Der tote Gast
von Heinrich Zschokke
Kapitel 19
Das Verhör
Herr von Hahn nahm Stock und Hut und ging. Noch mußte er heimlich über die Herzensangst des Polizeibeamten lächeln, dessen Eifersucht er erregt zu haben glaubte.
Er bemerkte bald, als er über die Straße ging, daß er in einer kleinen Stadt sei, wo man jeden Fremden wie ein Wundertier angafft, und mit Begrüßtwerden und Wiedergrüßen im Jahr ein Dutzend Hüte auf dem Kopfe verdirbt. Wo er ging, rechts und links, wich man ihm höflich aus mit tiefer Verbeugung. Schon von weitem zogen die ihm Begegnenden ihre Hüte und Mützen tief ab. Keinem Könige konnte mit mehr Ehrfurcht begegnet werden. Rechts und links in den Häusern, wo er vorüberkam, sah er hinter den ungeöffneten Fenstern eine Menge neugieriger Köpfe durch die Glasscheiben nach ihm schauend.
Das Ärgste aber widerfuhr ihm, als er dem bezeichneten Eckhause mit dem Balkon näher kam. Unweit dem Hause befand sich auf dem Platze ein Brunnen, der aus sieben Röhren sein Wasser in ein weiter Steinbecken goß. Um den Brunnen stand eine Schar Mägde mit Eimern und Zubern, emsig plaudernd. Einige schabten Fische, andere wuschen Salat, andere setzten ihre leeren Eimer unter die Röhre, andere trugen ihn schon gefüllt auf dem Kopfe. Herr von Hahn, der Wohnung der Bürgermeisters sicherer zu sein, trat seitwärts, um eine dieser geschäftigen Mägde zu fragen, die ihn in der Lebhaftigkeit ihrer Unterhaltung anfangs nicht bemerkt hatte. Wie er aber den Mund öffnete und sämtliche jetzt die Augen nach ihm wandten – hilf, heiliger Himmel! Welche ein Zetergeschrei, welch eine Verwirrung! Alle prallten mit Entsetzen auseinander. Die eine ließ die Fische in das Brunnenbecken fahren, die andere schüttete den gewaschenen Salat auf den Erdboden, der dritten stürzte der Wassereimer vom Kopfe. Alle rannten bleich und atemlos davon. Nur eine alte, deren Fußwerk nicht mehr gehorchen mochte, drängte sich mit dem Rücken hinterwärts gegen den hohen Brunnenpfeiler, als wollte sie ihn umstürzen, schlug mit der dürren Hand vor sich Kreuze über Kreuze, sperrte die Lippen voneinander und stierte ihn mit Augen der Verzweiflung an, während ihr Haar auf dem Kopfe emporstieg. So sieht man eine vom Hund angebellte Katze, den krummen Rücken ganz in sich hineingezogen, das Haar gesträubt, das Maul offen, mit durchbohrenden Blicken jeder Bewegung des Bellenden folgen.
Verdrießlich über die närrischen Leute, wandte Herr von Hahn sich ab und ging geradezu in das Haus mit dem Balkon. Er war am rechten Orte. Der Bürgermeister, ein kleiner, feiner, gewandter Mann, empfing ihn sehr artig oben an der Treppe und führte ihn ins Zimmer.
»Sie haben mich zu sich rufen lassen,« sagte Herr von Hahn, »und in der Tat, ich komme gern, denn ich hoffe, bei Ihnen mir Rätsel lösen zu können. Ich bin erst seit gestern in Ihrer Stadt und gestehe, hier habe ich schon mehr Abenteuer erlebt, als sonst auf allen meinen Reisen.«
»Ich glaub' es!« sagte lächelnd der Bürgermeister. »Ich habe davon gehört, und einigemal sogar das Unglaubliche. Sie sind der Herr von Hahn, Sohn des Bankiers aus der Hauptstadt; haben Verbindung mit dem hiesigen Hause Bantes; kamen, weil Fräulein Bantes...«
»Richtig alles. Soll ich mich bei Ihnen legitimieren, Herr Bürgermeister?« Herr von Hahn zog bei diesen Worten einige Papiere aus der Brieftasche. Der Bürgermeister lehnte es nicht ab, sie flüchtig durchzusehen, gab sie aber mit den verbindlichsten Äußerungen seiner Zufriedenheit zurück.
»Ich habe Ihnen nun alles gesagt und beurkundet, Herr Bürgermeister, worüber Sie irgend von mir Auskunft begehren können. Nun bitte ich hingegen Sie um Auskunft über allerlei Seltsamkeiten Ihrer Stadt. Herbesheim liegt doch nicht so gar weit von der übrigen Welt getrennt; es werden doch zuweilen auch Fremde hierherkommen; wie geht's nun zu, daß man mich...«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr von Hahn. Sie sollen alles erfahren, wenn Sie die Güte haben, mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Ich stehe zu Befehl.«
»Zählen Sie einstweilen meine Fragen nur auch zu den Seltsamkeiten von Herbesheim, die Ihnen aufstießen; hintennach werden Sie den Grund davon ohne Mühe sehen. Kleiden Sie sich gewöhnlich schwarz?«
»Ich bin in Trauer um eine meiner Tanten.«
»Waren Sie schon in Herbesheim?«
»Nie.«
»Haben Sie früher schon Bekanntschaft mit Personen aus dieser Stadt gehabt oder zufällig etwas von den Geschichten dieser Stadt, nämlich von alten Geschichten, Märchen, Volkssagen der Herbesheimer gelesen oder gehört?«
»Ich kannte persönlich niemand von Herbesheim, und wußte von dieser Stadt nichts, als daß hier das Haus Bantes sei, und daß Fräulein Bantes ein äußerst liebenswürdiges Frauenzimmer wäre, was ich nun mit Vergnügen bestätigen will.«
»Haben Sie vielleicht nie ein Geschichtchen vom toten Gaste der Herbesheimer gelesen oder davon gehört?«
»Ich wiederderhole es, die Historie von Herbesheim, zumal die alte – ich muß es zu meiner Schande sagen, Herr Bürgermeister – ist mir so fremd, als die Historie des Königreichs Siam und Pegu.«
»Nun, Herr von Hahn, und Ihre Abenteuer bei uns, die ich mehr vermute als kenne, stammen in gerader Linie aus unseren hiesigen alten Geschichten her.«
»Wie komme ich mit Ihren alten Geschichten zusammen? Dergleichen ist mir in meinem Leben nicht begegnet. Sagen Sie doch.«
Der Bürgermeister lächelte und erwiderte. »Man hält Sie für den toten Gast, für ein Gespenst aus unseren Volksmärchen; und wie spaßhaft mir auch die lächerliche Einbildung unserer Spießbürger ist, kann ich doch – Sie nehmen mir Offenheit nicht übel – selbst meine Verwunderung nicht bergen, sie Wie mit dem Helden aus unserer Herbesheimer Schreckenshistorie eine ganz eigene Ähnlichkeit haben. Vorausgesetzt, Sie haben mit mir nicht etwa einen abfälligen Scherz fortsetzen wollen und wissen durchaus nichts von der Geschichte des toten Gastes, will ich sie Ihnen so erzählen, wie ich sie mir habe von mehreren erzählen lassen.«
Herr von Hahn gab die lebhaftesten Äußerungen seiner Neugier. Der Bürgermeister sagte: »Es ist wohl das erstemal, daß man ein Ammenmärchen ganz offiziell vorträgt.« Und nun hob er lachend die Erzählung vom toten Gaste an.
»Jetzt erklär' ich mir alles!« sagte lachend Herr von Hahn, als die Geschichte beendet war, »den schönen Herbesheimerinnen ist um ihre Hälse bange.«
»Scherz beiseite, Herr von Hahn, mir ist noch mancherlei dunkel. Ich glaube zwar auch an die buntesten Spiele des Zufalls; aber hier spielt dieser launenhafte Schicksalsgott doch fast zu grob, als daß ich nicht wirklich einen kleinen Verdacht gegen Sie fassen sollte.«
»Wie, Herr Bürgermeister, Sie sind doch nicht in der Stimmung, mich für den Mann Ihrer Fabel zu halten, der Herbesheim nur alle hundert Jahre besucht, um arme Täubchen zu schlachten?«
»Das wohl nicht. Aber etwas von dem Gespenstermärchen könnten Sie doch zufällig gehört und Ihre Gestalt benutzt haben, um sich an dem Schrecken unserer leichtgläubigen Schönen zu belustigen. Warum zum Beispiel wählten Sie eben den ersten Adventsonntag zu Ihrer Ankunft, und eben den Augenblick des ärgsten Sturms und Regens, wenn Sie nichts gewußt hätten von der Fabel?«
»Sie haben recht, Herr Bürgermeister, er ist auffallend, dieser Zufall; er überrascht mich selbst. Indessen darf ich Sie versichern, daß ich im Kalender so unerfahren bin, daß ich eben jetzt das Vergnügen habe, zu erfahren, ich sei am ersten Advent hergekommen. Auch kann ich mit einem Eide beteuern, daß ich den Regen vom Himmel gar nicht bestellt hatte; umgekehrt, ich hätte ihn gern abbestellt, weil das Wetter mir sehr übel zuschlug.«
»Wie aber, Herr von Hahn, erklären Sie mir den Griff, den Sie diesen Morgen so schalkhaft nach dem Nacken Ihres Wirtes machten? Wußten Sie nichts von unserm Gaste und seinem berühmten Griff?«
Herr von Hahn lachte laut auf. »Aha, darum duckte sich der arme Teufel tief unter mir weg! Der Wirt hielt meine unschuldige Handbewegung – ich wollte ihm auf die Schulter klopfen – für verdächtig.«
»Noch eins, Herr von Hahn. Kennen Sie die Jungfer Wiesel?«
»Manche Wiesel, Herr Bürgermeister, aber keine Jungfer dieses schönen Namens.«
»Man will doch behaupten, Sie wären mit ihr, und sogar bis auf die Hintertür, bekannt.«
»Hintertür der Jungfer Wiesel? Oh, nun versteh' ich. An der Hintertür erkenn' ich jetzt die Abgöttin Ihres Polizeidieners. Nun werden mir auch die Reden und Bitten dieses Menschen erst klar.«
»Noch eins, Herr von Hahn. Sie werden bemerken, daß ich von allen Ihren Schritten unterrichtet bin und die geheime Polizei von Herbesheim der besten von Paris aus den Zeiten der Spionenmeister Fouché und Savigny nichts nachgibt. Wenn ich mir nun im Notfall auch alles bisherige sehr natürlich erklären kann, ohne Sie in Verdacht zu haben, unser frommes Völkchen durch absichtliches Spielen der Totengastrolle ängstigen zu wollen – muß ich doch eine Frage noch tun. Wenn Sie diese Rolle wirklich nicht spielen konnten oder wollten, sagen Sie mir denn – und diese Frage richte ich weniger aus mir selbst, als für jemand anderes, an Sie – wie war es möglich, da Sie mit Fräulein Bantes, das Sie vorher nicht kannten, diesen Morgen binnen wenigen Minuten, binnen einer Viertelstunde so jählings, so innig vertraut wurden, daß Sie – daß Sie das Fräulein – ich weiß nicht, wie ich sagen soll...«
»Also auch das schon haben Sie erfahren?« sagte der Herr von Hahn ganz betroffen, und über das bleiche, doch lebhafte Gesicht verbreitete sich eine Röte, die dem Scharfblick des Bürgermeisters nicht entging.
»Ich bitte Sie noch einmal wegen meiner Neugier um Verzeihung!« setzte der Bürgermeister hinzu. »Sie wissen ja, Polizeibeamte und Ärzte haben das Vorrecht indiskrete Fragen zu tun. Und bekannt ist Ihnen, daß der tote Gast ganz besonders im Rufe steht, Frauenzimmer wetterschnell zu bezaubern; eine Kunst, die ich Ihnen übrigens gerne zutraue, ohne Sie für tot zu halten.«
Herr von Hahn schwieg eine Weile; endlich sagte er: »Herr Bürgermeister, ich fange bald an, mich vor Ihnen mehr zu fürchten, als sich Ihre ganze Bürgerschaft vor meinem schwarzen Rock fürchten kann. Ihnen müssen die Wände ausplaudern können, denn ich war diesen Morgen mit dem liebenswürdigen Fräulein Bantes nur eine kurze Zeit allein, wenn Sie mit dem Worte ›Vertrautwerden‹ darauf anspielen. Erlauben Sie mir aber, eben über diesen Punkt zu schweigen. Entweder Ihre Wände haben Ihnen den Inhalt meiner Unterredung ausgeplaudert, dann kennen Sie ihn, oder nicht, dann geziemt es mir nicht, darüber den Vorhang wegzuziehen, falls Fräulein Bantes es nicht mit eigener Hand tun will.«
Der Bürgermeister zeigte mit einer sanften Neigung des Hauptes an, daß er nicht weiter in ihn dringen wolle, sondern wandte das Gespräch. »Bleiben Sie noch lange bei uns, Herr von Hahn?«
»Ich reise schon morgen wieder ab. Meine Geschäfte sind hier beendet und wahrhaftig, es ist doch auch gar zu unlustig, den Poltergeist spielen zu müssen. Der Zufall hat wohl noch keinen Sterblichen übler mißhandelt als mich, daß ich gerade auserwählt sein mußte, dem toten Gast Ihrer hundertjährigen Stadtsage oder Stadtchronik auf ein Haar ähnlich zu sein.« Diese Erklärung der plötzlichen Abreise kam dem Bürgermeister sehr gelegen. Er verlor also darüber kein Wort mehr und unterhielt sich über andere Dinge mit seinem Inquisiten. Dieser empfahl sich endlich.
Der Bürgermeister fand die Sache sonderbar. Denn für ein ungefähres Zusammentreffen der Umstände, die den Herrn von Hahn zum toten Gast stempeln wollten, war es im gewöhnlichen Gange der Dinge hier zu viel. Und von der anderen Seite hatte sich auch kein Grund gezeigt, an der Redlichkeit der Aussagen des Fremden zu zweifeln. Dies erwog der Bürgermeister her und hin, indem er zum offenen Fenster hinaus auf die Straße sah. Er war, gleich nachdem sein Besuch aus dem Zimmer verschwunden, an dies Fenster getreten, um zu seiner Belustigung achtzugeben, mit welchen Augen die Leute auf der Gasse den toten Gast betrachten würden. Allein zu seiner großen Verwunderung verließ dieser das Haus nicht. Der Bürgermeister wartete noch lange; es verging fast eine Viertelstunde, und er wartete vergebens. Er zog die Klingel. Der Bediente kam und ward vom Bürgermeister befragt. Der Bediente schwor, seit einer Stunde unter dem Balkon vor der Haustür gestanden, aber keinen Herrn in schwarzer Kleidung gesehen zu haben.
Der Bediente ward entlassen. »Das sieht mir doch etwas gespenstisch aus!« brummte der Bürgermeister verlegen lächelnd vor sich hin, und lag wieder im Fenster. Nach einiger Zeit trat der Bediente ungerufen herein und meldete, das Kammermädchen sitze totenbleich und weinend in der Küche und erzähle, der tote Gast sei beim Fräulein Tochter des Herrn Bürgermeisters. Das Fräulein tue mit der schrecklichen Gestalt sehr bekannt, der Unbekannte habe dem Fräulein ein paar prächtige Armbänder überreicht und dazu etwas leise mit dem Fräulein gesprochen. Das Kammermädchen habe zwar alles gesehen, aber nichts verstanden; es wäre auch vom Fräulein sogleich aus dem Zimmer fortgeschickt worden.
Der Bürgermeister lachte zuerst; dann verging ihm bei den Armbändern, bei dem Leisemiteinanderreden, bei dem Fortschicken des Kammermädchens alle Neigung zum Lachen. Er hieß ärgerlich dem Bedienten sich fortmachen. »Armbänder? Flüstern mit meinem Minchen? Woher kennt er sie? Jesus Maria! Wie wird das Mädchen mit dem Manne so schnell vertraut? Wahrhaftig, der legt's darauf an, den toten Gast zu machen.« So sprach er bei sich. Bald lief er zur Stubentür, öffnete und wollte hinaus, um seine Tochter und den Fremden zu überraschen, bald schämte er sich seines keimenden Aberglaubens und legte er seiner Ängstlichkeit Zaum und Gebiß an. Darüber verging eine Viertelstunde. Endlich ward ihm die Zeit zu lang. Er ging zu seiner Tochter, deren Zimmer nicht weit vom seinigen entfernt war. Sie saß am Fenster allein und betrachtete die köstlichen Armbänder.
»Was hast du da, Minchen?« fragte er mit ungewisser Stimme.
Minchen antwortete ganz unbefangen: »Ein Geschenk des Herrn von Hahn für Riekchen Bantes. Er reist morgen früh ab, und hat seine Gründe, selbst nicht mehr in das Haus des Herrn Bantes zu gehen. Er ist mir unbegreiflich. Bräutigam und schon wieder davonreisen! Nun soll ich's ihr geben«
»Und woher kennst du ihn oder er dich?«
»Als ich diesen Morgen bei Riekchen und ihrer Mutter war, machten wir Bekanntschaft. Es durchschauerte mich, als ich ihn zum erstenmal sah. Der leibhafte tote Gast! Aber er ist ein sehr guter Mensch. Als er von Ihnen ging, Papa, trat ich eben aus meinem Zimmer. Wir erkannten uns, und er brachte sogleich sein Gesuch an.«
Minchen erzählte dies so unbefangen, daß dem Bürgermeister bis auf Nebensachen alles klar ward. Doch folgenden Morgens mußte der Polizeidiener sogleich nachspüren, ob der Fremde wirklich, seinem Worte gemäß, abgereist sei.