einsamen Spaziergängen einmal eine sonderbare Äußerung von Empfindsamkeit bei einem gemeinen Menschen bemerkte, bei dem er dieselbe am wenigsten erwartet hätte.

Er ging nämlich zwischen den Gärten von Erfurt spazieren, und da es gerade in der Pflaumenzeit war, so konnte er sich nicht enthalten, von einem überhangenden Aste eine schöne reife Pflaume abzupflücken, welches der Eigentümer des Gartens bemerkte, der ihn sehr unsanft mit den Worten anfuhr, ob er wohl wisse, daß die Pflaume, die er da abgepflückt hätte, ihm einen Dukaten kosten würde.

Reiser suchte abzudingen, mußte aber zugleich gestehen, daß er keinen Heller Geld bei sich habe. Um nun aber den Eigentümer des Gartens wegen der geraubten Pflaume einigermaßen zu befriedigen, mußte er ihm sein einziges gutes Schnupftuch aus der Tasche geben, dessen Verlust ihm sehr leid tat.

Als er nun traurig wegging, sah er, nachdem er nur wenige Schritte getan hatte, ein schönes Einlegemesser vor sich auf der Erde liegen; er hob es geschwind auf und rief den Gärtner wieder zurück, dem er einen Tausch antrug, ob er nicht für das gefundene Messer ihm sein Schnupftuch zurückgeben wolle?

Wie erstaunte Reiser, als nun der Gärtner, der vorher so grob gegen ihn gewesen war, ihm auf einmal um den Hals fiel und küßte und sich seine Freundschaft ausbat; weil Reiser notwendig ein Günstling der Vorsehung sein müsse, da sie ihn gerade das Messer habe finden lassen, welches niemand anders als der Gärtner selbst verloren hatte, der nun Reisern sein Schnupftuch mit Freuden wiedergab und ihn zugleich versicherte, daß sein Garten ihm zu jeder Zeit offen stände, um so viel Pflaumen, wie er wollte, zu pflücken, und daß er ihm in jeder Sache dienen würde, wo er nur könnte; denn ein so außerordentlicher Fall sei ihm noch nicht vorgekommen.

Als Reiser im Weggehen über diesen sonderbaren Zufall nachdachte, fiel er ihm um so mehr auf, weil dies das erstemal in seinem Leben war, daß ihm ein eigentlich glückliches Ereignis begegnete, wobei mehrere Umstände sich vereinigen mußten, die sich sonst selten zu vereinigen pflegen.

Sein Glück scheinet sich in dieser Kleinigkeit gleichsam ganz erschöpft zu haben, um ihn im Großen wieder desto mehr büßen zu lassen, was er auf keine andre Weise als durch sein Dasein verschuldet hatte.

Es war wie bei dem Landprediger von Wakefield, der einen ganz ungewöhnlich glücklichen Wurf mit den Würfeln tat, indem er mit seinem Freunde um wenige Pfennige spielte, kurz vorher, ehe er die Nachricht von dem Bankerott des Kaufmanns erhielt, durch welchen er sein ganzes Vermögen verlor.

Noch eine kleine Weile hielt das Schicksal die Demütigungen zurück, welche es Reisern zugedacht hatte, und ließ ihn noch ungestört in seinem Vergnügen, das ihm nun die zweite Komödienaufführung gewährte und worin ihm drei Rollen zuteil geworden waren.

Sein sehnlichster Wunsch war doch also nun einigermaßen erfüllt, ob er gleich in keiner tragischen Rolle hatte glänzen können. Und was noch mehr war, so hatte man eine Art von Zutrauen zu seinen theatralischen Einsichten, man fragte ihn um Rat, und er wurde nun durch seine Teilnehmung an der Komödie sowohl als durch seine geschriebenen Gedichte unter den Studenten noch mehr bekannt, die ihm mit Höflichkeit begegneten, welches ihm für seine Lage auf der Schule in Hannover ein angenehmer Ersatz war.

Dabei besuchte er nun fleißig die Universitätsbibliothek, wo er einen besondern Gefallen daran fand, des Du Halde Beschreibung von China zu studieren, und sehr viele Zeit damit verschwendete.

Grade damals erschien auch: Siegwart, eine Klostergeschichte, und er las mit seinem Freunde Neries das Buch zu mehreren Malen durch, und beide taten sich bei der entsetzlichsten Langenweile Zwang an, in der einmal angefangenen Rührung alle drei Bände hindurch zu bleiben.

Am Ende hatte Reiser nichts weniger im Sinne, als die ganze Geschichte in ein historisches Trauerspiel zu bringen, wozu er würklich allerlei Entwürfe machte und die schöne Zeit damit verschwendete.

Wenn es ihm dann nicht, wie er wünschte, geraten wollte, so hatte er nach jeder vergebnen Anstrengung dieser Art die trübseligsten und widrigsten Stunden, die man sich nur denken kann. Die ganze Natur und alle seine eigenen Gedanken hatten dann ihren Reiz für ihn verloren, jeder Moment war ihm drückend, und das Leben war ihm im eigentlichen Verstande eine Qual.

Die Leiden der Poesie

können daher wohl in jedem Betracht eine eigene Rubrik in Reisers Leidensgeschichte ausmachen, welche seinen innern und äußern Zustand in allen Verhältnissen darstellen sollen und wodurch dasjenige gewiß werden soll, was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch ihnen selbst unbewußt und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen.

Diese geheimen Leiden waren es, womit Reiser beinahe von seiner Kindheit an zu kämpfen hatte.

Wenn ihn der Reiz der Dichtkunst unwillkürlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmütige Empfindung, in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlor, wogegen alles, was er je gehört, gelesen oder gedacht hatte, sich verlor, und dessen Dasein, wenn es nun würklich von ihm dargestellt wäre, ein bisher noch ungefühltes, unnennbares Vergnügen verursachen würde.

Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob dies ein Trauerspiel oder eine Romanze oder ein elegisches Gedicht werden sollte; genug, es mußte etwas sein, das würklich eine solche Empfindung erweckte, wovon der Dichter gewissermaßen schon ein Vorgefühl gehabt hatte.

In den Momenten dieses seligen Vorgefühls konnte die Zunge nur stammelnde einzelne Laute hervorbringen. Etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden, zwischen denen die Lücken des Ausdrucks mit Punkten ausgefüllt sind.

Diese einzelnen Laute aber bezeichneten denn immer das Allgemeine von groß, erhaben, Wonnetränen und dergleichen. – Dies dauerte denn so lange, bis die Empfindung in sich selbst wieder zurücksank, ohne auch nur ein paar vernünftige Zeilen zum Anfange von etwas Bestimmten ausgeboren zu haben.

Nun war also während dieser Krisis nichts Schönes entstanden, woran sich die Seele nachher hätte festhalten können, und alles andre, was würklich schon da war, wurde nun keines Blickes mehr gewürdiget. Es war, als ob die Seele eine dunkle Vorstellung von etwas gehabt hätte, was sie selbst nicht sein konnte und wodurch ihr eigenes Dasein ihr verächtlich wurde.

Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im allgemeinen zum Dichten veranlaßt und bei dem nicht die schon bestimmte Szene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung oder wenigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detail der Szene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen.

Und gewiß ist nichts gefährlicher, als einem solchen täuschenden Hange sich zu überlassen; die warnende Stimme kann nicht früh genug dem Jüngling zurufen, sein Innerstes zu prüfen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stelle der Kraft tritt, und weil er diese Stelle nie ausfüllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genusses bleibt.

Dies war der Fall bei Reisern, der die besten Stunden seines Lebens durch mißlungene Versuche trübete, durch unnützes Streben nach einem täuschenden Blendwerke, das immer vor seiner Seele schwebte und, wenn er es nun zu umfassen glaubte, plötzlich in Rauch und Nebel verschwand.

Wenn nun je der Reiz des Poetischen bei einem Menschen mit seinem Leben und seinen Schicksalen kontrastierte, so war es bei Reisern, der von seiner Kindheit an in einer Sphäre war, die ihn bis zum Staube niederdrückte und wo er, bis zum Poetischen zu gelangen, immer erst eine Stufe der Menschenbildung überspringen mußte, ohne sich auf der folgenden erhalten zu können.

So ging es ihm nun jetzt wieder in seiner äußerlichen Lage; er hatte eigentlich keine Stube für sich, sondern mußte, da es nun anfing kälter zu werden, mit in der gemeinschaftlichen Stube wohnen, deren Einwohner, wenn ausgefegt wurde, so lange herausgehen mußten.

In dieser Stube wohnte die ganze Familie nebst Reisern und noch einem Studenten, und jeder nahm seine Besuche von Fremden darin an; es wurde darin erzählt, von Kindern gelärmt, gesungen, gezankt und geschrieen; und dies war nun die nächste Umgebung, worin Reiser seine philosophische Abhandlung über die Empfindsamkeit schreiben und seine poetischen Ideale außer sich darstellen wollte.

Hier sollte also nun das Trauerspiel Siegwart geschrieben werden, das sich mit seiner Einkehr bei dem Einsiedler anhub, welches immer Reisers Lieblingsidee und die Lieblingsidee fast aller jungen Leute zu sein pflegt, welche sich einbilden, einen Beruf zur Dichtkunst zu haben.

Dies ist sehr natürlich, weil der Zustand eines Einsiedlers gewissermaßen an sich selber schon Poesie ist und der Dichter seinen Stoff schon beinahe vorgearbeitet findet.

Wer aber zuerst auf solche Gegenstände fällt, bei dem ist es auch fast immer ein Zeichen, daß bei ihm keine echte poetische Ader stattfinde, weil er die Poesie in den Gegenständen sucht, die in ihm selber schon liegen müßte, um jeden Gegenstand, der sich seiner Einbildungskraft darbietet, zu verschönern.

So ist die Wahl des Schrecklichen ebenfalls ein schlimmes Zeichen, wenn das vermeinte poetische Genie gleich zuerst darauf verfällt; denn freilich macht sich hier das Poetische auch schon von selber, und die innere Leerheit und Unfruchtbarkeit soll durch den äußern Stoff ersetzt werden.

Dies war der Fall bei Reisern schon in Hannover auf der Schule, wo er Meineid, Blutschande und Vatermord in einem Trauerspiele zusammenzuhäufen suchte, das der Meineid heißen sollte, und wobei er sich dann immer die wirkliche Aufführung des Stücks und zugleich den Effekt dachte, den es auf die Zuschauer machen würde.

Dies zweite Zeichen sollte ebenfalls für jeden, der sich wegen seines poetischen Berufes sorgfältig prüft, schon abschreckend sein. Denn der wahre Dichter und Künstler findet und hofft seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Arbeit selbst Vergnügen und würde dieselbe nicht für verloren halten, wenn sie auch niemanden zu Gesicht kommen sollte. Sein Werk zieht ihn unwillkürlich an sich, in ihm selber liegt die Kraft zu seinen Fortschritten, und die Ehre ist nur der Sporn, der ihn antreibt.

Die bloße Ruhmbegier kann wohl die Begier einhauchen, ein großes Werk zu beginnen, allein die Kraft dazu kann sie dem nie gewähren, der sie nicht schon besaß, ehe er selbst die Ruhmbegier noch kannte.

Noch ein drittes schlimmes Zeichen ist, wenn junge Dichter ihren Stoff sehr gerne aus dem Entfernten und Unbekannten nehmen; wenn sie gern morgenländische Vorstellungsarten und dergleichen bearbeiten, wo alles von den Szenen des gewöhnlichen nächsten Lebens der Menschen ganz verschieden ist; und wo also auch der Stoff schon von selber poetisch wird.

Dies war denn auch der Fall bei Reisern; er ging schon lange mit einem Gedicht über die Schöpfung schwanger, wo der Stoff nun freilich der allerentfernteste war, den die Einbildungskraft sich denken konnte, und wo er statt des Detail, vor dem er sich scheute, lauter große Massen vor sich fand, deren Darstellung man denn für die eigentlich erhabene Poesie hält und wozu die unberufenen jungen Dichter immer weit mehr Lust haben als zu dem, was dem Menschen naheliegt; denn in dies letztere muß freilich ihr Genie die Erhabenheit erst hereintragen, welche sie in jenem schon vor sich zu finden glauben.

Reisers äußere Lage wurde hiebei mit jedem Tage drückender, weil die gehoffte Unterstützung aus Hannover nicht erfolgte und seine Hausleute ihn immer mehr mit scheelen Blicken ansahen, je mehr sie inne wurden, daß er weder Geld besitze noch welches zu hoffen habe. Sein Frühstück und Abendbrot, was er hier genoß, war er nicht mehr imstande zu bezahlen, und man ließ ihm deutlich merken, daß man nicht länger willens sei, ihm zu borgen; da man also keinen Nutzen von ihm ziehen konnte und er überdem ein trauriger Gesellschafter war, so war es natürlich, daß man seiner los zu sein wünschte und ihm die Wohnung aufkündigte.

So wenig auffallend dies nun an sich war, so tragisch nahm es Reiser. Der Gedanke des Lästigseins und daß er von den Leuten, unter denen er lebte, gleichsam nur geduldet würde, machte ihm wiederum seine eigene Existenz verhaßt. Alle Erinnerungen aus seiner Jugend und Kindheit drängten sich zusammen. Er häufte selber alle Schmach auf sich und wollte verzweiflungsvoll sich einem blinden Schicksal aufs neue überlassen.

Er wollte noch an diesem Tage wieder aus Erfurt gehen, und tausenderlei romanhafte Ideen durchkreuzten sich in seinem Kopfe, worunter eine ihm besonders reizend schien, daß er in Weimar bei dem Verfasser von Werthers Leiden wollte Bedienter zu werden suchen, es sei unter welchen Bedingungen es wolle; daß er auf die Art gleichsam unerkannter Weise so nahe um die Person desjenigen sein würde, der unter allen Menschen auf Erden den stärksten Eindruck auf sein Gemüt gemacht hatte; er ging vors Tor und blickte nach dem Ettersberge hinüber, der wie eine Scheidewand zwischen ihm und seinen Wünschen lag.

Nun ging er zu Froriep, um Abschied von ihm zu nehmen, ohne ihm eine eigentliche Ursache sagen zu können, weswegen er Erfurt wieder verlassen wolle. Der Doktor Froriep schob diesen Entschluß auf seine Melancholie, redete ihm zu, daß er bleiben solle, und entließ ihn nicht eher, bis Reiser ihm versprochen hatte, wenigstens heute und morgen noch nicht abzureisen.

Diese Teilnehmung an seinem Schicksale war nun zwar für Reisern wieder sehr schmeichelhaft; sobald er sich aber wieder allein fand, verfolgte der Gedanke des Lästigseins in seiner nächsten Umgebung ihn wie ein quälender Geist, er hatte nirgends Ruhe noch Rast, streifte in den einsamsten Gegenden von Erfurt umher, in der Gegend des Kartäuserklosters, wohin er sich nun im Ernst wie nach einem sichern Zufluchtsorte sehnte und wehmütig nach den stillen Mauern hinüberblickte.

Dann irrte er weiter umher, bis es Abend wurde, wo der Himmel sich mit Wolken überzog und ein starker Regen fiel, der ihn bald bis auf die Haut durchnetzte. Der Fieberfrost, welcher sich nun zu den innern Unruhen seines Gemüts gesellte, trieb ihn in Sturm und Regen umher bei altem Gemäuer und durch einsame öde Straßen; denn in seine bisherige Wohnung zurückzukehren, davon konnte er den Gedanken nicht ertragen.

Er stieg die hohe Treppe zu dem alten Dom hinauf, band sich ein Tuch um den Kopf und suchte sich unter altem Gemäuer eine Weile vor dem Regen zu schützen. Vor Müdigkeit fiel er hier in eine Art von betäubendem Schlummer, aus dem er durch einen neuen Regenguß und durch das Getöse des Windes wieder erweckt wurde und aufs neue durch die Straßen irrte.

Indem ihm nun der Regen ins Gesicht schlug, fiel ihm die Stelle aus dem Lear ein: to shut me out, in such a night as this! (die Türen vor mir zu verschließen, in einer Nacht wie diese!) Und nun spielte er die Rolle des Lear in seiner eigenen Verzweiflung durch und vergaß sich in dem Schicksale Lears, der, von seinen eigenen Töchtern verbannt, in der stürmischen Nacht umherirrt und die Elemente auffordert, die entsetzliche Beleidigung zu rächen.

Diese Szene hielt ihn hin, daß er sich eine Zeitlang den Zustand, worin er war, mit einer Art von Wollust dachte, bis auch dies Gefühl abgestumpft wurde und ihm nun am Ende nichts als die leere Wirklichkeit übrig blieb, welche ihn in ein lautes Hohnlächter über sich selbst ausbrechen ließ.

In dieser Stimmung kehrte er wieder zu dem alten Dom zurück, der nun schon eröffnet war, und wo die Chorherren sich zur Frühmette bei Licht versammleten. Das alte gotische Gebäude, die wenigen Lichter, der Widerschein von den hohen Fenstern machten auf Reisern, der die ganze Nacht umhergeirrt war und sich hier auf eine Bank niedersetzte, einen wunderbaren Eindruck. Er war wie in einer Behausung vor dem Regen geschützt, und doch war dies keine Wohnung für die Lebenden. Wer vor dem Leben selber eine Freistatt suchte, den schien dies dunkle Gewölbe einzuladen, und wer eine Nacht, wie Reiser die vergangene, durchlebt hatte, konnte wohl geneigt sein, diesem Rufe zu folgen. Reiser fühlte sich auf der Bank im Dom in eine Art von Abgeschiedenheit und Stille versetzt, die etwas unbeschreiblich Angenehmes für ihn hatte, die ihn auf einmal allen Sorgen und allem Gram entrückte und ihn das Vergangene vergessen machte. Er hatte aus dem Lethe getrunken und fühlte sich in das Land des Friedens sanft hinüberschlummern. Dabei heftete sich immer sein Blick auf den blassen Widerschein von den hohen Fenstern, und dieser war es vorzüglich, welcher ihn in eine neue Welt zu versetzen schien: es war dies eine majestätische Schlafkammer, in welcher er seine Augen aufschlug, nachdem er wild die Nacht durchträumt hatte.

Denn wie Träume eines Fieberkranken waren freilich solche Zeitpunkte in Reisers Leben, aber sie waren doch einmal darin und hatten ihren Grund in seinen Schicksalen von seiner Kindheit an. Denn war es nicht immer Selbstverachtung, zurückgedrängtes Selbstgefühl, wodurch er in einen solchen Zustand versetzt wurde? Und wurde nicht diese Selbstverachtung durch den immerwährenden Druck von außen bei ihm bewirkt, woran freilich mehr der Zufall schuld war als die Menschen?

Als der Tag angebrochen war, kehrte Reiser mit ruhigerm Gemüte aus dem Dom zurück und begegnete auf der Straße seinem Freunde Neries, der schon früh ein Kollegium besuchte und welcher erschrak, da er Reisern ins Gesicht sahe, so sehr hatte diese Nacht ihn abgemattet und entstellt.

Neries ruhete nicht eher, bis Reiser ihm seinen ganzen Zustand entdeckt hatte. Nach freundschaftlichen Vorwürfen, daß Reiser nicht mehr Zutrauen zu ihm gehabt, brachte er ihn wieder nach seiner alten Wohnung, suchte ihn dort den Leuten in einem andern Lichte darzustellen und tilgte die geringe Schuld seines Freundes.

Diese aufrichtige Teilnehmung seines Freundes stärkte bei Reisern wieder das erkrankte Selbstgefühl; er war gewissermaßen stolz auf seinen Freund und ehrte sich in ihm.

Nun bedung er sich aus, um allein sein zu können, einen Verschlag auf dem Boden des Hauses zu beziehen, wohin man ihm auch ein Bette gab und wo er nun wieder, ganz sich selbst gelassen, ein paar nicht unangenehme Wochen zubrachte.

Er las und studierte hier oben und würde in dieser Abgezogenheit völlig glücklich gewesen sein, wenn ihn sein Gedicht über die Schöpfung nicht gequält hätte, welches machte, daß er oft wieder in eine Art von Verzweiflung geriet, wenn er Dinge ausdrücken wollte, die er zu fühlen glaubte und die ihm doch über allen Ausdruck waren.

Was ihm die meiste Qual machte, war die Beschreibung des Chaos, welche beinahe den ganzen ersten Gesang seines Gedichts einnahm und worauf er mit seiner kranken Einbildungskraft am liebsten verweilen mochte, aber immer für seine ungeheuren und grotesken Vorstellungen keine Ausdrücke finden konnte.

Er dachte sich eine Art von falscher täuschender Bildung in das Chaos hinein, welche im Nu wieder zum Traum und Blendwerk wurde; eine Bildung, die weit schöner als die wirkliche, aber eben deswegen von keinem Bestand und keiner Dauer war.

Eine falsche Sonne stieg am Horizont herauf und kündigte einen glänzenden Tag an. – Der bodenlose Morast überzog sich unter ihrem trügerischen Einfluß mit einer Kruste, auf welcher Blumen sproßten, Quellen rauschten; plötzlich arbeiteten sich die entgegenstrebenden Kräfte aus der Tiefe empor, der Sturm heulte aus dem Abgrunde, die Finsternis brach mit allen ihren Schrecknissen aus ihrem verborgenen Hinterhalt hervor und verschlang den neugeborenen Tag wieder in ein furchtbares Grab. Die immer in sich selbst zurückgedrängten Kräfte begannen mit Grimm nach allen Seiten sich auszudehnen und seufzten unter dem lastenden Widerstande. Die Wasserwogen krümmten sich und klagten unter dem heulenden Windstoß. In der Tiefe brüllten die eingeschlossenen Flammen, das Erdreich, das sich hob, der Felsen, der sich gründete, versanken mit donnerndem Getöse wieder in den alles verschlingenden Abgrund. –

Mit dergleichen ungeheuren Bildern zerarbeitete sich Reisers Phantasie in den Stunden, wo sein Innres selber ein Chaos war, in welchem der Strahl des ruhigen Denkens nicht leuchtete, wo die Kräfte der Seele ihr Gleichgewicht verloren und das Gemüt sich verfinstert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm verschwand und Traum und Wahn ihm lieber war als Ordnung, Licht und Wahrheit.

Und alle diese Erscheinungen gründeten sich gewissermaßen wieder in dem Idealismus, wozu er sich schon natürlich neigte und worin er durch die philosophischen Systeme, die er in Hannover studierte, sich noch mehr bestärkt fand. Und auf diesem bodenlosen Ufer fand er nun keinen Platz, wo sein Fuß ruhen konnte. Angstvolles Streben und Unruhe verfolgten ihn auf jedem Schritte.

Dies war es, was ihn aus der Gesellschaft der Menschen auf Böden und Dachkammern trieb, wo er oft in phantastischen Träumen noch seine vergnügtesten Stunden zubrachte, und dies war es, was ihm zugleich für das Romantische und Theatralische den unwiderstehlichen Trieb einflößte.

Durch seinen gegenwärtigen innern und äußern Zustand war er nun wiederum ganz und gar in der idealischen Welt verloren, was Wunder also, daß bei der ersten Veranlassung seine alte Leidenschaft wieder Feuer fing und er wiederum seine Gedanken auf das Theater heftete, welches bei ihm nicht sowohl Kunstbedürfnis als Lebensbedürfnis war.

Diese Veranlassung ereignete sich sehr bald, da die Speichsche Schauspielertruppe nach Erfurt kam und Erlaubnis erhielt, auf dem Ballhause zu spielen, wo auch die Studenten ihre Komödien aufgeführt hatten.

Reiser war hier schon einmal bekannt und hatte sogar einen gewissen Ruf wegen seiner Schauspielertalente erhalten, wodurch er dem Prinzipal dieser kleinen Truppe sogleich bekannt wurde, der ihn engagieren wollte, sobald er Lust hätte, Schauspieler zu werden.

Diese Versuchung, daß ihm das, wornach er mit allen Mühseligkeiten des Lebens kämpfend vergeblich gestrebt hatte, nun auf einmal wie von selbst sich anbot, war für Reisern zu stark. Er setzte jede Rücksicht aus den Augen und lebte und webte nur in der Theaterwelt, für die er nun wieder wie in Hannover bis auf den Komödienzettel enthusiastische Verehrung hegte und die Mitglieder bis auf den Souffleur und Rollenschreiber mit einer Art von Neid betrachtete.

Einer, namens Beil, der sich damals unter dieser Truppe befand und nachher ein berühmter Schauspieler geworden ist, zog am meisten seine Neugier auf sich. Er zeichnete sich unter den Mitgliedern dieser Truppe am vorzüglichsten aus, und Reiser wünschte nichts sehnlicher, als seine Bekanntschaft zu machen, welches ihm auch nicht schwer wurde; er entdeckte diesem Beil seinen Wunsch, der ihn denn auch in seinem Entschluß, sich dem Theater zu widmen, bestärkte und an welchem Reiser nun zugleich einen Freund zu finden hoffte.

Er setzte nun jede Rücksicht beiseite, suchte den Gedanken an den Doktor Froriep und an seinen Freund Neries so viel wie möglich vor sich selber zu verbergen und engagierte sich, ohne jemanden etwas davon zu sagen, bei dem Prinzipal der Truppe; er hatte den Mut und die Hoffnung, in der ersten Rolle sich so zu zeigen, daß jedermann seinen Entschluß billigen würde.

Nun kam es auf die erste Rolle an, worin er auftreten sollte; und zufälligerweise traf es sich, daß in einigen Tagen die Poeten nach der Mode gespielt werden sollten, worin man ihm eine Rolle antrug.

Er wünschte sich, den Dunkel zu spielen, und hatte die Rolle schon auswendig gelernt, als sein neuer Freund, der Schauspieler Beil, ihm davon abriet, weil er selbst immer diese Rolle gespielt habe und sie ihm vorzüglich gut gelungen sei, Reiser möchte also lieber den Reimreich übernehmen, weil ein wenig bedeutender Schauspieler diese Rolle besitze.

Reiser ließ sich auch dies sehr gern gefallen, weil er durch den Maskaril und den Magister Blasius, welche Rollen er doch beide mit Beifall gespielt, sich auch einige Stärke im Komischen zutrauete.

Er schrieb sich also seine Rolle auf und lernte sie auswendig. Er war wirklich in der Aussicht auf seine theatralische Laufbahn vollkommen glücklich, als eine Bemerkung, die unter diesen Hoffnungen die fürchterlichste für ihn war, ihn mit Angst und Schrecken erfüllte. Ihm war es wie einem, den des Satans Engel mit Fäusten schlüge: er bemerkte, daß ihm der Verlust seines Haars drohte.

Gerade jetzt also, da er einen Körper ohne Fehl am notwendigsten brauchte, betraf ihn dieser Zufall, der ihn schon im voraus gegen sich selber mit Abscheu erfüllte.

Er eilte in dieser Not zu seinem treuen Freunde, dem Doktor Sauer, der ihm zu der Erhaltung seiner Haare wieder Hoffnung machte; und so fand er sich denn am Abend, wo die Poeten nach der Mode aufgeführt werden sollten, in der Garderobe hinter den Kulissen ein und kleidete sich komisch genug, um den Reimreich in seinem lächerlichsten Lichte darzustellen; sein Name stand an diesem Tage schon auf dem Komödienzettel an allen Ecken mit angeschlagen.

Als das Schauspiel bald angehen sollte, kam sein Freund Neries auf das Theater und machte ihm die bittersten Vorwürfe; Reiser ließ sich durch nichts in dem Taumel seiner Leidenschaft stören und war ganz in seine Rolle vertieft, woran sogar sein Freund Neries zuletzt mit teilnahm und über seinen komischen Anzug lachte, als auf einmal ein Bote erschien, welcher dem Prinzipal ankündigte, daß der Doktor Froriep sogleich zum Statthalter fahren und Beschwerde über ihn führen würde, wofern er es wagte, den Studenten, dessen Name auf dem Komödienzettel gedruckt stände, das Theater betreten zu lassen; Verlust seiner Konzession hier zu spielen würde die unausbleibliche Folge davon sein.

Reiser stand wie versteinert da, und der Prinzipal wußte in der Angst nicht, wozu er greifen sollte, bis sich ein Schauspieler erbot, die Rolle des Reimreich, so gut es gehen wollte, nach dem Souffleur zu spielen; denn man pochte schon im Parterre, daß der Vorhang sollte aufgezogen werden.

Wütend ging Reiser hinter den Kulissen auf und ab und zernagte seine Rolle, die er in der Hand hielt. Dann eilte er so schnell wie möglich aus dem Schauspielhause und durchirrte wieder alle Straßen bei dem stürmischen und regnigten Wetter, bis er gegen Mitternacht auf einer bedeckten Brücke, die ihn vor dem Regen schützte, vor Mattigkeit sich niederwarf und eine Weile ausruhte, worauf er wieder umherirrte, bis der Tag anbrach.

Diese äußersten Anstrengungen der Natur waren das einzige, was ihm das Verlorne in dem ersten bittersten Schmerz darüber einigermaßen ersetzen konnte. Das fortdauernde Leidenschaftliche dieses Zustandes hatte in sich etwas, das seiner unbefriedigten Sehnsucht wieder neue Nahrung gab. Sein ganzes mißlungenes theatralisches Leben drängte sich gleichsam in diese Nacht zusammen, wo er alle die leidenschaftlichen Zustände in sich durchging, die er außer sich nicht hatte darstellen können.

Am andern Tage ließ ihn der Doktor Froriep zu sich kommen und redete ihm wie ein Vater zu. Er bediente sich des schmeichelhaften Ausdrucks, daß Reisers Anlagen ihn zu etwas Besserm als zu einem Schauspieler bestimmten, daß er sich selbst verkennte und seinen eigenen Wert nicht fühlte. –

Da nun Reiser doch die Unmöglichkeit einsah, seinen Wunsch in Erfurt zu befriedigen, so täuschte er sich wiederum und überredete sich selber, daß er freiwillig der Idee sich dem Theater zu widmen entsage, weil sich alles gleichsam vereinigte, um seinen Entschluß zu hintertreiben, und die Art, wie der Doktor Froriep ihn davon abmahnte, zugleich so viel Schmeichelhaftes für ihn hatte.

Kaum aber war er wieder für sich allein, so rächte sich seine Selbsttäuschung durch erneuerten bittern Unmut, Unentschlossenheit und Kampf mit sich selber, bis nach einigen Tagen ihn der härteste Schlag traf, den er noch immer zu vermeiden hoffte, er mußte sein Haar verlieren.

Der Gedanke, nunmehro in einer Perücke, welches unter den Erfurter Studenten ganz etwas Ungewöhnliches war, erscheinen zu müssen, war ihm unerträglich. Mit dem wenigen Gelde, was er noch übrig hatte, ging er an das äußerste Ende der Stadt, wo er sich in einem Gasthof einquartierte, in welchem er aber nur schlief und des Abends sich etwas Bier und Brot geben ließ, um desto länger mit seinem Gelde zu reichen.


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