Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Manchmal quälte er sich stundenlang, zu versuchen, ob es möglich sei, ohne Worte zu denken. – Und dann stieß ihm der Begriff vom Dasein als die Grenze alles menschlichen Denkens auf – da wurde ihm alles dunkel und öde – da blickte er zuweilen auf die kurze Dauer seiner Existenz, und der Gedanke oder vielmehr Ungedanke vom Nichtsein erschütterte seine Seele – es war ihm unerklärlich, daß er jetzt wirklich sei und doch einmal nicht gewesen sein sollte – so irrte er ohne Stütze und ohne Führer in den Tiefen der Metaphysik umher. –

Manchmal, wenn er itzt im Chore sang und, statt daß seine Mitschüler sich miteinander unterredeten, einsam vor sich wegging und diese dann hinter ihm sagten: da geht der Melancholikus! so dachte er über die Natur des Schalles nach und suchte zu erforschen, was sich dabei mit Worten nicht ausdrücken ließ. – Dies trat nun in die Stelle seiner vorigen romantischen Träume, womit er sich sonst so manche trübe Stunde verphantasiert hatte, wenn er an einem traurigen Wintertage in Schnee und Regen im Chore sang. –

Er liehe sich nun von dem Bücherantiquarius Wolfs Metaphysik und las auch die nach der einmal angefangenen Weise durch – und wenn er nun zu dem Schuster Schantz kam, so war der Stoff zu ihren philosophischen Gesprächen weit reichhaltiger wie vorher – und sie kamen von selbst auf alle die verschiedenen Systeme, welche von den Weltweisen der alten und neuern Zeiten vorgetragen und immer von einer unzähligen Menge nachgebetet sind.

Während der Zeit war nun auch der Direktor Ballhorn, von dessen Freundschaft Reiser so viel gehofft hatte und so sehr in seiner Hoffnung getäuscht war, nach einer kleinen Stadt nicht weit von Hannover als Superintendent befördert worden und ein andrer namens Schumann an dessen Stelle gekommen. –

Diese Veränderung interessierte Reisern eben nicht sehr, der damals an nichts als an seine Metaphysik dachte. – Der neue Direktor war ein alter Mann, welcher aber Kenntnisse und viel Geschmack besaß und von Pedanterei, welches bei alten Schulmännern ein so seltener Fall ist, ziemlich frei war.

Während dieser Veränderung fielen eine große Menge Schulstunden ohnedem aus. – Reisers Versäumnis wurde also eben so merklich nicht. – Und wenn nun ja eine Versäumnis von öffentlichen Schulstunden gut genutzt worden ist, so war es die seinige – in welcher er in Zeit von ein paar Monaten mehr tat und sein Verstand mit weit mehr Begriffen als seine ganzen akademischen Jahre hindurch bereichert wurde. –

Nie hörte er wenigstens den ganzen Kursus der Philosophie so ausführlich wieder vortragen, als er ihn damals für sich durchdacht hatte – auch die übrigen Wissenschaften, als Dogmatik, Geschichte usw., hörte er nie auf der Universität so ausführlich wieder, als er sie zum Teil in Hannover auf der Schule gehört hatte.

Er hatte in seiner Jugend keinen Unterricht als im Rechnen und Schreiben genossen, welcher itzt fast gänzlich für ihn verloren ging, weil er das Rechnen nicht zu üben Gelegenheit hatte und seine Hand durch das Nachschreiben verdarb. – Nun fügte es sich, daß er einige Information im Schreiben bekam, die ihm zwar wenig oder gar nichts einbrachte, wobei er aber doch merklich seine Hand übte; da er nun wieder anfing, die Schularbeiten mitzumachen, und dem Rektor seine Exerzitien brachte, so wunderte sich dieser sehr über die Verbesserung seiner Hand und gab ihm sogleich etwas abzuschreiben, welches aber dort im Hause geschehen mußte, so daß er auf diese Weise wieder Zutritt zu dem Rektor erhielt; welches ihn denn auch mit einiger Hoffnung, sich wieder in Kredit zu setzen, belebte, die aber bald niedergeschlagen wurde, da sein Vater einmal nach Hannover herüberkam und der Pastor Marquard demselben keinen andern Trost gab, als daß sein Sohn ein Schl...l sei, aus dem nie etwas werden würde. –

Da sein Vater wieder wegreiste, begleitete er ihn bis vors Tor hinaus, und hier war es, wo ihm derselbe die tröstlichen Worte des Pastor Marquard hinterbrachte und ihm dabei die bittersten Vorwürfe machte, daß er die Wohltaten, welche man ihm erwiesen, so schlecht erkennte, wobei er ihn zugleich auf den Rock, den er trug, verwies und ihm diesen als ein unverdientes Geschenk von seinen Wohltätern schilderte. – Dies letztere brachte Reisern auf; denn der Rock, welcher von groben grauen Tuch war, das ihm ein völliges Bedientenansehen gab, war ihm immer verhaßt gewesen, und er ließ sich daher gegen seinen Vater verlauten, daß ein solcher Bedientenrock, den er zu seinem Ärger tragen müsse, eben kein großes Gefühl von Dankbarkeit bei ihm erwecken könne. –

Darüber geriet sein Vater, dem die Grundsätze von der Demütigung und Ertötung alles Stolzes und Eigendünkels aus den Schriften der Madam Guion heilig waren, in eine Art von Wut – drehte sich schnell von ihm und gab ihm seinen Fluch auf den Weg. – Reiser wurde ebenfalls hiedurch in einen Zustand versetzt, worin er sich noch nie befunden hatte, alles, was er bisher von seinem widrigen Schicksal gelitten und geduldet hatte, und daß nun auch sein Vater sogar ihn von sich stieß und ihm seinen Fluch gab, fuhr ihm auf einmal durch die Seele.

Er stieß, indem er nach der Stadt zurückging, laute Gotteslästerungen aus und war der Verzweiflung nahe – er wünschte sich wirklich vom Erdboden verschlungen zu sein – und der Fluch seines Vaters schien ihn im Ernst zu verfolgen.

Dies hemmte wieder auf eine Weile alle seine guten Vorsätze und seinen bisher freiwillig ununterbrochenen Fleiß.

Der Sommer ging nun zu Ende – und ein anhaltender körperlicher Schmerz fing nun öfter wieder an, seinen Geist niederzudrücken. Er hatte von dieser Zeit an unaufhörliches Kopfweh, welches ein ganzes Jahr anhielt, so daß fast kein Tag und keine Stunde dazwischen ausfiel, wo er sich von diesem fortdaurenden Schmerz befreit gefühlt hätte. –

Der Schneider, bei dem er nun ein Jahr gewohnt hatte, sagte ihm auch das Logis auf, und er zog in einer abgelegenen Straße bei einem Fleischer ins Haus, wo noch einige Schüler nebst ein paar gemeinen Soldaten im Quartier lagen. –

Er mußte sich hier auch mit unten in der Stube aufhalten, und seine Einrichtung mit dem Klavier und dem Bücherbrette darunter blieb wie vorher – statt des Bodens aber erhielt er oben ein kleines Kämmerchen, wo er mit noch einem Chorschüler schlief, und im Sommer, wenn es warm war, jeder für sich allein sein konnte.

Der Umgang mit seinem Wirt, dem Fleischer, mit den beiden Soldaten, die dort im Quartier lagen, und ein paar lüderlichen Chorschülern, die noch nebst ihm da wohnten, konnte zur Bildung und Verfeinerung seiner Sitten eben nicht viel beitragen. –

Alles versammlete sich im Winter des Abends in der Stube, und weil er bei dem Geräusch und Lärmen doch nicht arbeiten konnte, so mischte er sich lieber mit unter den Haufen und amüsierte sich mit den Leuten, die nun einmal den nächsten Kreis um ihn her ausmachten, so gut er konnte.

Ohngeachtet seiner immerwährenden Kopfschmerzen arbeitete er doch auch, sooft er nur ein wenig in Ruhe sein konnte, für sich und lernte auf die Weise in Zeit von einigen Wochen Französisch, indem er sich einen lateinischen Terenz mit der französischen Übersetzung liehe und sich täglich ununterbrochen selbst eine Lektion gab; er kam dadurch wenigstens so weit, daß er von der Zeit an jedes französische Buch ziemlich verstehen konnte.

Da sich indes sein äußerer Zustand nicht verbesserte und überdem noch körperlicher Schmerz ihn unaufhörlich drückte, so versetzte ihn dies in eine Seelenstimmung, wo ihm Youngs Nachtgedanken, die er damals zufälligerweise erhielt, eine höchst willkommene Lektüre waren – es deuchte ihm, als fände er hier alle seine vorigen Vorstellungen von der Nichtigkeit des Lebens und der Eitelkeit aller menschlichen Dinge wieder. – Er konnte sich nicht satt in diesem Buche lesen und lernte die Gedanken und Empfindungen, welche darin herrschen, beinahe auswendig.

Die einzige Linderung bei seinen Kopfschmerzen war, wenn er ausgestreckt rücklings auf dem Bette liegen konnte – in dieser Stellung blieb er denn oft ganze Tage lang und las – dies war der einzige ihm übriggebliebene Genuß des Lebens, an dem er sich noch festhielt, da sonst die tötendste Langeweile ihm das elende Leben, was er noch fortschleppte, unerträglich gemacht haben würde. –

Um sich nun zuweilen dem Geräusch, das ihn umgab, zu entziehen, scheute er manchmal weder Regen noch Schnee, sondern machte des Abends, wenn es dunkel wurde und er sicher war, daß er von niemanden gesehen, noch von irgendeinem Menschen würde angeredet werden, einen Spaziergang auf dem Walle um die Stadt; und bei diesen Spaziergängen war es, wo sich sein Geist immer etwas wieder ermannte und ein Funke von Hoffnung, sich aus seinem schrecklichen Zustande herauszuarbeiten, in seiner Seele wieder emporglimmte. –

Wenn er dann auf den Straßen, die an den Wall grenzten, in den Häusern Licht angesteckt sahe und sich nun dachte, daß in jeder erleuchteten Stube, deren in einem Hause oft so viele waren, eine Familie oder sonst eine Gesellschaft von Menschen oder ein einzelner Mensch lebte, und daß eine solche Stube also in dem Augenblick die Schicksale und das Leben und die Gedanken eines solchen Menschen oder einer solchen Gesellschaft von Menschen in sich faßte, und daß er auch nun nach dem vollendeten Spaziergange in eine solche Stube wieder zurückkehren würde, wo er gleichsam hingebannt und wo der eigentliche Fleck seines Daseins wäre, so brachte dies bei ihm zuerst eine sonderbare demütigende Empfindung hervor, als sei nun sein Schicksal unter diesen unendlichen verwirrten Haufen sich einander durchkreuzender menschlicher Schicksale gleichsam verloren und werde dadurch klein und unbedeutend gemacht. – Dann erhoben aber auch eben diese Lichter in den einzelnen Stuben in den Häusern am Walle zuweilen seinen Geist wieder, wenn er einen Überblick des Ganzen daraus schöpfte und sich aus seiner eigenen kleinen einengenden Sphäre, wodurch er sich unter allen diesen im Leben unbemerkten und unausgezeichneten Bewohnern der Erde mitverlor, herausdachte und sich ein besonderes ausgezeichnetes Schicksal prophezeite, wovon die süße Vorstellung, indem er dann mit schnellen Schritten vorwärts ging, ihn aufs neue mit Hoffnung und Mut belebte.

Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in einem fremden ihm unbekannten Hause, wo er sich eine Anzahl Familien dachte, von deren Leben und Schicksalen er ebensowenig als sie von den seinigen wußte, hat nachher beständig sonderbare Empfindungen in ihm erweckt – die Eingeschränktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich.

Er fühlte die Wahrheit: man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind, nur einer.

Sich in das ganze Sein und Wesen eines andern hineindenken zu können, war oft sein Wunsch – wenn er so auf der Straße zuweilen dicht neben einem ganz fremden Menschen herging – so wurde ihm der Gedanke der Fremdheit dieses Menschen, der gänzlichen Unbewußtheit des einen von dem Namen und Schicksalen des andern so lebhaft, daß er sich, so dicht es der Wohlstand erlaubte, an einen solchen Menschen andrängte, um auf einen Augenblick in seine Atmosphäre zu kommen und zu versuchen, ob er die Scheidewand nicht durchdringen könnte, welche die Erinnerungen und Gedanken dieses fremden Menschen von den seinigen trennte. –

Noch eine Empfindung aus den Jahren seiner Kindheit ist vielleicht nicht unschicklich, hier herangezogen zu werden – er dachte sich damals zuweilen, wenn er andere Eltern als die seinigen hätte und die seinigen ihn nun nichts angingen, sondern ihm ganz gleichgültig wären. – – Über den Gedanken vergoß er oft kindische Tränen – seine Eltern mochten sein, wie sie wollten, so waren sie ihm doch die liebsten – und er hätte sie nicht gegen die vornehmsten und gütigsten vertauscht. – Aber zugleich kam ihm auch schon damals das sonderbare Gefühl von dem Verlieren unter der Menge, und daß es noch so unzählig viele Eltern mit Kindern außer den seinigen gab, worunter sich diese wieder verloren – –

Sooft er sich nachher in einem Gedränge von Menschen befunden hat, ist eben dies Gefühl der Kleinheit, Einzelnheit und fast dem Nichts gleichen Unbedeutsamkeit in ihm erwacht. – – Wieviel ist des mir gleichen Stoffes hier! welch eine Menge von dieser Menschenmasse, aus welcher Staaten und Kriegsheere, so wie aus Baumstämmen Häuser und Türme gebauet werden! –

Das waren ohngefähr die Gedanken, die damals ein dunkles Gefühl in ihm hervorbrachten, weil er sie nicht in Worte einzukleiden und sie sich nicht deutlich zu machen wußte.

Einmal, da vier Missetäter auf dem Rabensteine vor Hannover geköpft wurden, ging er unter der Menge von Menschen mit hinaus und sahe nun vier darunter, welche aus der Zahl der übrigen ausgetilget und zerstückt werden sollten. – Dies kam ihm so klein, so unbedeutend vor, da der ihn umgebenden Menschenmasse noch so viel war – als ob ein Baum im Walde umgehauen oder ein Ochse gefällt werden sollte – und da nun die Stücken dieser hingerichteten Menschen auf das Rad hinaufgewunden wurden und er sich selbst und die um ihn her stehenden Menschen ebenso zerstückbar dachte – so wurde ihm der Mensch so nichtswert und unbedeutend, daß er sein Schicksal und alles in dem Gedanken von tierischer Zerstückbarkeit begrub – und sogar mit einem gewissen Vergnügen wieder zu Hause ging und seinen Haarteig auf dem Wege verzehrte – denn es war damals gerade sein schreckliches Vierteljahr, wo er manche Tage bloß von diesem Teige lebte. – Nahrung und Kleidung war ihm gleichgültig so wie Tod und Leben – ob nun eine solche bewegliche Fleischmasse, deren es eine so ungeheure Anzahl gibt, auf der Welt mehr umhergeht oder nicht! – Dann konnte er sich nicht enthalten, sich immer an den Platz der zerstückten und in Stücken auf das Rad gewundenen hingerichteten Missetäter zu stellen – und dachte dabei, was schon Salomo gedacht hat: ›Der Mensch ist wie das Vieh; wie das Vieh stirbt, so stirbt er auch.‹ –

Wenn er von dieser Zeit an ein Tier schlachten sahe, so hielt er sich immer in Gedanken damit zusammen – und da er es bei dem Schlächter auch so oft zu sehen Gelegenheit hatte, so ging eine ganze Zeitlang sein bloßes Denken dahin – den Unterschied zwischen sich und einem solchen Tier, das geschlachtet wird, auszumitteln. – Er stand oft stundenlang und sah so ein Kalb mit Kopf, Augen, Ohren, Mund und Nase an; und lehnte sich, wie er es bei fremden Menschen machte, so dicht wie möglich an dasselbe an, oft mit dem törichten Wahn, ob es ihm nicht vielleicht möglich würde, sich nach und nach in das Wesen eines solchen Tieres hineinzudenken – es lag ihm alles daran, den Unterschied zwischen sich und dem Tiere zu wissen – und zuweilen vergaß er sich bei dem anhaltenden Betrachten desselben so sehr, daß er wirklich glaubte, auf einen Augenblick die Art des Daseins eines solchen Wesens empfunden zu haben. – Kurz, wie ihm sein würde, wenn er z. B. ein Hund, der unter Menschen lebt, oder ein anderes Tier wäre – das beschäftigte von Kindheit auf schon oft seine Gedanken. – Und da er sich nun den Unterschied zwischen Körper und Geist gedacht hatte, so war ihm nichts wichtiger, als zugleich irgendeinen wesentlichen Unterschied zwischen sich und dem Tiere aufzufinden, weil er sich sonst nicht überreden konnte, daß das Tier, welches ihm in seinem Körperbau so ähnlich war, nicht ebenso wie er einen Geist haben sollte. –

Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstörung und Zerstückelung des Körpers? – Alle die Gedanken von so viel tausend Menschen, die vorher durch die Scheidewand des Körpers bei einem jeden voneinander abgesondert waren und nur durch die Bewegung einiger Teile dieser Scheidewand einander wieder mitgeteilt wurden, schienen ihm nach dem Tode der Menschen in eins zusammenzufließen – da war nichts mehr, das sie absonderte und voneinander trennte – er dachte sich den übrig gebliebenen und in der Luft herumfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerflatterte. –

Und dann schien ihm aus der ungeheuren Menschenmasse wieder eine so ungeheure unförmliche Seelenmasse zu entstehen wo er immer nicht einsahe, warum gerade so viel und nicht mehr und nicht weniger da wären, und weil die Zahl ins Unendliche fortzugehen schien, das Einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts wurde.

Diese Unbedeutsamkeit, dies Verlieren unter der Menge war es vorzüglich, was ihm oft sein Dasein lästig machte.

Nun ging er einmal eines Abends traurig und mißmutig auf der Straße umher – es war schon in der Dämmerung, aber doch nicht so dunkel, daß er nicht von einigen Leuten hätte gesehen werden können, deren Anblick ihm unerträglich war, weil er ihnen ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu sein glaubte. –

Es war eine naßkalte Luft und regnete und schneiete durcheinander – seine ganze Kleidung war durchnetzt – plötzlich entstand in ihm das Gefühl, daß er sich selbst nicht entfliehen konnte.

Und mit diesem Gedanken war es, als ob ein Berg auf ihm lag – er strebte sich mit Gewalt darunter emporzuarbeiten, aber es war, als ob die Last seines Daseins ihn darnieder drückte.

Daß er einen Tag wie alle Tage mit sich aufstehen, mit sich schlafen gehen – bei jedem Schritte sein verhaßtes Selbst mit sich fortschleppen mußte. –

Sein Selbstbewußtsein mit dem Gefühl von Verächtlichkeit und Weggeworfenheit wurde ihm ebenso lästig wie sein Körper mit dem Gefühl von Nässe und Kälte; und er hätte diesen in dem Augenblick ebenso willig und gerne wie seine durchnetzten Kleider abgelegt – hätte ihm damals ein gewünschter Tod aus irgendeinem Winkel entgegengelächelt. –

Daß er nun unabänderlich er selbst sein mußte und kein anderer sein konnte; daß er in sich selbst eingeengt und eingebannt war – das brachte ihn nach und nach zu einem Grade der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Flusses führte, welcher durch einen Teil der Stadt ging, wo dasselbe mit keinem Geländer versehen war. –

Hier stand er zwischen dem schrecklichsten Lebensüberdruß und der instinktmäßigen unerklärlichen Begierde fortzuatmen, kämpfend, eine halbe Stunde lang, bis er endlich ermattet auf einem umgehauenen Baumstamm niedersank, der nicht weit vom Ufer lag. Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefühl einer fieberhaften Kälte und das Klappern seiner Zähne ihn wieder zu sich selbst brachte und ihm zufälligerweise einfiel, daß er den Abend bei seinem Wirt, dem Fleischer, frische Wurst zu essen bekommen würde – und daß die Stube sehr warm geheizt sein würde. – Diese ganz sinnlichen und tierischen Vorstellungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue wieder an – er vergaß sich, so wie er sich nach der Hinrichtung der Missetäter vergessen hatte, ganz als Mensch und kehrte in seinen Gesinnungen und Empfindungen als Tier wieder heim. –

Als Tier wünschte er fortzuleben; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseins unerträglich gewesen.

Allein wie er sich schon so oft aus seiner wirklichen Welt in die Bücherwelt gerettet hatte, wenn es aufs äußerste kam, so fügte es sich auch diesmal, daß er sich gerade vom Bücherantiquarius die Wielandsche Übersetzung von Shakespeare liehe – und welch eine neue Welt eröffnete sich nun auf einmal wieder für seine Denk- und Empfindungskraft! –

Hier war mehr als alles, was er bisher gedacht, gelesen und empfunden hatte. – Er las Macbeth, Hamlet, Lear und fühlte seinen Geist unwiderstehlich mit emporgerissen – jede Stunde seines Lebens, wo er den Shakespeare las, ward ihm unschätzbar. – Im Shakespeare lebte, dachte und träumte er nun, wo er ging und stund – und seine größte Begierde war, das alles, was er beim Lesen desselben empfand, mitzuteilen – und der nächste, dem er es mitteilen konnte, und welcher Gefühl dafür hatte, war sein Freund Philipp Reiser, der in einer abgelegenen Gegend der Stadt wohnte, wo er sich eine neue Werkstätte angelegt hatte und Klaviere zimmerte, – dabei sang er noch immer im Chore mit, aber nicht in dem, worin sich Anton Reiser befand. – Sie waren also durch ihre äußern Verhältnisse eine lange Zeit ohngeachtet ihrer ersten vertrauten Freundschaft voneinander getrennt worden. –

Nun aber, da Anton Reiser seinen Shakespeare unmöglich für sich allein genießen konnte, so wußte er zu keinem Bessern damit zu eilen als zu seinem romantischen Freunde. –

Diesem nun ein ganzes Stück aus dem Shakespeare vorzulesen und auf alle dessen Empfindungen und Äußerungen dabei mit Wohlgefallen zu merken, war die größte Wonne, welche Reiser in seinem Leben genossen hatte. –

Sie widmeten ganze Nächte zu dieser Lektüre, wo Philipp Reiser den Wirt machte, um Mitternacht Kaffee kochte und Holz im Ofen nachlegte – dann saßen sie beide bei einer kleinen Lampe an einem Tischchen – und Philipp Reiser hatte sich mit langem Halse herübergebeugt, sowie Anton Reiser weiter las und die schwellende Leidenschaft mit dem wachsenden Interesse der Handlung stieg. –

Diese Shakespearenächte gehören zu den angenehmsten Erinnerungen in Reisers Leben. – Aber wenn auch durch irgend etwas sein Geist gebildet wurde, so war es durch diese Lektüre, wogegen alles, was er sonst Dramatisches gelesen hatte, gänzlich in Schatten gesetzt und verdunkelt wurde. Selbst über seine äußern Verhältnisse lernte er sich auf eine edlere Art hinwegsetzen – selbst bei seiner Melancholie nahm seine Phantasie einen höhern Schwung. –

Durch den Shakespeare war er die Welt der menschlichen Leidenschaften hindurchgeführt – der enge Kreis seines idealischen Daseins hatte sich erweitert – er lebte nicht mehr so einzeln und unbedeutend, daß er sich unter der Menge verlor – denn er hatte die Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespeare mit durchempfunden. –

Nachdem er den Shakespeare und so, wie er ihn gelesen hatte, war er schon kein gemeiner und alltäglicher Mensch mehr – es dauerte auch nun nicht lange, so arbeitete sich sein Geist unter allen seinen äußern drückenden Verhältnissen, unter allem Spott und Verachtung, worunter er vorher erlag, empor – wie der Verfolg dieser Geschichte zeigen wird.

Die Monologen des Hamlet hefteten sein Augenmerk zuerst auf das Ganze des menschlichen Lebens – er dachte sich nicht mehr allein, wenn er sich gequält, gedrückt und eingeengt fühlte; er fing an, dies als das allgemeine Los der Menschheit zu betrachten. –

Daher wurden seine Klagen edler als vorher – die Lektüre von Youngs Nachtgedanken hatte dies zwar auch schon gewissermaßen bewirkt, aber durch den Shakespeare wurden auch Youngs Nachtgedanken verdrängt – der Shakespeare knüpfte zwischen Philipp Reisern und Anton Reisern das lose Band der Freundschaft fester. – Anton Reiser bedurfte jemanden, an den er alle seine Gedanken und Empfindungen richten konnte, und auf wen sollte wohl eher seine Wahl gefallen sein als auf denjenigen, der einmal seinen angebeteten Shakespeare mit durchempfunden hatte! –

Das Bedürfnis, seine Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, brachte ihn auf den Einfall, sich wieder eine Art von Tagebuch zu machen, worin er aber nicht sowohl seine äußern geringfügigen Begebenheiten wie ehemals, sondern die innere Geschichte seines Geistes aufzeichnen und das, was er aufzeichnete, in Form eines Briefes an seinen Freund richten wollte. –

Dieser sollte denn wiederum an ihn schreiben, und dies sollte für beide eine wechselseitige Übung im Stil werden. – Diese Übung bildete Anton Reisern zuerst zum Schriftsteller; er fing an, ein unbeschreibliches Vergnügen daran zu empfinden, Gedanken, die er für sich gedacht hatte, nun in anpassende Worte einzukleiden, um sie seinem Freunde mitteilen zu können – so entstanden ihm unter den Händen eine Anzahl kleiner Aufsätze, deren er sich zum Teil auch in reifern Jahren nicht hätte schämen dürfen. –

Die Übung war zwar einseitig, denn Philipp Reiser blieb mit seinen Aufsätzen zurück – aber Anton Reiser hatte doch nun jemanden, dem er Gefühl und Geschmack zutrauete, dessen Beifall oder Tadel ihm nicht gleichgültig war, und an den er denken konnte, sooft er etwas niederschrieb. –

Nun war es sonderbar; wenn er im Anfang etwas niederschreiben wollte, so kamen ihm immer die Worte in die Feder: ›Was ist mein Dasein, was mein Leben?‹ Diese Worte standen daher auch auf mehreren kleinen Stückchen Papiere, die er hatte beschreiben wollen und dann, wenn es nicht ging, wieder wegwarf. –

Seine dunkle Vorstellung vom Leben und Dasein, das wie ein Abgrund vor ihm lag, drängte sich immer zuerst in seiner Seele empor – er fühlte sich gedrungen, erst diesen wichtigsten Punkt seiner Zweifel und Besorgnisse zu berichtigen, ehe er irgend etwas anders zum Gegenstande seines Denkens machte. – Es war also sehr natürlich, daß ihm wider seinen Willen diese Worte immer wieder in die Feder kamen, wenn er sich bemühte, Gedanken niederzuschreiben. –

Endlich arbeitete sich denn doch der Ausdruck durch die Gedanken durch – und das erste, was ihm in ziemlich passende Worte einzukleiden gelang, war etwas Metaphysisches über Ichheit und Selbstbewußtsein. –

Denn da er nun weiter denken und Gedanken niederschreiben wollte, so lag ihm natürlicherweise nichts näher als dies: er wollte erst mit sich selbst gleichsam in Richtigkeit sein, ehe er zu etwas anderm schritte. –

Nun fing er an, den Begriff des Individuums zu verfolgen, der ihm schon seit einigen Jahren, da er zuerst etwas von Logik gehört hatte, vorzüglich wichtig geworden war – und da er nun endlich auf den höchsten Grad des Bestimmtseins von allen Seiten und des vollkommen sich selbst Gleichseins stieß – so war es ihm nach einigem Nachdenken, als ob er sich selbst entschwunden wäre – und sich erst in der Reihe seiner Erinnerungen an das Vergangene wieder suchen müßte. – Er fühlte, daß sich das Dasein nur an der Kette dieser ununterbrochenen Erinnerungen festhielt. –

Die wahre Existenz schien ihm nur auf das eigentliche Individuum begrenzt zu sein – und außer einem ewig unveränderlichen, alles mit einem Blick umfassenden Wesen konnte er sich kein wahres Individuum denken. –

Am Ende seiner Untersuchungen dünkte ihm sein eignes Dasein eine bloße Täuschung, eine abstrakte Idee – ein Zusammenfassen der Ähnlichkeiten, die jeder folgende Moment in seinem Leben mit dem entschwundenen hatte. – Durch diese Begriffe von seiner eignen Eingeschränktheit veredelten sich seine Begriffe von der Gottheit – er fing an, nun in diesem großen Begriffe sein eignes Dasein zu fühlen, das ihm ohnedem unter den Händen zu verschwinden, ohne Zweck, abgerissen und zerstückt zu sein schien. – –

Aus diesen Reflexionen bildete sich der erste schriftliche Aufsatz, den er entwarf, und dem er die Form eines Briefes an seinen Freund gab, mit welchem er sich über diese Materie oft zu unterreden pflegte, und der ihn wenigstens immer zu verstehen schien.

Dabei dauerten seine Kopfschmerzen immer fort – allein er gewöhnte sich zuletzt so daran, daß ihm sein Zustand ordentlich gefährlich oder unnatürlich vorkam, wenn er einen Tag einmal keine Kopfschmerzen hatte. –

Seine Zusammenkünfte mit Philipp Reisern wurden nun immer häufiger – und er erhielt unvermuteterweise zu diesem noch einen Freund; dies war der Sohn des Kantors, namens Winter, einer seiner Mitschüler, gegen dessen Miene und Gesichtsbildung er fast immer eine Art von Antipathie gehegt und sich zugleich von ihm verachtet geglaubt hatte. –

Dieser wußte von seinem Vater, daß Anton Reiser einmal Verse gemacht hatte, und weil er nun selbst für jemanden ein Gedicht auf einen Geburtstag zu machen versprochen hatte, so suchte er Reisern auf und bat ihn um die Verfertigung dieses Gedichts, das er selbst auszuarbeiten nicht Lust oder Zeit hatte. – Dies war für Reisern die erste Veranlassung, seine ganz vernachlässigte Poesie wieder hervorzusuchen. – Das kleine Gedicht gelang ihm nicht übel. – Winter besuchte ihn von der Zeit an öfter und versprach ihm einstmals, daß er ihm die Bekanntschaft eines merkwürdigen Mannes verschaffen wolle, der übrigens ganz im Dunkeln lebe und nichts weiter als ein Essigbrauer sei. – Reiser war sehr begierig auf diese Bekanntschaft – es zog sich aber noch eine ganze Weile damit hin. –

Durch die Verse, welche ihm für Winter gelungen waren, war seine schlummernde Neigung für die Poesie wieder aufgeweckt – allein seine Trägheit zog ihn zu der harmonischen Prosa zurück, wozu sich sein Ohr durch die wiederholte Lektüre der vortrefflichen Ebertschen Übersetzung von Youngs Nachgedanken gewöhnt hatte – und nun fehlte es nur an einer äußern Veranlassung, die seiner Einbildungskraft einen ungewöhnlichen Schwung zu geben vermochte. –


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