Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores

Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein

Vierte Abteilung.

Buße.

Zwölftes Kapitel

Die Fürstin überraschte die Herzogin in der Mitte ihrer Beschäftigungen, und fand sich dadurch etwas beleidigt, daß sie in der regelmäßigen Ordnung ihres Lebens sich durch ihre Ankunft in nichts stören ließ, vielmehr in ihrer Gegenwart eine Menge harrender Leute abfertigte. »Nein«, sagte die Fürstin in sich, »so kalt anteillos, bloß mit dem Allgemeinen beschäftigt, soll meine Freundin nicht sein«, und ließ sich zu der Gräfin führen. Die Gräfin empfing sie sehr lebendig, freute sich ihrer daurenden Unveränderlichkeit; die Fürstin meinte schon, ihre ideelle Freundschaft auf ewig geknüpft zu haben, aber die Kinder schrien und tobten immer dazwischen, und die Gräfin verließ sie um keinen Preis. Sie wollte mit ihr über Musik und Kunstwerke sprechen, aber das wenige, was Dolores sonst davon gewußt, hatte sie über das Abc lernender Kinder ganz vergessen. Die Fürstin langeweilte sich. Endlich trat der Graf herein, heimkehrend von einer kleinen kriegerischen Unternehmung gegen Raubgesindel, frisch und fröhlich, wenn gleich über zwölf Jahre älter, als zu der Zeit, wo er Dolores gewonnen, aber durch die neuen lebendigen Tätigkeiten reichlich ausgebildet, gewandter, beredter, mitteilender und unternehmender. Die Fürstin fühlte eine besondre Angst bei seinem Anblicke, niemand war ihr je so herrlich erschienen, und dabei fühlte sie den Wunsch, ihm recht zu gefallen; ihr fürstlicher Stolz verließ sie ganz. Die Bilder von Freundinnen verwandelten sich in einen Freund; sie fand das ihrer ganzen Natur angemessener, die sich nie mit den Weibern zu längerem Umgange einlassen konnte; an Liebe dachte sie nicht entfernt. Der Graf hatte eine Freude von ihr über politische Ereignisse das wahre Gediegene zu hören; ihre Urteile über Kunstwerke stimmten mit seinem Gefühle und er sagte es ihr offen, daß sie seinen häuslichen Kreis durch ihre Gegenwart hoch beglücken werde. Die Gräfin freute sich über den Beifall, den ihr Mann der Fürstin schenkte, sie kannte ihn, daß er nie schmeichle und daß er gegen manche Frauen sehr strenge gewesen, die ihr recht wohl gefallen. Die Fürstin schloß sich jetzt der Gräfin und den Kindern viel mehr an, sie wußte selbst nicht warum; die Kinder hatten alle zu ihr ein mächtiges Zutrauen, und erzählten ihr kleine Märchen, von denen Sizilien sehr voll ist. Der Graf brachte sizilianische Sänger, von denen die Fürstin mit geübtem Ohre manches erlernte. Der erste Vormittag verging so schnell – wie die nächsten Tage, wo die Fürstin sich in einem Flügel des Schlosses vollkommen eingerichtet hatte.

Der Schreiber ärgerte sich über dieses ruhige Leben im Schlosse, mehr aber, weil ihn die Fürstin über den Grafen ganz vergessen zu haben schien; sein Tagebuch sah sie nicht weiter an, auch war hier weniger Eigentümliches zu bemerken, weil der Graf und die Herzogin manches Deutsche hieher übertragen hatten. Die Gräfin und die Herzogin genossen erst recht des Umgangs vom Grafen, seit die Fürstin in ihrer Mitte wohnte; beide gaben ihm sonst nur im praktischen Geschäfte Gelegenheit, seine Talente zu entwickeln; seine Freude an Künsten aller Art verschloß er bisher unwillkürlich in sich, weil er seinen Geschmack den Gesellschaften nie aufdrang, sondern fast immer die Unterhaltung nach der Sinnesart der andern einzurichten bemüht war. Eifersüchtig konnte die Gräfin auf die Fürstin nicht werden, denn sie ehrte sie wie eine Mutter, die sie auch sein konnte, auch hatte sie ein unwandelbares Zutrauen zu der Liebe ihres Mannes. Einem Manne, der so offen mit sich umging wie der Graf, war es keinen Augenblick verborgen, daß er eine lebendige Freundschaft zur Fürstin fühle; gewohnt mit sich zu rechten, fragte er sich, ob das Liebe sei und da dachte er an Dolores, und fand sein Verhältnis zu ihr so ganz ungestört, seine Neigung ganz ungeschwächt: er fand, daß ihm die Fürstin eine geistige Unterhaltung gewähre, die er nie bei Dolores gefunden und nie bei ihr vermißt habe.

Die arme Fürstin allein fühlte ihre weibliche Natur erwachen. Sie hatte wohl eigentlich nie geliebt; der Zufall hatte ihre Hand verschenkt, und ihre Schwachheit wurde nachher von gewandten Männern, wie der Minister, überlistet; sie war noch so ganz unberührt in ihrem Wesen und es tat ihr so wohl, mit ihrem ganzen Wesen zu lieben. Kaum konnte sie sich eines Tages halten, als sie den Grafen auf einem Sofa in der Hitze eingeschlafen fand, ihm nicht um den Hals zu fallen. Sie hielt sich, denn sie war immer in ihrer Gewalt, doch sie war auch jetzt ganz entschlossen, ihrer Leidenschaft zu gewähren, doch also, daß der Graf dadurch in keiner Art von seiner Frau getrennt würde; sie hielt sich und ihn für hinlänglich ihr überlegen, um jede Verbindung ihr leicht zu verstecken. Alles sehr wohl überlegt, nur war eins nicht berechnet, daß es einem Weibe sehr schwer wird, ihre Absichten einem Manne kund zu tun, der keine ähnliche hat, und daß die Liebe endlich über jede Überlegung hinaus steigen muß, weil eine hohe Natur sich am wenigsten so künstlichen Verhältnissen unterwerfen kann. Oft war sie ganz nahe, ihm alles zu bekennen, denn sie meinte, er verstehe sie schon; da ergriff er plötzlich etwas so Fremdes, sprach so leidenschaftlich davon, daß sie es ihm bestreiten mußte. Nach solchen Streitigkeiten sagte er ihr einmal: »Es ist doch ein wesentlicher Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe, daß uns in dieser alle kleinen Uneinigkeiten verhaßt sind, während uns dort selbst der Streit willkommen ist, weil er uns zu einem gemeinschaftlich Höheren zwingt; die Liebe ist in sich zufrieden, die Freundschaft will immer mehr.«

Der Fürstin kamen solche Betrachtungen sehr ungelegen, sie suchte auf mancherlei Art dem Grafen ihren Sinn für vertraulichere Verhältnisse darzutun, den er ihr einmal ganz abgesprochen hatte. Sie dichtete einen Morgengruß, den sie ihm an einem schönen Morgen vorsang; er mußte dabei eine Stimme übernehmen. 

Morgengruß

                SIE:

            Wonne, Wonne, still in Schauern
            Dich umfangen, frische Luft,
            Sinnend auf die Strahlen lauern
            Spielend durch den Morgenduft.

                ER:

            Sonne, Sonne, dich belauern
            Glühendrot im Morgenduft.

                SIE:

            Atmen, Atmen, nahend Leben,
            Wellen in dem Ährenstrom,
            Wie des Morgensterns Erheben
            Sich verliert im blauen Dom.

                ER:

            Wie der Lerche laut Erheben
            Sich verliert im blauen Dom.

                SIE:

            Flügel, Flügel der Gedanken
            Heben mich zur Sonnenpracht;
            Wie die Ströme silbern ranken,
            Aus der Berge Mondennacht.

                ER:

            Enge sind des Mondes Schranken,
            Weit, o weit die Sonne lacht.

                SIE:

            Blumen, Blumen, stille Wesen,
            Fülle winkt im tiefen Grund,
            Ihr zu Flammen auserlesen
            Sinkt auf seinen roten Mund.

                ER:

            Nieder müde Blüten tauen,
            Einen Strauß von ihrer Brust,
            Durch die Gluten sie zu schauen,
            Wirft der Liebe Sonnenlust.

                SIE:

            Atmen, Atmen, nahes Leben,
            Bebend Herz im Blumenstaat,
            Wie zwei Schmetterlinge schweben,
            Mund auf Mund gelebet hat.

                ER:

            Wonne, Wonne, still in Schauern
            Dich umfangen, hell Gesicht,
            Sonne, Sonne, soll es dauern,
            Wie mein Auge taucht in Licht.

 

Aber das Wort wurde in ihm nicht zu Fleisch; ganz mit der Dichtung und dem Gesange beschäftigt, lernte er alles ganz eifrig, und kaum hatte er beide Stimmen sich einstudiert, so beurlaubte er sich, um das Lied seiner Frau vorzusingen, und die Fürstin stieß mit dem Fuße gegen den Boden. Dolores fand es ungemein reizend, ihr Blick war verlangend und der Graf verstand ihn. Die Fürstin sah ärgerlich nach dem Ätna, als der Graf so lange ausblieb. Ihre Gedanken gönnten ihr alle die Zärtlichkeiten, die er ihr versagte, und sie fuhr wie aus einem tiefen Schlafe schreckhaft auf, als der Schreiber ihr das Tagebuch vorzulegen ins Zimmer trat. Sie fertigte ihn schnell ab, setzte sich an ihren Tisch, und schrieb einen Nachtgruß so feurig, als hätte sie die schönste Nacht verlebt, und doch in einer Melancholie getränkt, als wär es die letzte.

Nachtgruß

                ER:

            O deinem Atemzuge
            Horche ich feiernd leis,
            Er hebet mich im Fluge
            Über den Erdenkreis.

                SIE:

            Dein Atem sanft im Schlafe
            Tönt in die Saiten ein,
            Du sprichst aus mir im Schlafe
            Worte, sie sind nicht mein.
            O lieblich waches Schlafen
            Einzige einige Ruh
            In der Gedanken Hafen,
            Singe, ich höre zu.

                ER:

            Der Alp, der mich gedrücket,
            Fliehet vor deinem Klang,
            Sein Roß mich fern anblicket,
            Hörst du den Hufschlag bang;
            Du hörst mein Herz nun schlagen,
            Bebt nicht die Erd entzückt,
            Sie soll dem Himmel sagen,
            Wie sie so hoch beglückt.

                SIE:

            Du hauchest kühles Feuer
            Nieder in meine Ruh,
            Viel tönt mein Busen freier,
            Schlafe und träume du.
            Ich schweb in deinen Träumen
            Schon in dem Morgenrot,
            Und säusle in den Bäumen
            Mitten im Feuertod.

                ER:

            Ja wie ein wilder Leue
            Nächtlich im Walde brüllt,
            Bewachet er die Treue,
            Die ihm den Schmerz gestillt:
            So ruf ich an die Erde,
            Die mir mein Haus verschlang,
            Daß sie am heil'gen Herde
            Uns dann zugleich umfang.

                SIE:

            Nein stürz mich in den Becher,
            Glühend noch raucht der Berg,
            Und trink, du schöner Zecher
            Alles, was ich verberg.

                ER:

            Ach all, was birgt dein Auge,
            Alles, was birgt dein Herz;
            Ich würde Himmel saugen
            Mitten im schönsten Schmerz.
                BEIDE:

            Nein dieser Stunde Feuer,
            Nimmer, o nimmer vergeht,
            Nein dieser Töne Feier
            Nimmer, o nimmer verweht.
            Wir leben ohn Besinnen,
            Sind wir wohl außer uns?
            Die Tropfen Tau schon rinnen,
            Auf uns und über uns.
            Wir ruhen auf Silbersaiten
            Regend die Melodien;
            Tanzend die Elfen schreiten
            Übers erwachende Grün.

Nachmittags zeigte sie dem Grafen diesen Doppelgesang, aber ihm gefielen nur einzelne Strophen; das Austrinken des Vulkans, in den sich die Geliebte gestürzt, das, behauptete er, sei ganz ein nordisches Bild über Maß und Möglichkeit; sie ließ es sich nicht ausreden. Sonderbar war es, daß in diesen Tagen eine Erderschütterung gespürt wurde, daß schon die Bewohner der Paläste zu den Bewohnern der Hütten flohen, doch hatte sie in der Gegend keine andre Einwirkung gehabt, als bei dem Gartenhause der Herzogin eine warme Quelle zum Vordringen zu bringen. Durch diesen Umstand und durch die Lage des Gartenhauses, welches die Aussicht über das Meer hatte, wurde die Fürstin veranlaßt, es sich zur Wohnung zu erbitten; gerne gewährten ihr alle diesen Wunsch und sie wußte bald durch herrliche Verzierung des Hauses und des Gartens sich dafür dankbar zu bezeigen. Sie beschäftigte alle Arten von Künstlern dabei und der Graf nahm so eifrigen Anteil an allem dem, daß die Herzogin mit Sorge manche Vernachlässigung ihrer eignen Angelegenheiten bemerkte. Sie konnte ihm darüber nichts sagen, denn was er tat, war guter Wille und Aufopferung von seiner Seite; aber gewiß hätte er sich einige Zeit von seinem Dekorieren des Landhauses abgemüßigt, wenn er in dem Tagebuche der Herzogin gelesen hätte: » ... Über tausend Bäume sind durch die Vergessenheit des Grafen, der die nötigen Arbeiter nicht herbeigeschafft, vor dem Einpflanzen verdorrt. Lieber Gott, wenn er nur die Hälfte der Sonnenstrahlen auf sich nehmen sollte, die darum ein ganzes Jahr länger auf die armen Wanderer und Pilger fallen, er müßte ja verschmachten; darum verzeihe es ihm, gnädiger Gott.« – Der Graf wiegte sich in einen schönen Traum steter geistiger Mitteilung, Kunstübung, was ihm alles in dem Umgange der Fürstin werden sollte; den Schreiber hatte er auch sehr lieb gewonnen, er fand hinter mancher Schulverdrehtheit viel Talent und Bemühung der schönsten Art; er führte die Fürstin und ihn mit unermüdlichem Eifer in seine reichen Sammlungen von Antiken und Abgüssen, von Musikalien und Naturprodukten, und bemerkte nicht dessen Eifersucht gegen ihn wegen der Neigung der Fürstin, die ihm oft sehr wunderbar mit spielte. So zerschmiß er einmal einen schönen Antinous im Vorzimmer, als der Graf mit der Fürstin lange allein gesessen; und als sie von dem Falle erschreckt heraustraten, entschuldigte er demütig seine Ungeschicklichkeit, so daß niemand einen Argwohn hatte.

Eines Morgens fand die Fürstin den Grafen in ihrem Vorzimmer, der ihr die Gegend mit allen neuen Anlagen abzeichnete; er hatte ein eigentümliches Talent, alles auf den ersten Blick richtig und treu zu fassen, und änderte daher selten an der ersten Skizze. Die Fürstin zeichnete schöner, aber sie dichtete in die meisten Gegenden eine Menge Verschönerungen hinein. Auch hier nahm sie spielend einen Bleistift, lehnte sich auf ihn und zeichnete am Vordergrunde, auf den Grafen gelehnt, eine Ulme; trieb den Stamm aus der Erde, und setzte leicht die Umrisse, aber die Äste ließ sie hervorgehen wie kühne Leidenschaften, die das Geblüt zu Laub heraustreiben; da entstand das Dunkel, wo im Durchschauen des ersten und zweiten Laubes kein Blatt mehr zu erkennen, das Dunkel, wo die Vögel nisten. Sie arbeitete so eifrig, daß ihr der eigne Atem wie der hoffnungsreiche Ostwind vorkam, der die leichten Zweige hebt und fallen läßt, daß die Schatten lustig auf dem Boden spielen, und da war ihr, als harrte sie des Grafen unter dem Baume und er säße in dessen dunkler Krone und lasse ihr neckend allerlei Blätter in den Busen fallen, und sie täte, als ob sie ihn nicht merke. Von dem allen stand nichts da; der Baum war kaum angelegt und der Graf, der gerade an dieser Stelle arbeiten wollte, wischte ihn eilfertig mit dem elastischen Harze aus, und sie mußte zusehen, wie er zerstört wurde, der alle ihre Zärtlichkeit trug. Der unglücklichen Frau wurde fast ohnmächtig; der Baum war ihr lieb gewesen wie ein Erstling der Liebe, hundert Bäume konnten an der Stelle wieder gezeichnet werden, aber kein Baum wie dieser, der alle ihre Lust verbarg. »Was weiß ich denn von ihm«, dachte die Fürstin, »wenn er so gar nichts von mir weiß, daß er unbewußt das Liebste mir zerstören kann, bis auf die letzten widerstrebenden tiefsten Züge, die sich noch jammernd an das Papier legten; es ist mein Geblüt, was noch in dem Stamme treibt.« – In diesem Augenblicke, noch ehe die Lücke wieder vollgezeichnet, rief Dolores den Grafen; er eilte fort, und die Fürstin setzte sich eifrig an seine Stelle und malte ihren lieben kleinen Baum wieder an die Stelle und viel schöner und reicher an umschlingendem Weinlaube ausgestattet; dann setzte sie sich an ihren Flügel, phantasierte wild umher und sang endlich mit entschlossener Stimme:

    Nur was ich liebe, das ist mein,
    Und kann nur immer meiner werden,
    Du weißt von nichts, du läßt mich ganz allein,
    Was ich in dir geliebt, das bleibt doch mein.
    Gehört dem Flügel dieser Ton,
    Den meine Finger traurig weckten?
    Nein du bist mein, dir selber recht zum Hohn,
    Was ich in dir erweckt, gehört mir schon.
    Dein Haus ist mein, denn ach von dir
    Umschließt es so viel schöne Kinder;
    Ist mein die Perle, so gehört auch mir
    Die Schale, deines Leibes schöne Zier.
    Ich geb die Seele, du bist mein,
    Du schöner Teufel mußt mir dienen,
    Hast mich verführt mit schönem Augenschein,
    Sei alles falsch und leer, du bist doch mein.

Vielleicht war es in derselben Stunde, während die Fürstin so heftig zu ihrem Flügel sang, wo der Schreiber, (den der Graf ein paarmal, um ihn zu witzigen, etwas scharf angesprochen, als er sich gar zu weise gemacht), nachdem er die ersten Wallungen seines Zornes überwunden hatte, mit einem beruhigenden Blicke seine Arbeiten betrachtete und sich mit stillen Bitten an seinen Genius wendete; sicher ist es, er machte an jenem Tage das folgende

Sonett

    Mein Genius, du hast mir viel verliehen,
    Du kannst, was nie geahndet, mir erschließen,
    Wenn deine Blicke flüchtig mich begrüßen,
    Durch dich gedeiht mir jegliches Bemühen.

    O könnt ich dich mit meinem Arm umschließen,
    Daß du dich nimmer könntest mir entziehen,
    Daß meine Wangen nie von Scham erglühen,
    Verläßt mich Witz, wo andrer Witze fließen.

    Schaff mich gewiß und fest in allen meinen Kräften,
    Daß sie dem Augenblicke willig dienen
    So bin ich tüchtig jeglichen Geschäften.

    Gleich fern von Furcht und Frechheit in den Mienen,
    Laß mich die Blicke frei auf andre heften,
    Und aller Neid soll schwinden im Erkühnen.

Wir überlassen es dem Urteile der Leser, ob sie lieber so wüten möchten wie jene, oder so ruhig überlegen wie dieser. Diese Überlegung, dieses ewige Betrachten, in dem sich sein ganzes Wesen verlor, während es sich recht tief zu erfassen meinte, war in seiner frühesten Zeit begründet. Er war einer der geschicktesten Schüler seiner Stadt; zwar von armen Eltern, aber überall durch Fleiß ausgezeichnet. Einem Lehrer seiner Schule war er besonders anvertraut und strebte mit unaufhaltsamer Leidenschaft diesem seinem Muster in allem, sowohl in Kenntnissen als im Äußern gleich zu werden; in diesem Streben hatte er dessen ganze Bibliothek durchgelesen, einige Bücher ausgenommen, die jener in einem besonderen Schranke aufbewahrte, und mit denen er sich zuweilen halbe Tage verschloß. Viele Monate hatte er gesonnen, wie er zu diesem Schatze gelangen könnte; in halbem Fieber durch die Furcht entdeckt zu werden, und von der Höhe allgemeiner Liebe und Ehre zur Schadenfreude aller herabgestürzt zu werden, versuchte er nacheinander alle Schlüssel, die er sich verschaffen konnte. Endlich an einem heißen Nachmittage, wo er sich wegen einer Arbeit vom Ausgehen losgebeten hatte, gelang es ihm mit einem Schlüssel, den ihm ein Dieb bei seiner Arretierung zugeworfen hatte, den geheimnisvollen Schrank zu öffnen; mit klopfendem Herzen durchblätterte er ein kleines Büchlein, das einzige, was darin enthalten war. Es war das dem Meursius untergeschobene Buch von der Eleganz der lateinischen Sprache, und wie es erst der Verdruß kein Buch über geheimnisvolle Wissenschaften zu finden, aus seiner Hand geworfen, so hob er es bald wieder aus allgemeiner Neugierde auf, und der sinnliche Brand der Lust in dem Buche, der sich im tiefsten Verderben der Zeiten zu kühlen suchte, erweckte eine Seite in ihm, die bis dahin tief geschlummert hatte. Er las sich heiß an dem Buche, daß ihm der Atem verging; ganz gegenwärtig umschwebten ihn alle schändlichen Lüste verwilderter Naturen, fast mit Gewalt mußte er sich losreißen, als der Lehrer kam, der bald mit Verwunderung sein fremdes Wesen bemerkte. Mit Lügen wußte er sich durchzuhelfen, Lüge wurde sein ganzes Leben zu andern. Da er weder reich noch schön war, so konnte er seine erweckten Begierden schwer befriedigen; da er den Ruhm des Fleißes und der Geschicklichkeit über alles liebte, konnte er auch nicht so viel Zeit jenen Gedanken, die ihn innerlich ergötzten, hingeben; ja er machte sich schmerzliche Vorwürfe darüber, kaufte jeden sündigen Augenblick mit Stunden des Fleißes, strafte sich für jeden Gedanken: so kam er zu jenem ewigen Bewußtsein, das ihn in jeder selbst überlassenen Minute schreckhaft aufquälte; für sein innerliches Leben hatte er keinen Freund mehr, er schämte sich dessen.

            Je tiefer wir in uns versinken,
            Je näher dringen wir zur Hölle,
            Bald fühlen wir des Glutstroms Welle,
            Und müssen bald darin vertrinken;
            Er zehrt das Fleisch von unserm Leibe,
            Und öde wird's im Zeitvertreibe,
            In uns ist Tod!
            Die Welt ist Gott!
            O Mensch, laß nicht vom Menschen los,
            Ist deine Sünde noch so groß
            Meid nur die Sehnsucht nach den Sünden,
            So kannst du noch viel Gnade finden;
            Wer hat die Gnade noch ermessen?
            Es kann der Mensch so viel vergessen!


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