Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Diese Veranlassung ereignete sich an einem trüben und regnigten Sonntagnachmittage – wo er im Chore sang – er hatte erst mit Winter gesprochen, und dieser erkundigte sich unter andern nach seiner Lektüre und wunderte sich, daß er ihn beständig lesend getroffen habe. – Reiser antwortete ihm, das sei ja noch das einzige, wodurch er sich wegen der Verachtung, der er so allgemein in der Schule und im Chore ausgesetzt wäre, einigermaßen schadlos halten könnte. –

Durch dies Gespräch mit Winter, da er in kurzem seine Situation überdachte, war sein Herz einmal lebhaften Eindrücken geöffnet worden – und nun fügte es sich gerade, daß eben der Verclas, mit dem er einst nebst G... den sterbenden Sokrates aufgeführt hatte, ihn zum Gegenstande seines groben Witzes machte und durch allerlei Anspielungen ihn bei seinen Mitschülern wieder lächerlich zu machen suchte, die denn auch bald mit einstimmten, so daß Reiser fast eine halbe Stunde lang das Ziel ihrer witzigen Einfälle war. –

Er sagte auf alles dies kein Wort und kränkte sich, indem er einsam vor sich wegging, innerlich darüber; und ob er sich gleich bemühte, seine Kränkung in Verachtung zu verwandeln, so wollte es ihm doch nicht recht damit gelingen; bis er sich endlich unvermerkt in eine bittere menschenfeindliche Laune hineinphantasierte, die durch nichts als das Andenken an seinen Philipp Reiser wieder gemildert wurde. – Da nun auch der Vorsatz, seine Empfindungen und Gedanken an ihn niederzuschreiben, herrschend geworden war, so behielt derselbe auch diesmal selbst über seinen Verdruß und seine Kränkung zuletzt die Oberhand; er suchte sich das Kränkende, was er empfunden hatte und noch empfand, in Worte einzukleiden, um es seiner Einbildungskraft desto lebhafter vorstellen zu können. – Und ehe das Chorsingen noch geendigt war, war auch schon der Aufsatz, den er zu Hause niederschreiben wollte, unter allen Geräusch und Spott und Hohngelächter, das ihn umgab, völlig vollendet – und die Freude darüber erhob ihn gewissermaßen über sich selbst und seinen eigenen Kummer. – Sobald er zu Hause kam, schrieb er mit einer sonderbaren gemischten wehmütigen Empfindung, voll Schmerz über seinen Zustand und voll Freude, daß es ihm gelungen war, durch die Sprache ein lebhaftes Bild von seinem Zustande zu entwerfen, folgende Worte nieder:
 

An Reiser!

Wie traurig ist doch das Dasein der Menschen – und dieses nichtige Dasein machen wir uns noch selbst einander unerträglich, statt daß wir durch vertrauliche Geselligkeit uns in dieser Wüste des Lebens einander unsre Last erleichtern sollten. – –

Ist es nicht genug, daß wir im beständigen Wahn und Irrtum wie in einem bezauberten Lande herumirren?

Müssen uns auch noch Ungeheuer anschreien? – Muß auch noch ein boshafter Satyr uns mit seinem Hohngelächter die Seele durchbohren?

Wie öde, wie traurig ist hier alles um mich her! – Und ich muß verlassen und einsam hier herumirren – keine Stütze, kein Führer! –

Wohl mir! einen Haufen erblick ich dort; Menschen, mir gleich, auch diese Wüste durchirrend. –

›O nehmt mich auf, Freunde, nehmt mich auf, daß ich mit euch diese Wüste durchziehe; und sie wird mir zur grünenden Aue werden!‹

Sie nehmen mich auf – wohl mir! – –

Weh mir! – was seh ich? – Sind das noch die Menschen, meine Brüder? –

Ach, ihre Larve fällt ab – und Teufel sinds – und zur Hölle wird mir nun die Wüste. –

Ich fliehe, und ihr Hohngelächter heulet mir nach – –

›So habt ihr mich betrogen, menschliche Larven? – Ha, keine Larve soll mich wieder betrügen! – Nun sei mir willkommen, Nacht, und du Einsamkeit, und du, schwärzeste Melancholei. – Alle ihr lachenden Scherze und alle ihr tobenden Freuden, Larven des Todes, seid auf ewig von mir verbannt!‹ –

So ging ich und dachte, und finsterer Gram erfüllte meine Seele. –

Als plötzlich ein Jüngling vor mir stand – den Freund verkündigte sein Blick – Empfindung sprach sein sanftes Auge – schleunig wollt ich entfliehn – aber er faßte so vertraulich meine Hand – und ich blieb stehn – er umarmte mich, ich ihn – unsre Seelen flossen zusammen. –

Und um uns wards Elysium. –
 

Reiser hätte wirklich kein wahreres Bild als dieses von seinem damaligen Zustande entwerfen können – in allem, was er sagte, war nichts Übertriebenes – denn die Menschen, mit denen er zunächst durchs Leben ging, wurden wirklich für ihn quälende Geister – und zu den anschreienden Ungeheuern gehörte vorzüglich Verclas, dessen grober und doch boshafter Witz Reisern den Sonntagnachmittag bis tief in die Seele gekränkt hatte, da dieser Verclas doch sonst immer von ihm ein Freund hatte sein wollen – wenigstens war er und der Landesverwiesene G... noch die einzigen, die nach der Aufführung der Komödie mit Reisern umgingen, weil sie mit ihm ein gleiches Schicksal des Hasses und der Verachtung aller ihrer Mitschüler teilten – und selbst dieser Verclas stellte sich nun mit auf die Seite derer, welchen Reiser ein Gegenstand des Spottes war – und veranlaßte diesen Spott sogar durch seine groben Witzeleien, womit er sich auf Reisers Kosten lustig machte. – Dies alles vereinigte sich nun, ihn in die menschenfeindliche Laune zu versetzen, worin er den vorhergehenden Aufsatz entwarf. – Durch das Andenken an Philipp Reisern, und weil doch auch der Sohn des Kantors, sein ehemaliger Feind, anfing, sein Freund zu werden, milderte dies schon seine bittere Laune so weit, daß er am Schluß seines Aufsatzes einlenkte und den sanften Empfindungen wieder Gehör gab. –

Auf diese Weise hatte er nun in seinem Tagebuche schon verschiedene kleine Aufsätze an seinen Freund entworfen, als der Frühling wieder herankam und zu Ostern die gewöhnliche öffentliche Schulprüfung gehalten wurde, wobei er denn auch erschien. –

Aber wie sehr wurde sein Mut niedergeschlagen, da er sich gegen die übrigen betrachtete und sich gerade unter allen am schlechtesten gekleidet sahe – er saß da wie verloren; auf ihn wurde gar keine Rücksicht genommen – keine einzige Frage an ihn getan. –

Den Vormittag hielt er es aus – aber als er den Nachmittag wieder hinging und sich aufs neue unter dem ihn umgebenden Haufen wie verloren sahe – konnte er es nicht länger aushalten – er ging wieder fort, ehe noch die Prüfung anging. –

Und nun eilte er gerade zum Tore hinaus – es war ein trüber neblichter Himmel – und ging auf ein kleines Wäldchen zu, das nicht weit von Hannover liegt. –

Sobald er aus dem Gewühle der Stadt war und die Türme von Hannover hinter sich sah, bemächtigten sich seiner tausend abwechselnde Empfindungen. – Alles stellte sich ihm auf einmal aus einem andern Gesichtspunkte dar – er fühlte sich aus alle den kleinlichen Verhältnissen, die ihn in jener Stadt mit den vier Türmen einengten, quälten und drückten, auf einmal in die große offene Natur versetzt und atmete wieder freier – sein Stolz und Selbstgefühl strebte empor – sein Blick schärfte sich auf das, was hinter ihm lag, und faßte es in einem kleinen Umfange zusammen. –

Er sahe da die Priester mit ihren schwarzen Mänteln und Kragen die Treppe hinaufsteigen und seine Mitschüler versammlet und Prämien unter sie austeilen, und dann wie ein jeder wieder nach Hause ging und sich alles so im Zirkel drehte – und in dem Umfange der Stadt, die nun hinter ihm lag, und von der er sich immer weiter entfernte, alles das sich durchkreuzende Gewimmel. – Alles schien ihm da so dicht, so klein ineinander zu laufen, wie der zusammengedrängte Haufen Häuser, den er noch in der Ferne sahe – und nun dachte er sich hier auf dem freien Felde die Stille, und daß ihn niemand bemerkte, niemand ihm eine hämische Miene machte – und dort das lärmende Gewühl, das Rasseln der Wagen, denen er aus dem Wege gehn mußte, die Blicke der Menschen, die er scheute – das alles malte sich in seiner Einbildungskraft im kleinen und erweckte ein wunderbares Gefühl in ihm, wie am Abend der Tag sich von der Dämmerung scheidet und die eine Hälfte des Himmels noch vom Abendrot erhellt ist, indes die andere schon im Dunkel ruht. –

Er fühlte ungewöhnliche Kraft in seiner Seele, sich über alles das hinwegzusetzen, was ihn darnieder drückte – denn wie klein war der Umfang, der alle das Gewirre umschloß, in welches seine Besorgnisse und Bekümmernisse verflochten waren, und vor ihm lag die große Welt. –

Aber dann kehrte wieder das wehmütige Gefühl zurück: wo sollte er nun in dieser großen öden Welt festen Fuß fassen, da er sich aus allen Verhältnissen herausgedrängt sahe? – Da wo auf einem kleinen Fleck der Erde die menschlichen Schicksale zusammenlaufen, war es nichts, gar nichts! –

Ihm fiel ein, daß verdrängt zu werden von Kindheit an sein Schicksal gewesen war – wenn er bei irgend etwas zusehen wollte, wobei es darauf ankam, sich hinzuzudrängen, so war jeder andere dreister wie er und drängte sich ihm vor – er glaubte, es sollte etwa einmal eine Lücke entstehen, wo er, ohne jemanden vor sich hinwegzudrängen, sich in die Reihe mit einfügen könnte – aber es entstand keine solche Lücke – und er zog sich von selbst zurück und sahe nun in der Ferne dem Gedränge zu, indem er einsam dastand. –

Und wenn er nun so einsam dastand, so gab ihm der Gedanke, daß er dem Gedränge nun so ruhig zusehen konnte, ohne sich selbst hineinzumischen, schon einigen Ersatz für die Entbehrung desjenigen, was er nun nicht zu sehen bekam – allein fühlte er sich edler und ausgezeichneter als unter jenem Gewimmel verloren. – Sein Stolz, der sich emporarbeitete, siegte über den Verdruß, den er zuerst empfand – daß er an den Haufen sich nicht anschließen konnte, drängte ihn in sich selbst zurück – und veredelte und erhob seine Gedanken und Empfindungen. –

Dies war nun auch der Fall bei dem einsamen Spaziergange an dem trüben und regnigten Nachmittage, wo er den hämischen Blicken seiner versammleten Mitschüler und der gänzlichen Vernachlässigung und dem unerträglichen Nichtbemerktwerden, das ihm bevorstand, entfloh, indem er aus dem Tore von Hannover dem einsamen Walde zueilte. –

Dieser einsame Spaziergang entwickelte auf einmal mehr Empfindungen in seiner Seele und trug mehr zur eigentlichen Bildung seines Geistes bei – als alle Schulstunden, die er je gehabt hatte, zusammengenommen. –

Dieser einsame Spaziergang war es, welcher Reisers Selbstgefühl erhöhte, seinen Gesichtskreis erweiterte und ihm eine anschauliche Vorstellung von seinem eignen wahren, isolierten Dasein gab; das bei ihm auf eine Zeitlang an keine Verhältnisse mehr geknüpft war, sondern in sich und für sich selbst bestand. –

Indem er einen Blick auf das Ganze des menschlichen Lebens warf, lernte er zuerst das Große im Leben von dessen Detail unterscheiden.

Alles, was ihn gekränkt hatte, schien ihm klein, unbedeutend und nicht der Mühe des Nachdenkens wert. –

Aber nun stiegen andre Zweifel, andre Besorgnisse in seiner Seele auf – die er schon lange bei sich genährt hatte – über den in undurchdringliches Dunkel gehüllten Ursprung und Zweck, Anfang und Ende seines Daseins – über das Woher und Wohin bei seiner Pilgrimschaft durchs Leben – die ihm so schwer gemacht wurde, ohne daß er wußte, warum? – Und was nun endlich aus dem allen kommen sollte. –

Dies erregte in ihm eine tiefe Melancholie. So wie er mühsam über die dürre Heide vor dem Walde im gelben Sande fortwanderte, umzog sich der Himmel immer trüber, indes ein feiner Staubregen seine Kleider durchnetzte – als er in den Wald kam, schnitt er sich einen Dornstock und wanderte weiter fort – da kam er an ein Dorf und machte sich eben allerlei süße Vorstellungen von dem stillen Frieden, der in diesen ländlichen Hütten herrschte, als er sich in einem der Häuser ein paar Leute, die wahrscheinlich Mann und Frau waren, zanken und ein Kind schreien hörte. –

Also ist überall Unmut und Mißvergnügen und Unzufriedenheit, wo Menschen sind, dachte er und setzte seinen Stab weiter fort. – Die einsamste Wüste wurde ihm wünschenswert – und da ihn endlich auch in dieser die tödliche Langeweile quälte, so blieb das Grab sein letzter Wunsch – und weil er nun nicht einsah, warum er sich die Jahre seines Lebens hindurch in der Welt von allen Seiten hatte müssen drücken, stoßen und wegdrängen lassen, so zweifelte er endlich an einer vernünftigen Ursach seines Daseins – sein Dasein schien ihm ein Werk des schrecklichen blinden Ohngefährs. –

Es wurde früher wie gewöhnlich Abend, weil der Himmel trübe war und es stärker anfing zu regnen – und da er zu Hause wieder anlangte, war es schon völlig dunkel – er setzte sich bei seiner Lampe nieder und schrieb an Philipp Reisern:

›Vom Regen durchnetzt und von Kälte erstarrt kehr ich nun zu dir zurück, und wo nicht zu dir – zum Tode – denn seit diesem Nachmittage ist mir die Last des Lebens, wovon ich keinen Zweck sehe, unerträglich. – Deine Freundschaft ist die Stütze, an der ich mich noch festhalte, wenn ich nicht unaufhaltsam in dem überwiegenden Wunsche der Vernichtung meines Wesens versinken will.‹ –

Und nun erwachte auf einmal wieder der Gedanke, sich den Beifall seines Freundes durch den Ausdruck seiner Empfindungen zu erwerben. – Dies war gleichsam die neue Stütze, woran sich seine Lebenslust wieder festhielt – und da den Nachmittag alle seine Empfindungen so äußerst stark und lebhaft gewesen waren, so wurde es ihm nicht schwer, sie wieder zurückzurufen. – Er hub also an:

Dir, Freund, will ich mein Leiden klagen,
O könnten dir es Worte sagen:
Ich weiß, du fühltest meinen Schmerz –
Mich kränkt nicht hoffnungslose Liebe,
Nicht kränkten unerfüllte Triebe
Nach Ehr und Gold mein Herz. –

Dieser Anfang bezog sich zum Teil auf Philipp Reisers verliebte Launen, womit ihn dieser oft quälte, indem er ihm alle die allmählichen Fortschritte erzählte, die er in der Gunst seines Mädchens getan hatte – und seine Hoffnungen und Aussichten, die sich alle auf die Erreichung der Gegengunst seines Mädchens beschränkten. – Wofür nun Anton Reiser gar keinen Sinn hatte, dem es nie eingefallen war, sich die Liebe eines Mädchens zu erwerben, weil er es für ganz unmöglich hielt, daß ihm bei seiner schlechten Kleidung und bei der allgemeinen Verachtung, der er ausgesetzt war, je ein solcher Versuch gelingen würde. –

Denn so wie er die Verachtung, welche auf seinen Geist fiel, gleichsam mit zu sich selber rechnete, so rechnete er auch die schlechte Kleidung mit zu seinem Körper, der ihm denn ebenso wenig liebenswürdig als sein Verstand achtungswürdig vorkam. – Kurz, es war ihm der ungereimteste Gedanke von der Welt, daß er je von einem Frauenzimmer geliebt werden sollte. – Denn von den Helden, die in den Romanen und Komödien, die er gelesen hatte, von Frauenzimmern geliebt wurden, machte er sich ein so hohes Ideal, das er nie zu erreichen imstande zu sein glaubte. – Die eigentlichen Liebesgeschichten waren ihm daher auch höchst langweilig, und am langweiligsten die Erzählungen von den Liebesabenteuern, womit ihn sein Freund Philipp Reiser unterhielt, und die er manche Stunde bloß aus Gefälligkeit für ihn anhörte.

Übrigens fielen diese Erzählungen seines Freundes immer sehr ins Romanhafte. – Die ganze Prozedur vom ersten freundschaftlichen Händedruck bis zur eigentlichen wechselseitigen Liebeserklärung mit allen Zweifeln, Besorgnissen und allmählichen Fortschritten, die dazwischen liegen, ging ihren vorgeschriebenen Gang wie in den Romanen – und was nun Anton Reiser in den Romanen gänzlich übergeschlagen oder doch nur flüchtig durchgelesen hatte, das mußte er sich jetzt von seinem Freunde der Länge nach erzählen lassen. –

Der Gedanke, daß ihn z. B. nicht hoffnungslose Liebe, sondern ganz andre Dinge kränkten, war also der natürlichste Eingang zu dem Gedicht an Philipp Reisern.

Seine Zweifel und Besorgnisse wegen seines ängstlichen zwecklosen Daseins waren es, die ihn niederdrückten, und er fuhr fort:

         Die Qual, die meine Seele fühlet,
         Die mörderisch im Herzen wühlet,
         Verbannet jede andre Pein –
         Wer gab, in Tiefen hinzuschauen,
         Um selbst mein Elend mir zu bauen,
         Mir doch den tollen Vorwitz ein?

         Grundlose Tiefen, die den Blicken
         Nur Nacht und Graun entgegen schicken,
         Und lohnen mit Melancholei –
         Sie kömmt, daß auf dem ehrnen Throne
         Sie nun in meiner Seele wohne,
         Und rufet ihr Gefolg herbei. –

Nun kam das Gefolge: die Sorgen, der Gram:

Ihm folgt, den Tod in ihren Blicken,
Verzweiflung, ihre Köcher schicken
Die letzten Pfeile auf mich ab –              

Nun sank die Melodie der aufeinanderfolgenden Empfindungen wieder in sanftes Mitleid mit sich selber zurück:

         Ja, jede Lust muß ich nun meiden,
         Mir blühen nicht des Lenzes Freuden, usw.

Hievon erhob sich der Gang der Ideen zu allgemeinen Betrachtungen über das Leben, die sich aber zuletzt wieder in eben den schrecklichen Zweifeln endigten, von welchen die Melodie ausgegangen war:

         Mein Pfad geht über dürre Heide,          Hier flieht mich höhnend jede Freude          Und läßt nur Ekel mir zurück.          

Ich wandre – doch wohin ich reise?
         Woher? – das sage mir der Weise,
         Der mehr als ich mich selber kennt –
         Mein Dasein – das sich kaum entschwinget
         Dem Augenblick, der es verschlinget,
         Und bang nach seinem Ziele rennt;

         Wem soll ich dieses Dasein danken?
         Wer setzt ihm diese engen Schranken?
         Aus welchem Chaos stiegs empor?
         In welche greuelvolle Nächte
         Sinkts – wenn des Schicksals ehrne Rechte
         Mir winket zu des Todes Tor? – –

Dies Gedicht floß gleichsam aus seiner Seele. – Selbst der Reim und das Versmaß machte ihm nur wenige Schwierigkeit, und er schrieb es in weniger als einer Stunde nieder. – Nachher fing er bald an, Gedichte zu machen, bloß um Gedichte zu machen, und dies gelang ihm nie so gut. 

Aber der Frühling und Sommer des Jahres 1775 verfloß ihm nun ganz poetisch. – Die angenehmen Shakespearenächte, welche er im Winter mit Philipp Reisern zugebracht hatte, wurden nun durch noch angenehmere Morgenspaziergänge verdrängt. –

Nicht weit von Hannover, wo der Fluß einen künstlichen Wasserfall bildet, ist ein kleines Gehölz, welches man nicht leicht irgendwo angenehmer und einladender finden kann. –

Hierher wurden Wallfahrten noch vor Sonnenaufgang angestellt – die beiden Wanderer nahmen sich ihr Frühstück mit, und wenn sie nun im Walde angelangt waren, so beraubten sie eine Menge Baumstämme ihres Mooses und bereiteten sich einen weichen Sitz, worauf sie sich lagerten und, wenn sie ihr Frühstück verzehrt hatten, sich einander wechselsweise vorlasen. – Hierzu wurden besonders Kleists Gedichte ausgewählt, die sie bei dieser Gelegenheit beinahe auswendig lernten.

Wenn sie dann am andern Tage wieder hinkamen, so suchten sie im ganzen Wäldchen erst ihren gestrigen Platz wieder und fanden sich nun hier wie zu Hause in der großen freien Natur, welches ihnen eine ganz besondere herzerhebende Empfindung war. – Alles in diesem großen Umkreise um sie her gehörte ihren Augen, ihren Ohren und ihrem Gefühl – das junge Grün der Bäume, der Gesang der Vögel und der kühle Morgenduft.

Wenn sie dann wieder heimkehrten, so ging Philipp Reiser in seine Werkstatt und machte Klaviere, indes Anton Reiser die Schule besuchte, wo nun größtenteils schon eine ganz andere Generation seiner Mitschüler war, so daß er auch hier mit leichterm Herzen hingehen konnte. –

In manchen Stunden suchte dann Anton Reiser auch seine geliebte Einsamkeit wieder, ob er nun gleich einen Freund hatte – und wenn irgendein schöner Nachmittag war, so hatte er sich auf einer Wiese vor Hannover längst dem Flusse ein Plätzchen ausgesucht, wo ein kleiner klarer Bach über Kiesel rollte, der sich zuletzt in den vorbeigehenden Fluß ergoß. – Dies Plätzchen war ihm nun, weil er es immer wieder besuchte, auch gleichsam eine Heimat in der großen ihn umgebenden Natur geworden; und er fühlte sich auch wie zu Hause, wenn er hier saß, und war doch durch keine Wände und Mauern eingeschränkt, sondern hatte den freien ungehemmten Genuß von allem, was ihn umgab. – Dies Plätzchen besuchte er nie, ohne seinen Horaz oder Virgil in der Tasche zu haben. – Hier las er Blandusiens Quell, und wie die eilende Flut

Obliquo laborat trepidare rivo.

Von hier sahe er die Sonne untergehen und betrachtete die sich verlängernden Schatten der Bäume. – An diesem Bache verträumte er manche glückliche Stunde seines Lebens. – Und hier besuchte ihn auch zuweilen die Muse, oder vielmehr, er suchte sie. – Denn er bemühte sich jetzt, ein großes Gedicht zustande zu bringen, und weil er diesmal bloß dichten wollte, um zu dichten, so gelang es ihm nicht wie vorher; der Wunsch, ein Gedicht zu machen, war diesmal eher bei ihm da als der Gegenstand, den er besingen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gutes zu folgen pflegt. –

Die Gedanken waren diesmal gesucht oder gemein – man sahe, was er schrieb, hatte sollen ein Gedicht werden. – Indes schimmerte auch durch diese schlechten Verse allenthalben seine schwermütige Laune durch – jedes lachende und angenehme Bild war gleichsam mit einem Flor überzogen. – Die Blätter färbten sich nur mit jungem Grün, um wieder zu verwelken. – Der Himmel war nur heiter, um sich wieder zu trüben. –

Philipp Reiser erteilte diesem Gedichte seinen Beifall nicht; und doch hatte Anton Reiser bei jedem Reime, den er mühsam hersetzte, darauf gerechnet. – Aber sein Freund war ein strenger und unparteiischer Richter, der nicht leicht einen matten Gedanken, einen gesuchten Reim oder ein Flickwort ungeahndet ließ. – Besonders machte er sich über eine Stelle in Anton Reisers Gedicht lustig, die hieß:

     So wechselt Lust und Schmerz im ganzen Leben ab,
     Und selbst das Leben sinkt ins stille kühle Grab. –

Philipp Reiser konnte nicht aufhören, über diese Stelle, die er in einem komischen Tone deklamierte, seinen Witz spielen zu lassen. – Er nannte seinen Freund seinen lieben Hans Sachs – und machte ihm mehr dergleichen Lobsprüche, die eben nicht allzu aufmunternd waren. – Indes ließ er ihn doch nicht ganz sinken – sondern hob einige erträgliche Stellen aus dem Gedicht heraus, denen er denn seinen Beifall nicht ganz versagte. –

Durch eine solche wechselseitige Mitteilung und fruchtbare Kritik wurde nun das Band zwischen diesen beiden Freunden immer fester geknüpft, und Anton Reisers Streben, er mochte Verse oder Prosa niederschreiben, ging unablässig dahin, sich den Beifall seines Freundes zu erwerben. –

Damals ereignete sich nun ein Vorfall, der Anton Reisers Herzen eben nicht viel Ehre zu machen scheint, ob er gleichwohl in der Natur der menschlichen Seele gegründet ist. –

Der Sohn des Pastor Marquard, welcher während der Zeit die Universität bezogen hatte und von dort schwindsüchtig wieder zurückgekommen war, wurde, nachdem man alle möglichen Mittel vergeblich angewandt, von den Ärzten aufgegeben, die in diesem Frühjahr seinen Tod als gewiß prophezeiten; und Reisers erste Gedanken, da er dies hörte, waren, wie er auf diesen Vorfall ein Gedicht machen wollte, das ihm Ruhm und Beifall und auch vielleicht die Gunst des Pastor Marquard wieder zuwege brächte. Kurz, er hatte das Gedicht schon acht Tage vorher angefangen, ehe der junge Marquard starb. –

Statt nun daß er dies Gedicht hätte machen sollen, weil er über diesen Vorfall betrübt war, suchte er sich vielmehr selbst in eine Art von Betrübnis zu versetzen, um auf diesen Vorfall ein Gedicht machen zu können. – Die Dichtkunst machte ihn also diesmal wirklich zum Heuchler. –

Allein der junge Marquard hatte sich auch die letzte Zeit um Reisern eben nicht viel bekümmert und sich seiner gegen die Spöttereien und Beleidigungen seiner Mitschüler nicht angenommen – sondern, so wie es zuweilen kam, wohl selbst mit eingestimmt. – Daß Reisern also sein Gedicht auf den jungen Marquard mehr am Herzen lag als der junge Marquard selbst, war wohl sehr natürlich, obgleich es wieder nicht zu billigen war, daß er Empfindungen log, die er nicht hatte – er war auch dabei nicht ganz einig mit sich selber, sondern sein Gewisse machte ihm häufige Vorwürfe, die er denn dadurch übertäubte, daß er sich selbst zu überreden suchte, er empfinde wirklich eine solche Wehmut über den frühen Tod des jungen Marquard, der in der Blüte seiner Jahre allen Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft dieses Lebens entrissen ward. –

Weil nun dies Gedicht im Grunde Heuchelei war, so gelang es ihm auch wiederum nicht und erhielt auch den Beifall seines Freundes nicht, der fast an jeder Zeile etwas zu tadeln fand – auch der Pastor Marquard, dem er das Gedicht überreichen ließ, nahm keine besondere Rücksicht darauf, und er erreichte also seinen Zweck dadurch gar nicht. –


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03