Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Hier besuchte ihn Philipp Reiser einmal eines Nachmittags und gab ihm den Auftrag, eine Chorarie zu verfertigen, die er alsdann in Musik setzen wolle. – Dies war für Anton Reisern ein so ehrenvoller und ermunternder Auftrag, daß er sich, sobald er allein war, zum Dichten hinsetzte, und indem er immer einen Akkord auf dem Klavier dazwischen anschlug, in weniger als einer Stunde folgende Verse hervorgebracht hatte:

     Der Herr ist Gott – o falle nieder
     Und rausche mächtig hohe Lieder
     Dem Ewgen, der dich schuf, Natur!
     Rauscht eures Gottes Lob, ihr Winde,
     Verkündigt es, ihr stillen Gründe,
     Ihr Blumen, duftet's auf der Flur!

     – – – – – –
     Ihr Wolken donnert ihm zu Ehren,
     Seid nicht zu seinem Lobe stumm,
     Ihr Höhlen und ihr Felsengänge,
     Und widerhallt die Lobgesänge
     Zu eures großen Schöpfers Ruhm!

     Und was nur lebt und denkt auf Erden,
     Das müsse ganz zum Danke werden
     Und loben Gott durch Fröhlichkeit –
     So wird dem Schöpfer aller Wesen
     Von dem, was er zum Sein erlesen,
     Ein ewigtönend Lied geweiht.

Philipp Reiser setzte also diese Verse in Musik, und sie wurden nun wirklich im Chore gesungen, ohne daß jemand den Verfasser wußte. – Das neue Stück fand viel Beifall, und jedermann war besonders mit dem Text zufrieden – es schmeichelte auch Anton Reisern nicht wenig, da er seine eignen Worte von seinen Mitschülern, die ihn so verachteten, singen und sie ihren Beifall darüber bezeigen hörte, – aber er sagte keinem einzigen, daß die Verse von ihm wären – sondern genoß lieber bei sich selbst des stillen Triumphs, den ihm dieser ungesuchte Beifall gewährte. –

Seine Gedanken waren es doch, die jetzt zu so oft wiederholten Malen, als das neue Stück gesungen wurde, die Aufmerksamkeit einer Anzahl Menschen, die sangen, und derer, die zuhörten, beschäftigten – wenn irgend etwas fähig ist, der Eitelkeit eines Menschen, der Verse macht, Nahrung zu geben, so ist es, wenn man die Gedanken und Ausdrücke desselben für würdig hält, in Musik gesetzt zu werden. – Jedes Wort scheint dadurch gleichsam einen höhern Wert zu erhalten – und die Empfindung, welche Anton Reisern darüber anwandelte, wenn er seine Arien singen hörte, mag vielleicht bei einem jeden, der einmal sein eigenes Singestück vollstimmig und bei einer beträchtlichen Anzahl Zuschauer aufführen hörte, sich im Innern seiner Seele geregt haben; auch hat man lebende Beispiele davon, was dergleichen Triumphe für unerhörte Ausbrüche der Eitelkeit bei gewissen Personen veranlaßt haben. –

Anton Reisers Triumph dauerte nicht lange – denn sobald man erfuhr, wer der Verfasser dieser Verse sei, so fand man daran allerlei zu tadeln, und einige von den Chorschülern, welche Kleists Gedichte gelesen hatten, behaupteten geradezu, daß sie aus dem Kleist ausgeschrieben wären. – Nun mochten freilich wohl Reminiszenzien darin sein, aber der letzte Gedanke, von dem, was Gott zum Sein erlesen habe, drehte sich wieder um Reisers metaphysische Spekulation, inwiefern nur den lebenden und denkenden Geschöpfen eigentliches Dasein zugeschrieben werden könne. – Philipp Reiser war mit diesem Gedichte auch insoweit zufrieden, bis auf die Natur, die wie eine Dame vor Gott niederknieen sollte – welches zu gewagte Bild er tadelte. –

Während daß Philipp Reiser also Klaviere machte, um zu leben, beschäftigte sich Anton Reiser damit, Verse zu machen, welche jener ihm kritisieren mußte, der selbst nie einen Vers zu machen versucht hatte und also auch nicht eifersüchtig war auf ihn – vielmehr gab er ihm zuweilen selbst ein Thema zu bearbeiten – wie unter andern einmal, daß er Philipp Reisers Zustand, seine verliebten Leiden, sein Emporarbeiten und wieder Sinken in dessen Namen besingen sollte – und ohne daß damals noch an den Mond so viele Seufzer und verliebte Klagen wie nachher im Siegwart und unzähligen Liedern gerichtet waren, hub Reiser seinen Gesang an:

     Was blickest du so mitleidsvoll
     Vom Himmel, stiller Mond, mich an?
     Weißt du vielleicht den Kummer wohl,
     Den ich nur leise klagen kann? usw.

Und dann in einem der folgenden Verse in Beziehung auf Reisers Zustand:

     Oft will ich mich erheben
     Und sinke schwer zurück;
     Und fühle dann mit Beben
     Mein trauriges Geschick. –

Bei diesem allen versäumte auch Anton Reiser damals seine öffentlichen Schulstunden nicht, wo der neue Direktor, der, wie schon erwähnt ist, bei ein wenig Pedanterie doch im Grunde ein Mann von Geschmack sowohl als Kenntnissen war, Deklamationsübungen anstellte, die Reisers ganzen Ehrgeiz rege machten. –

Allein derjenige, welcher nun zum Deklamieren öffentlich auftreten wollte, mußte wenigstens ein gutes Kleid haben, welches Reisern fehlte, der außer seinem Kleide von bedientenmäßigen grauen Tuche nichts als einen alten Überrock hatte, und in keinem von beiden wagte er es aufzutreten. – Seine schlechte Kleidung war es also, welche ihm hier aufs neue im Wege stand und seinen Mut niederschlug.

Endlich wurde denn doch auch dies Hindernis gehoben, indem der Prinz wieder so viel für ihn hergab, daß ihm ein gutes Kleid konnte geschafft werden. –

Und nun ging alle sein Denken und Trachten dahin, wie er ein Gedicht verfertigen wolle, das er für würdig hielt, es öffentlich zu deklamieren. –

Nun war es gar nicht gewöhnlich, daß irgend jemand ein Gedicht, welches er deklamieren wollte, selbst verfertigte, sondern ein jeder schrieb sich irgendwo eins aus und legte beim Deklamieren das Papier vor sich hin oder gab es dem Direktor, welcher nachlas. –

Reiser hatte sich nun aber einmal darauf gesetzt, das Gedicht, welches er zuerst deklamieren wollte, selbst verfertigt zu haben – er war nun nur noch um einen würdigen Stoff verlegen, vorzüglich wünschte er einen solchen Stoff zu bearbeiten, wobei sich viel Deklamation anbringen ließe. –

Und da er nun einmal an einem schönen Abend bei hellem Mondschein ganz voll von diesem Gedanken um den Wall spazieren ging, so erinnerte er sich an ein Gedicht gegen die Gottesleugner, das er ein paar Jahre vorher wegen des deklamatorischen Ausdrucks, der darin herrschte, fast auswendig gelernt hatte, das ihm aber in Ansehung der Gedanken jetzt höchst abgeschmackt vorkam – indes wurde dieser Gegenstand ihm in dem Augenblick so lebhaft – daß er noch einmal den Spaziergang um den Wall machte und während dieser Zeit sein Gedicht der Gottesleugner in seinem Kopfe vollendet hatte. –

Seine Gedanken hatten eine eigne Wendung genommen, welche von der alltäglichen in dem Gedichte, das er auswendig wußte, ganz verschieden war. – Er dachte sich den Gottesleugner als den Sklaven des Sturmwindes, des Donners, der tobenden Elemente, der Krankheit und der Verwesung, kurz als den Sklaven aller der unvernünftigen leblosen Wesen, die stärker sind als er, und die nun seine Herren geworden sind, da er den Geist voll ewger Huld nicht verehren will. – Das Bedürfnis, einen Gott zu glauben, erwachte bei dieser Gelegenheit, da er erst bloß damit umging, ein Gedicht zu verfertigen und zu deklamieren, so mächtig in Reisers Seele, daß er gegen den, der diesen Trost ihm rauben wolle, gleichsam eine Art von gerechter Erbitterung fühlte und sich in diesem Feuer erhalten konnte, bis sein Gedicht vollendet war, das sich mit der frohen Überzeugung von dem Dasein einer vernünftigen Ursach aller Dinge, welche sind und geschehn, anhub und endigte, und bei aller Unregelmäßigkeit und dem oftmals Gezwungnen im Ausdruck doch ein Ganzes von Empfindungen ausmachte, welches Reisern bis jetzt hervorzubringen noch nicht gelungen war. – Die Mitteilung dieses Gedichts wird daher in dieser Rücksicht nicht überflüssig sein, wenn es gleich um sein selbst willen keine Aufbewahrung verdiene:

Der Gottesleugner.

     Es ist ein Gott – wohl mir! Dem Vater meiner Tage,
     Ihm dank' ich mein Geschick – er wog mir jeden Schmerz
     Und jede Freude zu – er kennet jede Plage,
     Die ich hier leiden soll – drum weine nicht, mein Herz!

     Wenn sich der Morgen schön aus brauner Nacht enthüllet,
     So töne froh dein Lied dem Ewgen, der ihn schuf!
     Und wenn sein Donner laut in hohlen Lüften brüllet,
     So töne froh dein Lied dem Ewgen, der ihn schuf!

     O freue früh und spät dich seiner, meine Seele!
     Lob' ihn – denn ein Gedank' an ihn ist Seligkeit,
     Und leben ohne Gott und denken – ist die Hölle,
     Und jeder Seelenblick ein Quell von ewgem Leid.

     Du, der du zweifelst, ob ein Gott im Himmel wohnet,
     Tor, o verbanne schnell den Zweifel aus der Brust –
     Der dir mit tausend Qual und mit der Hölle lohnet,
     Und denke einen Gott – und fühle Himmelslust!

     Du kannst, du willst ihn nicht, den guten Gott, erkennen,
     Den Geist voll ewger Huld, zum Herren über dir? –
     Wohl! – so erkenne denn die Qualen, die dich brennen,
     Der Elemente Wut zu Herren über dir –

     Droht dir am Himmel hoch ein schwarzes Donnerwetter,
     Braust dort das hohle Meer – ruft hier ein offnes Grab –
     Dann, Frevler, bete an! – denn das sind deine Götter,
     Die dir Vernünftigen dein toller Wahnsinn gab!

     Und droht die Krankheit dir mit schreckendem Gefieder –
     Nagt nun am Herzen dir – und grinset dann der Tod,
     Des Grabes Schreckenbild dich an – so falle nieder
     Vor ihm und bet ihn an! – Verwesung ist dein Gott!

     Dann sinke in dein Grab – vereine mit dem Staube
     Die Seele, die dein Wahn hier in dir selbst begrub –
     Und werde, wenn du kannst, dem ewgen Nichts zum Raube,
     Du, den zum denkenden Geschöpfe Gott erhub. –

     Wer seinen Gott verkennt, dem wird die Welt zur Hölle –
     Er selbst ist nur ein Traum, und um ihn her ist Wahn –
     Doch denke einen Gott, und schnell wirds um dich helle –
     Und deine Seele schwingt sich mächtig himmelan. –

Durch die Empfindungen, welche während der Zeit, daß er dies Gedicht verfertigte, in ihm abwechselten, war wirklich seine ganze Seele erschüttert – er bebte vor dem schrecklichen Abgrunde des blinden Ohngefährs, an dessen Rande er schon stand, mit Schaudern und Entsetzen zurück und schmiegte sich gleichsam mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in die tröstende Idee von dem Dasein eines alles regierenden und lenkenden gütigen Wesens hinein. –

Da nun dies Gedicht auch seines Freundes völligen Beifall fand, so lernte er es auswendig, und den nächsten Tag in der Woche, da Deklamationsübung war, nahm er sich vor, es zu deklamieren. – Er erschien hierbei mit seinem neuangeschafften Kleide, das sich ziemlich gut ausnahm und das erste feine Kleid war, welches er in seinem Leben trug – das war ein nicht unbedeutender Umstand bei ihm. – Das neue Kleid, wodurch er sich nun seinen Mitschülern, von denen er so lange durch seine schlechte Kleidung ausgezeichnet gewesen war, wieder gleichgesetzt sahe, flößte ihm Mut und Zutrauen zu sich selber ein; und was das Sonderbarste war, so schien es ihm auch mehr Achtung bei andern zu erwerben, die nun erst mit ihm sprachen, da sie sich vorher gar nicht um ihn bekümmert hatten. –

Und da er nun vollends in dem Hörsaale, wo er so lange ein Gegenstand der allgemeinen Verachtung gewesen war, auf dem Katheder vor seinen versammleten Mitschülern öffentlich auftrat, um sein von ihm selbst verfertigtes Gedicht zu deklamieren, so erhob sich sein niedergedrückter Geist zum ersten Male wieder, und es erwachten wieder Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft in seiner Seele. –

Er hatte dem Direktor eine Abschrift von dem Gedichte zum Nachlesen gegeben, die ihm dieser wieder zurückgab, ohne daß Reiser in Versuchung geriet, ihm zu sagen, daß er das Gedicht selbst verfertigt habe – er war mit dem innern Bewußtsein davon zufrieden, und es war ihm angenehm, wenn seine Mitschüler sich bei ihm erkundigten, wo das Gedicht, das er deklamiert hätte, stünde, und er ihnen dann irgendeinen Dichter nannte, woraus er es abgeschrieben habe. –

Reiser bat sich vom Direktor die Erlaubnis aus, in der künftigen Woche noch einmal deklamieren zu dürfen, und da er diese erhielt, änderte er das Gedicht an Philipp Reisern:

Dir, Freund, will ich mein Leiden klagen

etwas um und gab ihm die Überschrift: ›Die Melancholie.‹ – Er ließ dies Gedicht nun anfangen:

     Der Seele Leiden will ich klagen –
     Könnt ihr es, Worte, halb nur sagen,
     O sagts und lindert meinen Schmerz!      

Die letzte Strophe:

     Wem soll ich dieses Dasein danken?
     Wer setzt ihm diese engen Schranken?
     Aus welchem Chaos stiegs empor?
     In welche greuelvolle Nächte
     Sinkts, wenn des Schicksals ehrne Rechte
     Mir winket zu des Todes Tor?

deklamierte er mit einem wirklichen Pathos, das er in Stimme und Bewegung äußerte, und blieb, nachdem er schon stillgeschwiegen hatte, noch einen Augenblick mit emporgehobnen Arm stehen, der gleichsam ein Bild seines fortdaurenden unaufgelösten schrecklichen Zweifels blieb.

Da er nun von dem Direktor die Abschrift seines Gedichts wieder zurückerhielt, gab ihm dieser seinen Beifall mit seiner Deklamation zu erkennen und sagte zugleich, die beiden Gedichte, welche er deklamiert hätte, wären sehr gut ausgewählt. –

Dies war denn doch zu viel für Reisern, als daß er länger der Versuchung hätte widerstehen können, den Direktor wissen zu lassen, daß die Gedichte von ihm selber wären, und den Beifall, der jetzt nur seine Auswahl traf, für seine Arbeit einzuernten.

Indes schwieg er jetzt noch stille und wartete ein paar Tage, bis er ohnedem zu dem Direktor gehen mußte, um ihm einen lateinischen Aufsatz, den er, so wie seine Mitschüler, wöchentlich zur Übung im Stil verfertigen mußte, zur Durchsicht zu bringen; und bei dieser Gelegenheit überreichte er denn dem Direktor eine Abschrift von den beiden Gedichten, die er deklamiert hatte, und sagte ihm, daß er selbst der Verfasser davon wäre. –

Des Direktors Mienen, der ihn sonst ziemlich gleichgültig angesehen hatte, heiterten sich sichtbar gegen ihn auf, da er dies sagte, und von dem Augenblick an schien dieser Mann sein Freund zu werden – er ließ sich mit ihm in ein Gespräch über die Dichtkunst ein, erkundigte sich nach seiner Lektüre, und Reiser ging mit freudenvollen Herzen über die gute Aufnahme seiner Gedichte zu Hause. –

Den andern Tag verkündigte er Philipp Reisern sein Glück, der sich aufrichtig mit ihm darüber freute, daß man nun einmal aufhören würde, ihn zu verkennen, und nun vielleicht glücklichere Tage auf ihn warteten. –

Nun fügte es sich, daß Reiser in der folgenden Woche am Montag Morgen etwas spät in die erste Lehrstunde kam, welche der Direktor hielt, und in welcher er die lateinischen Aufsätze ohne Nennung der Namen öffentlich zu beurteilen pflegte. – Und da er nun in den Hörsaal trat, hörte er den Anfang seines Gedichts ›Der Gottesleugner‹ vom Direktor, der auf dem Katheder saß, ablesen und Zeile vor Zeile kritisieren. – Reiser konnte erst kaum seinen Ohren trauen, da er dies hörte – sobald er hereintrat, waren aller Augen auf ihn gerichtet – denn diese öffentliche Kritik war die erste in ihrer Art. –

Der Direktor mischte so viel aufmunterndes Lob unter seinen Tadel und bezeigte über die beiden Gedichte, die Reiser deklamiert hatte, im Ganzen genommen so sehr seinen Beifall, daß dieser von dem Tage an die Achtung seiner Mitschüler, deren Spott er so lange gewesen war, erhielt und auf die Weise eine neue Epoche seines Lebens anfing. –

Sein poetischer Ruhm breitete sich bald in der Stadt aus – er bekam von allen Seiten Aufträge, Gelegenheitsgedichte zu machen – und seine Mitschüler wollten alle von ihm in der Poesie unterrichtet sein und das Geheimnis, wie man Verse machen könne, von ihm lernen. – Auch wurden dem Direktor nun so viele Verse ins Haus gebracht, daß dieser es endlich untersagen mußte – auch hat er nachher nie wieder öffentlich Verse kritisiert. –

Was Reisern am meisten bei der Sache freute, war der merkliche Fortschritt, den er seit einem Jahre in Ansehung der Bildung seines Geschmacks getan zu haben glaubte, da ihm vor einem Jahre das Gedicht an die Gottesleugner, welches er jetzt höchst abgeschmackt fand, noch so sehr gefallen hatte, daß er es der Mühe wert hielt, es auswendig zu lernen. – Aber in dies Jahr hatte sich auch die Lektüre des Shakespeare, des Werthers und der vielen vorzüglichen Gedichte in den neuen Musenalmanachen nebst seinem Studium der Wolfischen Philosophie zusammengedrängt, wozu noch die Einsamkeit und der stille ungestörte Naturgenuß kam, wodurch sein Geist zuweilen in einem Tage mehr als vorher in ganzen Jahren an Kultur gewann. – Man fing nun auch an, wieder auf ihn aufmerksam zu werden, und diejenigen, welche bisher geglaubt hatten, daß nichts aus ihm werden würde, fingen nun wieder an zu glauben, daß doch noch wohl etwas aus ihm werden könnte. –

Bei dieser bessern Wendung seines Schicksals behielt Reiser demohngeachtet noch immer seine schwermütige Laune bei, woran er nun einmal ein besonderes Behagen fand; und selbst an dem Tage, da ihm die unerwartete Ehre der öffentlichen Kritik seiner Gedichte widerfahren war, ging er den Nachmittag einsam und schwermütig bei dem trüben und regnigten Wetter in der Stadt umher – und wollte am Abend zu Philipp Reisern gehen, um diesem sein Glück zu sagen. – Da er nun hinkam, fand er ihn nicht zu Hause, und alles war ihm nun so tot, so öde – er konnte sich seines Glücks, die Achtung der Menschen, die ihn zunächst umgaben, in gewissem Maße gewonnen zu haben, nicht recht freuen, weil er es seinem Freunde nun nicht hatte erzählen können. –

Und da er nun traurig vor sich hin wieder nach Hause kehrte, verfolgte er die Idee des Nichtzuhausefindens, des Rückkehrens mit kummerbeladenem Herzen, wenn er seinem Freunde ein Leiden hätte klagen wollen, bis zu dem fürchterlichen Gedanken, daß er ihn tot gefunden habe und nun verzweiflungsvoll selbst sein Glück verwünschte, weil er das größte Glück des Lebens, einen treuen Freund, verloren hatte. – Daraus bildeten sich denn wieder folgende Verse, die er aufschrieb, als er zu Hause kam –

     Wollt' ihm sagen meine Leiden
     Und fand ihn nicht – –
     Da ging ich bekümmert
     Mit schwerem Herzen
     In meine Hütte zurück. – –

     Ich suchte meinen Freund,
     Wollt' ihm sagen meine Freuden
     Und fand ihn nicht – –
     Da ward ich so traurig,
     Als freudig ich vor war,
     Und ging und schwieg. –

     Ich suchte meinen Freund,
     Wollt' ihm sagen mein Glück
     Und fand ihn tot – –
     Da verflucht' ich mein Glück
     Und tat einen Schwur,
     So lange mein Auge noch Tränen weint,
     Zu trauren um diesen einen Freund,
     Denn diesen einen Freund hatt' ich nur. –

Um diese Zeit machte er nun auch durch den Sohn des Kantors Winter eine sehr interessante Bekanntschaft mit dem philosophischen Essigbrauer, womit ihn dieser schon vor einem halben Jahre hatte bekannt machen wollen und immer nicht dazu gekommen war. –

Winter holte ihn also eines Abends ab, und Reiser war voller Erwartung – unterwegs unterrichtete ihn Winter, wie er sich bei dem Essigbrauer nehmen, daß er nicht guten Abend und, wenn er wegginge, nicht gute Nacht sagen solle. – Dann kamen sie auf der langen Osterstraße, die voller altfränkischen Häuser ist, durch den großen Torweg über einen langen Hof in das Brauhaus, wo der Essigbrauer hinten hinaus sein abgesondertes Revier hatte, in welchem die Fässer in einem großen Verschlage, wo beständig eingeheizt ist, reihenweise nebeneinander standen, so daß sie eine Art von langen Gängen bildeten, in welchen man sich verlieren konnte. – Wenn man hier sprach, so schallte es dumpf wieder. – Da nun hier niemand zu sehen war, so fing Winter an zu rufen ubi? – und eine Stimme in der Ferne antwortete hic! – sie gingen darauf in das eigentliche Brauhaus dicht neben dem Revier, wo die Fässer standen, und der Essigbrauer in seinem weißen Kamisol und blauen Schürze mit aufgestreiften Armen stand am Fenster und schrieb – er wäre gleich fertig, sagte er, darauf gab er an Winter ein Papier, worauf einige lateinische Verse standen, die er soeben für ihn verfertigt hatte. –

Der Essigbrauer schien Reisern ein Mann von ohngefähr dreißig Jahren zu sein – in jeder Bewegung seiner Muskeln, in dem zuckenden Blick seiner Augen schien sich in sich selbst zurückgedrängte Kraft zu äußern. – Gleich der erste Anblick des Essigbrauers flößte Reisern Ehrfurcht ein – dieser aber schien sich erst gar nicht um ihn zu bekümmern, sondern sprach mit Winter über einige neue Musikalien und andere Sachen, wobei er kein Wort anders als plattdeutsch sprach und sich doch dabei so richtig und edel ausdrückte, daß selbst das gröbste Plattdeutsch in seinem Munde einen gewissen Reiz gewann, der verursachte, daß man mit Vergnügen und Bewunderung, wenn er sprach, an seinen Lippen hing, wie Reiser nachher oft erfahren hat, wenn dieser Essigbrauer zwischen seinen Fässern Weisheit lehrte. –

Weil es schon ein ziemlich kalter Herbstabend war, so führte der Essigbrauer seine beiden Gäste in seinen geheizten Prunksaal, wo die langen Reihen Fässer standen, und wo er ihnen eine Art von süßem, sehr wohlschmeckenden Bier vorsetzte, wobei denn das Gespräch allgemein wurde; und da die Rede auf einen gemeinschaftlichen Bekannten, einen alten Mann, fiel, der sehr viel Drollichtes und Sonderbares an sich hatte, fing der Essigbrauer an, den ganzen Charakter dieses Mannes mit Sternischer Laune bis auf das kleinste Detail zu schildern. – Hernach las er etwas aus dem Tom Jones mit solchem Ausdruck und einer so wahren und richtigen Deklamation vor, daß Reiser nicht leicht irgendwo eine bessere Unterhaltung gefunden hatte und dem jungen Winter beim Weggehen sein Vergnügen über diese Bekanntschaft nicht genug beschreiben konnte. –

Er besuchte von nun an entweder in Winters Gesellschaft oder allein den Essigbrauer fast alle Abend und fand sich hier, wenn sie bei der hangenden Lampe zwischen den Fässern am warmen Ofen auf ihren hölzernen Schemeln saßen und im Tom Jones lasen oder Charakterschilderungen machten, so glücklich und vergnügt, als er noch nie, ausgenommen mit Philipp Reisern, gewesen war – allein in dem Umgange mit dem Essigbrauer fühlte er sich allemal erhoben und gestärkt, sooft er bei sich erwog, daß ein Mann von solchen Kenntnissen und Fähigkeiten sich mit solcher Geduld und Standhaftigkeit der Seele seinem Schicksale unterwarf, welches ihn von allem Umgange mit der feinern Welt und von aller Nahrung des Geistes, die ihm daraus hätte zuströmen können, gänzlich ausschloß. – Und eben der Gedanke, daß ein solcher Mann so versteckt und in der Dunkelheit lebte, machte Reisern den Wert desselben noch auffallender – so wie ein Licht in der Dunkelheit stärker zu leuchten scheint, als wenn sein Glanz sich unter der Menge andrer Lichter verliert. –


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03