Der tote Gast

von Heinrich Zschokke

Kapitel 14

Gegenseitige Erklärungen

So schloß Waldrich seine Erzählung. Es war sichtbar, daß die aufmerksamen Zuhörer und Zuhörerinnen, diesmal weniger von der Erzählung ergriffen als das erstemal, ihre Plätze verließen und sich mit ungezwungener Munterkeit untereinander mischten. Indessen schien der zweite Teil der Sage doch auch nicht ohne Eindruck geblieben zu sein; denn man unterhielt sich den ganzen Abend davon, und einige gar ernsthaft über die Möglichkeit solchen Spuks. Am kecksten jedoch spottete der alte Herr Bantes über das Märchen. Sein Witz und Spott aber wirkte bei den wenigsten; denn man kannte ihn schon als eine Art Freigeist und man wußte, daß der ehemalige alte Pfarrer deutlich auf ihn gezielt habe, wenn in der Predigt von Arianern, Naturalisten, Deisten, Atheisten und Sozinianern die Rede gewesen war.

Wie mächtig die Erzählung Waldrichs allgemeine Teilnahme angeregt hatte, ward schon daraus klar, daß sie sich in den folgen den Tagen die ganze Stadt wiedererzählte und daß sie, natürlich mit mancherlei Zusätzen reich ausgestattet, herumgeboten ward. Zu einer anderen Zeit hätte sie kaum hingereicht, den Abend einer hörlustigen Wintergesellschaft auszufüllen. Jetzt aber, da die Rede von der hundertjährigen Wiederkunft des toten Gastes an der Tagesordnung war, beschäftigte es allerdings die Neugier auch der Ungläubigsten oder Gleichgültigsten, was für eine Bewandtnis es mit dem toten Gaste habe.

Waldrich selbst erfuhr erst später, welches unbeabsichtigte Schicksal sein Geschichtchen hatte. Denn er mußte Herbesheim in Geschäften seines Regiments auf einige Wochen verlassen. Das hätte er nun gern abgelehnt, nicht nur wegen des häßlichen Winterwetters, das sich früh einzustellen drohte, sondern auch Friederikes oder vielmehr seiner selbst willen. Denn nun erst, da seiner Liebe durch den Herrn von Hahn Gefahr drohte, war diese zur Leidenschaft geworden. Er zweifelte zwar nicht an der Treue ihres Herzens, noch weniger an ihrem Mut, auf keine Weise in den kaufmännisch berechneten Heiratsplan ihres Vaters einzugehen; aber – doch ängstigten ihn Gedanken von hunderttausend Möglichkeiten. Und hätten sie ihn nicht geängstigt, würde ihm doch die Trennung von der ihm heimlich Verlobten, deren ganzes Wesen sich ihm in der Glut seiner Leidenschaft vergöttert hatte, unerträglich gewesen sein. – Allein der Befehl war da, und der soldatische Gehorsam konnte nichts einwenden.

»Friederike,« sagte er am Abend vor seiner Abreise, da er zufällig mit dem Fräulein im halbdunkeln Zimmer allein beisammen war, »Friederike, nie, nie bin ich mit so schwerem Herzen von Herbesheim und von Ihnen gegangen als diesmal. Und ist es gleich nur für wenige Wochen, ist es doch, als wäre es für ewig. Es steht etwas vor mir wie ein dunkles Unglück, das sich durch Ahnungen verkündet. Mir wäre leichter, wenn ich bestimmt wußte, es ginge in den Tod.«

Friederike erschrak über seine Worte. Sie ergriff seine Hand und sagte: »Macht dir etwa der Herr von Hahn Sorgen, daß er während deiner Abwesenheit eintreffe? Oder ist dir wegen meiner Standhaftigkeit bange? – Fürchte doch nichts, ich bitte dich, fürchte nichts. Sorge doch nicht für mich, sondern für dich, für deine Gesundheit, für dein Leben bei dieser ungesunden Jahreszeit. Denn ich gestehe dir, auch mir war noch bei keiner unserer Trennungen so übel zumute wie diesmal. Ich weiß nicht zu sagen, warum; aber ich zittere, du kommst gar nicht wieder.«

Beide fuhren fort, sich ihre Bangigkeiten und Besorgnisse auszusprechen – und was sie nicht öffentlich durften, taten sie jetzt, sie sagten sich unter Umarmungen, Tränen und Küssen ihr Lebewohl, beide mit dem schweren Gefühl, es sei das letzte. Da trat eine Magd herein mit dem brennenden Licht. Waldrich eilte fort und aus dem Hause, um seine Tränen zu verbergen und seinen Schmerz im Freien auszuhauchen. Friederike ging in ihr Zimmer und schützte Kopfweh vor, um sich ins Bett zu legen und den ganzen Abend ungestört sein zu können.

In der Nacht reiste der Hauptmann ab. Herr Bantes hatte vorher ihn noch gezwungen, einen guten wärmenden Punsch mit ihm zu trinken. Aber der Punsch erheiterte das Gemüt des Scheidenden nicht, ob er sich gleich in Gegenwart des Herrn Bantes Gewalt tat, fröhlich zu scheinen. Frau Bantes bemerkte es wohl. Und als sie folgenden Morgens zu Friederike ans Bett trat und fragte: »Wie hast du geschlafen? Ist dir besser?« sah sie wohl, daß das arme Mädchen blaß war und rotgeweinte Augen hatte.

»Kind,« sprach sie, »ich merke, du bist krank. Warum verhehlst du der Mutter deine Leiden? Bin ich deine Mutter nicht mehr? Liebe ich dich weniger denn sonst, oder liebst du mich weniger, seit Waldrich deine Liebe ist? – Warum wirst du rot? Errötest du vor einem Unrecht? Daß du ihn liebst, darin finde ich eben nichts Sündhaftes; aber daß du mit deinem Herzen nicht wie sonst klar vor mir wie vor Gott stehst, das ist zu tadeln.«

Friederike richtete sich auf, breitete ihre Arme aus und drückte laut weinend die Mutter an sich: »Ja, ich lieb' ihn. Ja, ich bin ihm zugesagt. Sie wissen es. Ich hatte unrecht, gegen die gute Mutter zu schweigen; aber ich wollte ihr ja nur mein Unglück verschweigen, um sie nicht zu früh mit in mein Leiden zu ziehen. Das muß endlich doch, aber so spät als möglich geschehen, wenn es der Vater erfahren wird, daß ich lieber unvermählt sterbe, als seinem für mich Erwählten die Hand gebe. So dachte ich – und schwieg.«

»Kind, ich bin nicht gekommen, dir Vorwürfe zu machen. Ich verzeihe deinem Mißtrauen gegen ein Mutterherz, das sich dir noch nicht verleugnet hat. Also davon still. Und was deine und Waldrichs gegenseitige Neigung betrifft, hatte ich sie längst befürchtet. Ja, es konnte nichts anders kommen. Ihr konntet beide nichts ändern. Doch sei ruhig. Hoffe, bete! Wenn Gott will, wird er's lenken. Er ist deiner wert, ob er gleich nicht hat und ist, was der Vater dir bestimmt hat. Ich werde es dem Vater entdecken, wie ihr beide miteinander steht.«

»Um Gottes willen, noch nicht, nur jetzt noch nicht!«

»Ja, Friederike, jetzt. Es wäre besser gewesen, schon früher. Ich muß es ihm entdecken, denn ich bin seine Frau. Als solche will ich und darf ich kein bedeutendes Geheimnis vor dem Manne haben; habe du dergleichen auch nie im Leben vor deinem künftigen Gemahl. Das erste Geheimnis, welches Mann oder Weib in der sonst glücklichen Ehe voreinander hegen, bringt den Untergang alles Glücks, bringt Mißtrauen und Spannung. Wir mögen jemals recht oder unrecht handeln. Offenheit tut zu allem wohl, hindert das Erscheinen vieles Bösen und macht selbst das Fehlerhafte minder schuldvoll.«

»Aber was soll ich tun?« fragte Friederike.

»Du? Was du? Weißt du's nicht? Wende dich im stillen Gebete zu deinem Gott. Die Unterhaltung mit dem, der die Sonnen droben und die Sonnenstäubchen hier unten leitet, wird dich erheben, dich heiligen, beruhigen. Du wirst besonnener, edler denken und tun. Und dann wirst du nie Übles tun. Und tust du das Rechte und sagst du das Rechte, glaube mir, so wird' nicht unrecht gehen.«

So sprach ihr Frau Bantes zu und verließ sie, um sich zu ihrem Manne ans Frühstück zu setzen.

»Was fehlt dem Mädchen?« fragte er.

»Vertrauen zu dir und mir, aus allzugroßer Liebe zu ihren Eltern.«

»Krummes Zeug und dergleichen! Mama, du hast wieder etwas im Hintergrunde. Gestern hatte sie Kopfweh und heute kein Vertrauen.«

»Sie hat Furcht, dich zu kränken; darum wird sie krank.«

»Possen und dergleichen!«

»Sie fürchtet, du werdest ihr den Herrn von Hahn aufzwingen, auch wenn sie ihn nicht will.«

»Sie hat ihn ja noch nicht gesehen.«

»Sie möchte ihn lieber nicht sehen. Ihr Herz hat schon entschieden. Sie und Waldrich haben Neigung füreinander. Du hättest es längst bemerken können.«

»Halt!« rief Herr Bantes und setzte die Kaffeetasse nieder, besann sich, hob die Tasse wieder auf und sagte: »Weiter?«

»Was weiter? Daß du behutsam gehen, daß du mit der Verlobung nichts übereilen mußt, wenn du nicht Unglück anrichten willst ohne Not. Es ist möglich, daß Friederike den Herrn von Hahn, wenn sie nur weiß, daß er ihr nicht aufgedrungen werden soll, nach und nach recht angenehm findet. Es ist möglich, daß der Kommandant in eine andere Garnison verlegt wird, daß Trennung und Zeit die erste Leidenschaft schwächt... dann –«

»Richtig! das ist auch mein ganzer Sinn. Ich schreibe seinem General. Er muß in andere Garnison. Zum Kuckuck und Küster, Friederike wird doch nicht Frau Hauptmännin werden wollen? Ich schreibe mit nächstem Posttag. Das sind mir Teufelsstreiche!«

Jetzt hatte Frau Bantes angebahnt. Es gab freilich eine sehr lebhafte Unterredung; Vater Bantes stürmte nach seiner Art ein wenig und sprach seinen Willen entschieden genug aus, doch gab er zu, man müsse behutsam gehen, keinem Strom einen Damm entgegenbauen und keiner Leidenschaft Gewaltgebote geben; Waldrich müsse mit guter Art von Herbesheim fort, Friederikes Neigung nicht offen widersprochen werden, damit sie sich beruhige, und so müsse dem Ziel unvermerkt zugesteuert sein.

»Bei dem allen bleibt's ein dummer Streich!« sagte Herr Bantes ärgerlich. Das sagte er auch, als er sich mit Friederike unter vier Augen verständigt hatte. »Siehst du,« sprach er zu ihr, »du bist ein vernünftiges Mädchen, und solltest dich da nicht wie ein anderes Gänschen verplempern. Aber, wie gesagt, ich habe nichts dagegen; meinetwegen liebt euch – nur an Heirat denkt nicht! Daraus wird nichts. Du bist zu jung. Nichts überhaspelt! Lerne alle Männer kennen. Es hat jeder sein Gutes. Denke dann, was sich für dich schickt. Lerne den Herrn von Hahn kennen. Taugt er nicht für dich, dann marsch mit ihm. Ich zwinge dich zu nichts, aber zwinge mich auch zu nichts.«

So ward der innere Friede der Familie wiederhergestellt, und durch weise Leitung der Frau Bantes ein drohendes Ungewitter in einen stillen trüben Regentag verwandelt. Die alte Heiterkeit, so gut es ging, kehrte zurück und alles nahm den gewohnten Gang ein. Friederike, vollkommen beruhigt, dankte dem Himmel, daß es so weit gediehen sei, und erwartete von der Zukunft vertrauensvoll das noch Bessere. Mit Zuversicht erwartete auch Herr Bantes das Bessere. Er freute sich, daß Friederike ihren bisherigen Frohsinn wieder annahm, und entwarf indes das Schreiben an den General. Frau Bantes, die ihren Gemahl wie ihre Tochter mit gleicher Zärtlichkeit im Herzen umschloß, hoffte wenig, fürchtete wenig; sie überließ die Entscheidung dem Himmel. Waldrich war ihr lieb, wie ein angenommener Sohn; aber auch der Herr von Hahn war ihr durch die erhaltenen Anzeigen und durch die Vorliebe ihres Gatten schätzbar. Sie wollte nur ihrer Tochter Glück, gleichviel, durch wessen Hand es gegeben werden könne.


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