Briefe aus den Befreiungskriegen
Heinrich Dietrich von Grolman an seinen Sohn Karl Wilhelm von Grolman
XIX.
vom 18.06.1813.
18 Juni 1813.
Lieber Sohn! Ich habe jedesmal Deine Briefe mit der nächsten Post beantwortet, ich bin aber ungewiss, ob Du sie erhalten hast. Daher ergreife ich die Gelegenheit um durch einen Offizier, der zur Armee zurückgeht, Dir zu schreiben. Ich will die Klagen über den unglücklichen Waffenstillstand nicht wiederholen; und darum will ich Dich bitten, alle Deine Kräfte, Deine ganze Überredungskunst dazu zu verwenden, dass der falsche Verteidigungskrieg verlassen wird, und angriffsweise zu Werke gegangen werde. Es ist ja bekannt genug, wieviel Vorteile der Angreifer über den Verteidiger habe, besonders gegen die Franzosen, denn die Geschichte lehrt, dass sie mehrenteils geschlagen worden sind, wenn man sie angegriffen hat, und dass sie gesiegt haben, wenn man sich von ihnen hat angreifen lassen. Ist es nicht lächerlich, sich zum Beschützer Deutschlands aufzuwerfen, und statt dem unvorbereiteten Feind nachdrücklich auf den Leib zu gehen, die Zeit mit langsamen Hin- und Hermärschen untätig verderben, abzuwarten, bis der Feind sich wieder erholt hat, und sobald die neue Armee sich sehen lässt, sich dreißig bis vierzig Meilen zurück zu ziehen, wieviele Menschen sind dadurch schon recht unglücklich geworden, indem man sie der Rachsucht des Feindes geopfert. Wer wird nun wohl Lust haben, sich einer Armee anzuschließen, die ihn nicht beschützt, sondern davonläuft. Noch eins; warum verlässt man die schon von den Alten gebrauchte, und von König Friedrich so glücklich angewandt schräge Schlachtordnung?, Kann man sich nicht wahrscheinlich den Sieg versprechen, wenn man den schwächsten Punkt des Feindes aussucht, dahin seine besten Streitkräfte versammelt, mit denselben angreift, und den übrigen Teil des Heeres aus dem Gefecht lässt. Wäre dies am 2ten und 22sten Mai geschehen, so würden gewiss die Sachen sich in einer andern Lage auch jetzt befinden. Am zweiten Mai würde ein Dorf nicht vier bis fünf Mal erobert und verloren sein, sondern man würde sich in dem einmal eroberten Dorfe behauptet, die errungenen Vorteile verfolgt, den Feind, wo er sich hätte setzen wollen, mit Nachdruck angegriffen und über den Haufen geworfen haben. Die unnützen Angriffe auf mehrere Punkte, wobei so viele junge und alte brave Krieger vergeblich ihr Leben verloren haben, würden unterblieben sein. Am 22sten Mai wenn unsre Schlachtgeschichte, wonach der linke Flügel unter Miloradowitsch gesiegt haben soll, wahr ist, würde der verstärkte linke Flügel seine Vorteile benutzt, den Feind überflügelt, und in die Flanke und im Rücken angegriffen haben. Barclay und Blücher hätten das Treffen vermieden und wären nicht geschlagen worden.
Wenn anjetzt der Feldzug wieder eröffnet wird, fürchte ich sehr für die Mark und Berlin. Napoleon hat unstreitig eingesehen, welcher Gefahr er sich durch sein unvorsichtiges Eindringen in Schlesien ausgesetzt hat, während die hiesigen Truppen in seinem Rücken operierten, im Begriff waren, auf Dresden vorzurücken, und ihm dadurch alle Zuführen und Unterstützungen abzuschneiden. Diesen Fehler wird er gewiss verbessern, durch ein schwaches Korps die schlesische Armee beschäftigen lassen und sich mit der Hauptmacht auf die Mark werfen, um Küstrin und Stettin und vielleicht auch Danzig zu entsetzen. Er kann dies um so leichter tun, da Bernadotte so schändlicher Weise Hamburg im Stich gelassen und den Franzosen preis gegeben hat. Es dürfte daher wohl äußerst notwendig sein, wenn die hiesige Armee unvermerkt verstärkt und einem geschickteren und tüchtigeren General als das Bülow ist, anvertraut würde. Alsdann könnte die hiesige und die schlesische Armee zugleich in Sachsen vorrücken, dann Napoleons Plan vereitelt und vielleicht der Staat gerettet werden.
Auf die Landwehr ist nicht viel zu bauen, mit ihren Einrichtungen geht es sehr langsam und verkehrt zu; z. B. dem Bataillon, welches Dein Bruder kommandiert, wird keine Zeit gelassen, sich in den Waffen zu üben, sondern er hat von hier nach Potsdam zum Schanzen, von da nach Spandau ebenfalls zum Schanzen, von da nach Ruppin, von Ruppin nach Teltow u. Mittenwalde, von da wiederum nach Spandau zum Schanzen marschieren müssen, und nun soll er nach Zehdenick aufbrechen. Es wird also nicht zum Kriege tüchtig gemacht, sondern im Schanzen und Hin und Herlaufen auf den Landstraßen geübt. Dein Bruder hat hierüber Vorstellungen gemacht, aber nichts ausrichten können, ich beklage ihn, wenn man sein Bataillon wird brauchen wollen, wird man es unbrauchbar finden, und ihm die Schuld beimessen. Der Landsturm und das Fechten mit Lanzen ist vollends nur Spielwerk. Was hat denn der Landsturm in Schlesien ausgerichtet? Ich habe nicht gehört, dass er den Einmarsch des Feindes gehindert, oder nur aufgehalten hat. Die Flüchtigen kehren langsam zurück. Ich fürchte, sie werden noch einmal fliehen müssen, und ich werde auch mit dem Tribunal mich entfernen müssen, wofern zum Schutz der Mark nicht ernsthafte Maßregeln ergriffen werden. Auf Österreich verlasse ich mich nicht, und Bernadotte ist ein Franzose. Der gnädige Gott, der Dich bisher erhalten hat, beschütze Dich weiter. Lebe wohl, u. unterlasse nicht, so oft als möglich, von Dir Nachricht mitzuteilen.
Berlin 18 Juni 1813.
v. Grolman.