Der tote Gast
von Heinrich Zschokke
Kapitel 12
Hier machte Waldrich eine Pause. Es war Totenstille im Zimmer. Alle Kerzen brannten dunkel und warfen falbes Halblicht auf den Kreis der Horchenden. Die Männer saßen und standen ernsthaft umher; die jungen Frauenzimmer hatten sich unvermerkt paarweise enger aneinander gedrängt und die betagten Frauen horchten noch, da Waldrich schon lange schwieg, mit gefalteten Händen und verlängerten Gesichtszügen.
»Vor allen Dingen putzt die Lichter!« rief Herr Bantes. »Und redet wieder, daß man warme Menschenstimmen höre, sonst lauf' ich davon. Das Teufelszeug könnte einem Grauen machen.«
Das war jedem aus der Seele gesprochen. Man lief zu den Kerzen. Man stand auf. Man bot Erfrischungen umher. Man gefiel sich, recht laut zu plaudern und laut zu lachen, und sich mit der Furchtsamkeit zu necken, die einer am anderen bemerkt haben und keiner gestehen wolle. Man nannte die Sage vom toten Gaste das tollste Märchen, was je eine Ammenphantasie ausgebrütet habe und meinte, wenn eine Miß Anna Radcliffe oder ein Lord Byron darum wüßten, die Welt noch ein Meisterstück des Schauerlichen zu erwarten hätte.
Sobald aber der Stadtkommandant vom Reden und die Gesellschaft vom Hören ausgeruht hatten, ward das Bitten um den zweiten Teil der Sage, oder um die Geschichte von der anderen Erscheinung des toten Gastes, begonnen, Man setzte sich im Halbkreise um den Erzähler, ohne seine Erklärung abzuwarten, ob er fortfahren wolle. Mit furchtsamer Neugier richteten sich aller Augen auf ihn, als er endlich seinen Platz einnahm. Gruppenweise rückten gleich anfangs die Mädchen die Stühle enger zusammen, ebenso die Matronen untereinander. Es war neue Stille.
»Das heutige Beckersche Gut vor der Stadt gehörte ehemals, wie Sie wissen, einer freiherrlichen Familie von Roren,« erzählte Waldrich, »die es aber schon seit hundert Jahren nicht mehr bewohnte, sondern in Pacht gab, bis es vor ungefähr zwanzig Jahren in den Kriegsunruhen an den verstorbenen Herrn Hofrat Becker kaufsweise kam. Der letzte Baron, der dieses Gut, zu dem noch ein großer Teil unserer Stadtwaldungen gehörte, mit seiner Familie zuweilen selbst bewohnte, war ein ungeheuerer Verschwender. Er zog freilich nur hierher, wenn er nach seinem Aufwand, den er zu Venedig oder Paris getrieben, wieder Kräfte sammeln wollte. Allein selbst seine ökonomischen Erholungszeiten auf dem prächtigen Edelsitze waren meistens nur Fortsetzungen der gewohnten Lustbarkeiten in verjüngtem Maßstabe. Noch jetzt sehen wir da die Spuren der alten Größe und Pracht an den weitläufigen Ruinen des ehemaligen Schlosses und der Nebengebäude, die schon vor siebzig Jahren ein Raub der Flammen geworden sind, und an deren Seite sich jetzt das schöne, bürgerlich-bescheidene Landhaus erhebt, das der Hofrat Becker zu seiner Zeit aufführen ließ. Weit umher, wo jetzt der Pflug geht, war ehemals alles Garten.
Als der Baron das letztemal zu seinem Edelsitze kam, war es zu ganz ungewöhnlicher Zeit und in ganz ungewöhnlich großer Gesellschaft, nämlich spät im Herbst und mit fünfzehn bis zwanzig jungen Edelleuten und deren Dienerschaft. Seine Tochter war damals die Braut des Vicomte de Vivienne, eines reichen und liebenswürdigen Wildfangs, der die deutschen Höfe mit Aufträgen des Kardinals Dubois bereist hatte. Dubois war der allmächtige Minister des Herzogs von Orleans, Regenten von Frankreich, und Vivienne sein besonderer Günstling.
Man kann sich denken, der Baron von Roren ließ es an nichts fehlen, seinem Gaste den Aufenthalt im ländlichen Palaste neben einer kleinen Stadt so angenehm als möglich zu machen. Die Freuden der Tafel, die Freuden der Jagd in den benachbarten Forsten, die Freuden des Hasardspiels um aufgeschichtete Goldsummen wechselten mit Lustreisen, mit Aufführung kleiner französischer Schauspiele usw. unablässig ab. Graf Altenkreuz, ein junger reicher Lebenslustiger, der Sohn einer der vornehmsten Familien am Niederrheine, machte in dieser frohen Bande den Freudenmeister. Er war ein Erzspieler, kannte das Treiben aller damaligen Höfe und hatte an allen die kostbare Kunst gelernt, die Tage im möglichsten Wechsel der Lustbarkeiten zu verjubeln. Nichts kam darin seinem erfinderischen Witze gleich. Der Baron von Roren hatte erst kurz vorher, ehe er nach Herbesheim ging, seine Bekanntschaft gemacht und ihn als einen wahren Schatz mitgenommen, vermutlich wohl auch deswegen, weil Altenkreuz gern und hoch spielte, aber nicht immer glücklich. So war von ihm, zur Herstellung zerrütteter Finanzen, mancher schöne Beitrag zu hoffen.
Ebendieser junge Wüstling war es auch, der, als die Wintertage anrückten, auf den Einfall geriet, man müsse einmal Maskenbälle geben und zwar also, daß sich jeder seine Schöne dazu aus der Nachbarschaft oder aus der Stadt, ohne Rücksicht auf Stand und Geburt, wählen könne. Denn in der Tat fehlte es in den Gesellschaften und Festen der Herren an Frauenzimmern. Die junge Baronesse Roren und einige ihrer Freundinnen verloren sich zu sehr in der zahlreichen Menge der Herren. Wozu denn, wo man Freude sucht, nach dem Stammbaum schauen? sagte Altenkreuz. Die Schönheit ist jedem Stande, selbst den Königinnen, ebenbürtig, und unter den Grisetten zählt man die Schönheiten, die auch kein Hof verschmäht.
Alles klatschte Beifall, wenn schon die Fräulein ein wenig die Nase rümpften. Nun wurden Putzmacher und Schneider des Städtchens in Bewegung gesetzt, sogar aus anderen Städten verschrieben, um Maskentrachten von allerlei Art zu bereiten. Der Vicomte de Vivienne wollte auch hier an Geschmack vor allen sich auszeichnen; und Altenkreuz auch hier, wie immer, den Franzosen überglänzen. Er suchte sich in Herbesheim den geschicktesten Schneider und das hübscheste Mädchen, um es zum Ball zu führen. Beides fand er unter einerlei Dach beisammen. Meister Vogel war der beste Schneider, der sogleich die Vorzeichnungen des Grafen verstand, und seine Tochter Henriette in der ersten Blüte ihrer Reize, die den Grafen bald mehr, als sie sollten, bezauberten.
Der Graf fehlte nur selten im Hause des Meisters. Er hatte beständig nachzusehen, damit nichts verdorben würde. Besonders hatte er der fleißigen Henriette bei ihrer Arbeit viel zu erinnern. Auch ein paar köstliche weibliche Anzüge ließ er verfertigen für den Maskenball, die mußte Henriette nicht nur nähen, sondern der Vater ihr auch nach ihrem eigenen Körper anmessen, weil der Graf sagte, daß ein Fräulein von einem benachbarten Edelsitze, das er zum Ball führen würde, vollkommen Henriettens schlanke Gestalt habe. Dabei war er sehr freigebig; bloß die kleinen Geschenke, die er machte, waren zuletzt so viel wert, als der wirklich bedungene Arbeitslohn. Daß Henriette die ausgewähltesten Geschenke bekam, verstand sich von selbst, und daß er ihr, wenn er sie allein traf, viel Schmeichelhaftes über ihre Schönheit sagte, ja zuletzt sogar von Liebe sprach, war bei seiner Leidenschaft vorauszusehen. Henriette mochte nun freilich von diesen Zärtlichkeiten nichts hören, denn sie war ein ehrbares Mädchen, und noch überdies schon mit einem Gesellen ihres Vaters versprochen; aber sie hörte doch auch die Süßigkeiten eines so vornehmen und gütigen Herrn nicht mit Verdruß, denn ein Mädchen kann selten auf den böse werden, von dem es verehrt wird.
Wenige Tage vor dem Balltage – schon waren die Maskenkleider fertig – kam Altenkreuz sehr düster und verstimmt in Meister Vogels Haus. Er bat den Meister, ein Wort mit ihm allein zu reden, und die entfernten sich.
Meister, sagte er, ich bin in schwerer Verlegenheit. Ihr, wenn Ihr wollt, könnt mir aus der Not helfen und ich will es Euch besser lohnen, wenn Ihr mir den Gefallen erweist, als wenn Ihr mir das ganze Jahr Ballkleider nähtet.
Ich bin Eurer Gnaden allezeit gehorsamer Diener! versetzte mit Verbeugung und lächelnder Miene der Schneider.
Denkt nur, Meister, sagte Altenkreuz ferner, mein Fräulein, das ich zum Tanz führen sollte, ist krank geworden und läßt mir absagen. Alle anderen Herren haben ihre Tänzerinnen und, Ihr wißt es, meistens Bürgerstöchter aus der Stadt. Nun steh ich da, ohne meine andere Hälfte. Ich könnte sie wohl noch in den Familien der Ratsherren und Kaufleute finden, aber welcher passen die Ballkleider? Ihr seht, Meister, ich muß Euch schlechterdings um Eure Tochter bitten. Ihr selbst habt ihr ja die Anzüge auf den Leib gemessen. Ihr müßt sie bitten.
Der Schneider stutzte anfangs. Soviel Ehre hatte er nicht erwarten können. Er verbeugte sich vielmals und konnte kein Wort hervorbringen.
Henriette soll es nicht bereuen, fuhr Altenkreuz fort, die Kleider, in denen sie tanzt, bleiben ihr Eigentum und ich will ihr, was in einer glänzenden Gesellschaft noch nötig sein mag, um würdig zu erscheinen, mit Freuden anschaffen.
Eure Gnaden sind allzugütig! rief Meister Vogel. Ich muß Eure Gnaden auch noch ohne Selbstlob sagen, das Mädchen tanzt vortrefflich. Sie sollten sie nur an der Hochzeit meines Nachbars, des Zinngießers, gesehen haben. Ich bin starr und steif geworden, als ich das Mädchen so tanzen sah. Es hat nichts zu sagen. Bleiben Eure Gnaden nur im Zimmer hier. Ich will das Mädchen herschicken. Tragen's Eure Gnaden vor, und an mir soll's nicht fehlen.
Aber, Meister, versetzte Altenkreuz, Henriettes Bräutigam ist vielleicht eifersüchtig, woran er sehr unrecht hätte. Ihr müßt ihm ein gutes Wort geben.
Oh! rief Meister Vogel, der Lümmel darf mir nicht mucksen.
Er ging. Nach einem Weilchen trat Henriette errötend ins Zimmer. Der Graf bedeckte ihre Hand mit seinen Küssen. Er sagte ihr seine Wünsche, seine Verlegenheiten und daß er sie bäte, auf seine Kosten alles anzuschaffen, was sie für unentbehrlich halte, um gleich dem geschmücktesten Fräulein zu erscheinen. Sie errötete von neuem, besonders als er ihr zuflüsterte, sie werde die erste Schönheit des Balles sein, und als er ihr ein Paar der prächtigsten Ohrringe überreichte.
Das war für ein schwaches, eitles Mädchen fast zu viel. Henriette dachte sich in einem flüchtigen Augenblicke die Pracht des Festes, sich darin glänzend und bewundernd, vom Kopfe bis zum Fuße den ersten Fräulein gleichgekleidet... aber sie blieb verlegen und stammelte etwas von ihrem Vater her, wenn er es erlauben würde.
Altenkreuz beruhigte sie über diesen Punkt. Und da sie nun nicht anstand, seine Einladung dankbar anzunehmen, schloß er sie entzückt in die Arme und sagte: Henriette, was soll ich's leugnen? Du, und kein anderes Fräulein, warst vom ersten Augenblicke an meine Auserwählte. Dich hatte ich schon ersehen, als dein Vater dir den Maskenanzug auf deinem schönen Leibe maß. Nur zur Tänzerin wählte ich dich damals. Ach, Henriette, ich möchte dich zu mehr wählen, denn ich bete dich an. Du bist nicht so wunderschön geschaffen, um das Eheweib eines rohen, armen Schneidergesellen zu sein. Du bist zu Höherem bestimmt. Verstehst du mich, willst du mich verstehen?
Sie antwortete nichts, zog sich aus seinem Arm und versprach nur, seine Tänzerin zu werden, wenn der Vater nichts dagegen habe. Beide gingen in die Arbeitsstube zurück. Hier lispelte Altenkreuz dem Meister ins Ohr: Sie ist es zufrieden. Sorgt, daß ihr das Nötige angeschafft werde, um anständig zu erscheinen. Hier nehmt dies zur Bestreitung der Auslagen. Und er drückte dem Alten eine Rolle Goldstücke in die Hand und ging.
Jetzt aber gab es stürmische Auftritte in dem Hause des Schneiders; denn Christian, der Gesell, Henriettes Verlobter, ward fast toll als er vernahm, wovon die Rede sei. Weder die tausend Liebkosungen des weinenden Mädchens, noch die Flüche und Schwüre des Alten konnten ihn wieder zur Vernunft bringen. Das dauerte den ganzen Tag. Henriette hatte eine schlaflose Nacht. Sie war dem Christian in vollem Ernste gut; aber sie konnte ihm doch unmöglich, wie er es trotzig forderte, die Gelegenheit aufopfern, einmal an einem Maskenball unter allen Vornehmen der Stadt und der Nachbarschaft, im höchsten Schmuck, wie sie ihn in ihrem Leben nicht getragen hatte, Bewunderung zu ernten. Er verlangte in der Tat auch beinahe das Unmögliche. Ja, sie konnte nicht anders als glauben, er liebe sie nicht wahrhaft, weil er ihr eine solche Freude, die an sich höchst unschuldig war, mißgönnen mochte.
Am anderen Tage war Christian wohl etwas ruhiger, das heißt er tobte nicht mehr so erschrecklich; aber doch wiederholte er immer drohen und warnend sein: Und du gehst nicht zum Ball! dem Henriette gewöhnlich ebenso mürrisch entgegensetzte: Und ich gehe doch! worauf der Vater hinzuzusetzen pflegte: Und sie soll gehen, dir zum Trotz, ich befehl' es. – Tanzschuhe, Seidenstrümpfe, feine Schnupftücher, Spitzen usw., alles aufs kostbarste, ward angekauft.
Wie aber der Balltag kam und aus der Sache Ernst ward, schnürte Christian sein Bündel und trat vollkommen reisefertig herein und sprach: Gehst du, so geh' ich auch, und wir sind auf ewig geschiedene Leute. – Henriette erblaßte. Der Alte, der schon vorher heftig mit Christian gezankt hatte, sprach: Packe dich, wenn du willst. Ich will doch sehen, wer von uns hier Meister ist! Henriette bekommt noch alle Tage einen Mann, zehnmal besser als du bist. – Aber Henriette weinte. Da trat ein Bedienter des Grafen Altenkreuz mit einer Schachtel herein, die er im Namen seines Herrn abgab. Sie enthielt, sagte er, noch einige Kleinigkeiten zu Anzuge der Jungfer Vogel. Es war ein kostbarer Schleier; es waren prächtige Rollen breiten Seidenbandes; es war eine zierliche Korallenschnur zum Halsbande; es waren zwei Brillantringe. Henriette sah seitwärts nach den Herrlichkeiten, die der Vater hervorzog, und durch ihre Tränen funkelten die Diamanten der Ringe noch sonnenhafter in allen Farben. Sie wankte zwischen Eitelkeit und Liebe.
Und du gehst nicht! rief Christian.
Und ich gehe! sagte Henriette mit stolzer Entschlossenheit. Du bist nicht wert, daß ich so viel um dich weine; du bist nicht wert, daß ich dich so liebhabe. Denn nun sehe ich deutlich, daß du mir so viel Freude und Ehre nicht gönnst, und mir nie gut gewesen bist.
Meinethalben! sagte Christian. So geh! Du brichst ein treues Herz. Er warf ihr den von ihr empfangenen Ring vor die Füße und ging und kam nicht wieder.
Henriette schluchzte laut, wollte ihn zurückrufen; allein der Vater tröstete sie. Der Abend kam. Sie kleidete sich zum Ball an. Die Zerstreuungen des Putzes machten sie bald des davongelaufenen Liebhabers vergessen. Ein Wagen wollte vor das Haus. Altenkreuz kam, sie abzuholen. Man fuhr davon. Ach, Henriette! sagte er im Wagen, du bist unendlich schöner als ich glaubte. Du bist eine Göttin. Du bist für solchen Putz und nicht für deinen niedrigen Stand geboren!