Walpurgisnacht
Reue
Ich küsste die bleiche Stirn meines Bruders. Da hörte ich Stimmen im Walde. Erschrocken fuhr ich auf. Sollte ich mich ertappen lassen über dem Leichnam des Geliebten, den ich erst berauben wollte, und dann tötete? Ich war, ehe ich mich selbst besann, im tiefsten Gebüsch, und überließ die Leiche nebst Ross und Wagen ihrem Schicksal. Nur der allmächtige Trieb zum Leben wachte noch in mir: alles Andere war tot. ? Ich ging in Betäubung durch Strauch und Dorn; wo die Böschung am finstersten, die Verzweigung am dichtesten geschlungen war, dahin eilte ich. »Wer dich findet«, rief s in mir, der wird dich töten, Kain, Brudermörder!«
Ermattet blieb ich auf einem Felsenstein im Innersten des Waldes sitzen. Die Sonne war aufgegangen, ohne dass ich's bemerkt hatte. Ein neues Leben wehte durch die Natur. Die grausenvolle Walpurgisnacht lag hinter mir mit meinen Verbrechen; aber die Kinder derselben gaukelten wie Teufel auf meinem Wege hin. Ich sah meine jammernde Fanny mit den verwaisten Kindern ? ich sah die trostlose Familie meines unglücklichen Bruders ? ich sah das Hochgericht ? den Henkerszug, den Rabenstein.
Da ward mir das Leben plötzlich zur Bürde. Hätte ich mich doch vom Starost erdrosseln lassen, sprach ich bei mir selbst, ich hätte es ja verdient. Ich war ja ein Verräter an meiner Fanny und an der Treue, die ich ihr tausendmal geschworen. ? Oder wäre ich doch umgekehrt, wie das Städtchen hinter mir brannte. Ich hätte Weib und Kind noch einmal küssen und dann nach dem Abschied mich in die Flammen stürzen können. So hätte ich mir doch den Brudermord erspart.
Ich fürchtete das Leben, weil ich mich vor neuen Verbrechen fürchtete, die mir mit jedem Schritt unvermeidlich schienen. So tief hatten mich die bisherigen Ereignisse erschüttert, dass ich glaubte, dem Sünder bringe jeder Atemzug eine Sünde. Ich dachte an Selbstmord ? aber auch dazu war ich mittellos. So beschloss ich, mich der Obrigkeit selbst auszuliefern, ihr meine Vergehen reumütig zu bekennen. Dann ? freilich unter traurigen Verhältnissen, hatte ich doch noch Hoffnung, meine Fanny, meinen Leopold und August noch einmal in meinem Leben an die Brust zu drücken, Verzeihung von ihnen zu erflehen, und von ihren Tränen begleitet in die Ewigkeit überzuwandern. Ich konnte noch manche häusliche Verhältnisse anordnen, meiner Fanny noch manchen nützlichen Rat und Aufschlüsse über verschiedene Angelegenheiten geben.
Dieser Gedanke gewährte mir einiges Vergnügen. Ich ward ruhiger. Das Leben hatte ich aufgegeben, nun hörten die Furien des Gewissens auf, in mir zu wüten, da sie hatten, was sie wollten.
Ich stand auf und ging; doch wusste ich nicht wohin. In der Betäubung und Höllenangst hatte ich selbst die Gegend vergessen, aus der ich gekommen war. Die Waldung lag finster und dick um mich her. Ich sehnte mich nach dem Schimmer der Feuersbrunst, die sollte mich zu meinen Richtern leiten. Doch gleichviel. Jeder Schritt, jeder Weg musste mich immer zuletzt dahin bringen.
Indem ich eine Weile gegangen war, erhellte sich der Forst. Ich kam auf eine schlechte Waldstraße, und schlug sie sogleich ein, unbekümmert, wohin sie gehe.