Das Abenteuer der Neujahrsnacht

9.

Sei es, daß der Geist des Weins durch die wachsende Kälte der Neujahrsnacht oder durch Röschens Täuschung in seiner Wirkung gesteigert ward, der Mutwille des fürstlichen Nachtwächters nahm überhand.

Mitten in einem Haufen von Spaziergängern blieb er an einer Straßenecke stehen und stieß mit solcher Kraft ins Horn, daß alle Frauenzimmer mit lautem Schrei zurücksprangen und die Männer vor Schrecken steif wurden. Dann rief Julian die Stunde und sang dazu:

»Der Handel unsrer lieben Stadt

Gewaltig abgenommen hat.

Selbst unsre Mädchen, weiß und braun,

Sucht man nicht mehr zu Ehefraun.

Die Ware putzt sich, wie sie kann,

Und bringt sich doch nicht an den Mann.«

»Das ist doch unverschämt!« riefen einige weibliche Stimmen im Haufen, »uns mit Waren zu vergleichen!« Von den anwesenden Männern aber lachten viele aus vollem Halse. »Da capo!« schrien einige lustige Brüder. »Bravo, Nachtwächter!« schrien andere. »Was unterstehst du dich, Kerl, unsere Frauenzimmer auf öffentlicher Straße zu beleidigen?« schnob ein junger Leutnant, der ein hübsches Mädchen am Arm führte, den Nachtwächter an.

»Herr Leutnant, der Nachtwächter singt leider Gottes die Wahrheit!« entgegnete ihm ein junger Müller. »Und gerade das Weibsbild, das Sie am Arm führen, bestätigt die Wahrheit. He, Jüngferchen, kennst du mich? Weißt du, wer ich bin? He? Geziemt sich das für eine verlobte Braut, des Nachts mit anderen Männern herumzuschwärmen? Morgen sag' ich's deiner Mutter. Ich will nichts mehr mit dir zu schaffen haben!«

Das Mädchen verhüllte sich das Gesicht und zupfte am Arm des Offiziers, um davonzukommen. Der Leutnant wollte aber, ein Kriegsheld, vor dem Müller nicht so leicht Reißaus nehmen und mit Ehren das Feld behaupten. Er stieß eine Menge Flüche aus, und da dieser kein Wort schuldig blieb, schwang er den Stock. Plötzlich aber erhoben sich zwei dicke spanische Rohre, von bürgerlichen Fäusten geführt, warnend über dem Haupte des Leutnants.

»Herr!« rief ein breitschultriger Bierbrauer dem Kriegsmanne zu: »Hier keine Händel wegen des schlechten Mädchens angefangen. Ich kenne den Müller; er ist ein braver Mann. Er hat recht; und der Nachtwächter hat recht, so wahr ich lebe! Ein ehrlicher Bürgersmann und Professionist kann und mag kaum noch ein Mädchen aus unserer Stadt zur Frau nehmen. Die Weibsbilder wollen sich alle über ihren Stand erheben; statt Strümpfe zu flicken, lesen sie Romane, statt Küche und Keller zu besorgen, laufen sie in Komödien und Konzerte. Im Hause bei ihnen ist Unflat, und auf den Gassen gehen sie geputzt einher wie Prinzessinnen. Da bringen sie dem Manne keine Mitgift ins Haus als ein paar schöne Röcke, Spitzen und Bänder und Liebschaften, Romane und Faulheit. Herr, ich spreche aus Erfahrung. Wären unsere Bürgerstöchter nicht so verderbt, ich wäre längst verheiratet.«

Alle Umstehenden erhoben ein gellendes Gelächter. Der Leutnant streckte langsam das Gewehr vor den beiden spanischen Rohren und sagte verdrießlich: »Das fehlte auch noch, hier von dem bürgerlichen Pack Bußpredigten zu hören!«

»Was, bürgerliches Pack?« rief ein Nagelschmied, der das zweite spanische Rohr führte. »Ihr adeligen Müßiggänger, die wir euch mit unseren Steuern und Abgaben füttern müssen, wollt ihr von bürgerlichem Pack sprechen? Eure Liederlichkeit ist an allem Unglück in unsern Haushaltungen schuld. Es blieben nicht halb soviel ehrliche Mädchen sitzen, wenn ihr hättet beten und arbeiten gelernt.«

Nun sprangen mehrere junge Offiziere dazu; aber auch Meister und Handwerksburschen sammelten sich. Buben machten Schneebälle und ließen davon in den dicksten Haufen fliegen, um auch ihre Freude dabei zu haben. Die erste Kugel traf den vornehmen Leutnant auf die Nase. Dieser hielt es für Angriff des bürgerlichen Packs und erhob abermals den Stock. Das Treffen begann.

Der Prinz, welcher nur den Anfang des Wortwechsels gehört hatte, war längst wohlgemut und lachend davongezogen in eine andere Straße, unbekümmert um die Folgen seines Gesanges. Er kam an den Palast des Finanzministers Bodenlos. Mit diesem Herrn stand er nicht im besten Vernehmen, wie das schon Philipp erfahren hatte. Julian sah alle Fenster erleuchtet. Die Gemahlin des Ministers hatte große Gesellschaft. Julian in seiner satirischen Poetenlaune pflanzte sich dem Palaste gegenüber hin und blies kräftig in sein Horn. Einige Herren und Damen öffneten, vielleicht weil sie eben nichts Besseres zu tun hatten, das Fenster, neugierig, den Nachtwächter zu hören.

»Nachtwächter!« rief einer von den Herren herab. »Sing auch ein hübsches Stück zum Neujahr.« Dieser Zuruf lockte noch mehrere von der Gesellschaft der Frau Ministerin an die Fenster.

Julian, nachdem er gewohntermaßen die Stunde gerufen, sang mit lauter Stimme gar vernehmlich:

»Ihr, die ihr seufzt in Schuldennot

Und ohne Witz zum Bankerott,

Fleht, daß der Herr in dieser Nacht

Euch zum Finanzminister macht,

Der ohne Finanzen läßt das Land,

Weil er sie behält in seiner Hand.«

»Das ist ja zum Ohnmächtigwerden!« rief die Frau Ministerin, die ebenfalls zu einem der Fenster getreten war. »Wer ist denn der niederträchtige Mensch, der sich dergleichen erfrecht?«

»Frau Exzellenz!« antwortete Julian mit verstellter Stimme, indem er den jüdischen Dialekt annahm. »Ich wollte Ihnen doch ein kleines Vergnügen machen. Halten zu Gnaden, ich bin nur der Hofjude Abraham Levi; Frau Exzellenz kennen mich doch schon.«

»Weh mir!« schrie eine Stimme oben am Fenster. »Ehrvergessener Kerl, wie willst du sein Abraham Levi? Bin ich nicht selber Abraham Levi? Du bist ein Betrüger!«

»Ruft die Wache!« rief die Frau Ministerin. »Laßt den Menschen arretieren!«

Bei diesen Worten verließen alle Gäste in großer Behendigkeit die Fenster. Aber auch der Prinz blieb nicht stehen, sondern nahm im Doppelschritt den Weg durch einige kleine Quergassen.

Ein Schwarm Bediente, begleitet von einigen Finanzsekretären, stürzte aus dem Palast hervor und jagte umher, den Lästerer zu suchen. Plötzlich riefen einige laut: »Wir haben ihn!« Die andern eilten dem Rufe nach. Wirklich hatten sie den Nachtwächter des Reviers gefunden, der in großer Unschuld auf dem Wege seines Berufs dahintrabte. Er ward umringt, übermannt und, wie sehr er sich auch sträubte, wegen seiner sarkastischen Einfälle auf die Hauptwache geschleppt.

Der wachthabende Offizier schüttelte verwundert den Kopf und sagte: »Man hat mir schon einen Nachtwächter zugeführt, der durch Verse, die er auf die Mädchen der Residenz abgerufen, eine fatale Schlägerei zwischen Offizieren und Bürgerlichen verursacht hat.«

Der neueingebrachte Gefangene wollte durchaus nichts gestehen und lärmte gewaltig, daß ein Haufe junger Leute, die wahrscheinlich zuviel getrunken haben möchten, ihn in der Ausübung des ihm anvertrauten Amtes gestört hätten. Einer der Finanzsekretäre sagte ihm aber den ganzen Vers vor, der den gerechten Zorn der Frau Ministerin und aller ihrer Gäste erregt hatte. Sämtliche Soldaten brachen in ein erschütterndes Lachen aus. Der ehrliche Nachtwächter aber schwor mit Tränen, ihm sei so etwas nie in den Sinn gestiegen.

Während man noch mit diesem Verhör beschäftigt war, der Nachtwächter seine Unschuld beteuerte, die jungen Herren für alle Folgen ihres Betragens verantwortlich machte und die Finanzsekretäre in der Tat schon anfingen, zweifelhaft zu werden, ob sie auch den rechten Mann ergriffen hätten, rief die Schildwache draußen: »Wacht heraus ins Gewehr!«

Die Soldaten sprangen davon. Die Finanzsekretäre fuhren fort, den Nachtwächter mit Fragen zu bestürmen. Indem trat der Feldmarschall in die Wachtstube, begleitet vom wachthabenden Hauptmann.

»Lassen Sie mir den Kerl da krumm schließen!« rief der Feldmarschall und zeigte mit der Hand hinter sich. Zwei Offiziere traten herein, die einen entwaffneten Nachtwächter bei den Armen führten.

»Sind denn die Nachtwächter alle toll geworden?« rief der wachthabende Hauptmann ganz erstaunt aus.

»Ich will dem Bösewicht morgen seine infamen Verse bezahlen!« schrie der Feldmarschall.

»Ihre Exzellenz«, versetzte der neugefangene Wächter zitternd und bebend, »ich habe, weiß der Himmel, keine Verse gemacht, in meinem ganzen Leben keinen Vers!«

»Schweig, Schurke!« brüllte mit entsetzlicher Stimme der Feldmarschall. »Du sollst mir auf die Festung oder an den Galgen. Und widersprichst du mit einem Muck noch, so haue ich dich auf der Stelle in Krautstücken!«

Der wachthabende Hauptmann bemerkte dem Mar schall in aller Ehrerbietung, es müsse eine poetische Epidemie unter den Nachtwächtern in der Stadt ausgebrochen sein; denn er habe nun schon drei dieser Patrone in einer Viertelstunde zu hüten bekommen.

»Meine Herren«, sagte der Feldmarschall zu den ihn begleitenden Offizieren, »da der Kerl schlechterdings nicht eingestehen will, daß er den Vers gesungen habe, so besinnen Sie sich auf das Pasquill, ehe Sie es vergessen. Schreiben Sie es auf. Morgen wollen wir ihn schon zum Geständnis bringen. Jetzt will ich keine Zeit verlieren und auf den Ball. Wer weiß es noch?«

Die Offiziere besannen sich. Einer half dem andern nach. Der Wachthabende schrieb, und da kam folgendes heraus:

»Der Federbusch auf leerem Kopf,

Im Nacken einen steifen Zopf,

Den Bauch zurück, die Brust heraus,

Das macht des Heeres Stärke aus.

Man wird bei Tanz und Geigenschall,

Bei Kuß und Spiele Feldmarschall.«

»Willst du leugnen, Schurke?« fuhr der Feldmarschall den erschrockenen Nachtwächter mit erneuter Wut an. »Willst du leugnen, daß du das gesungen hast, als ich aus der Tür meines Hauses trat?«

»Mag es gesungen haben, wer will, ich weiß nichts davon!« antwortete der Nachtwächter.

»Warum liefst du denn davon, als du mich vortreten sahst?« fragte der Marschall weiter.

»Ich bin nicht gelaufen.«

»Was?« riefen die beiden Offiziere. »Du nicht gelaufen? Warst du nicht außer Atem, als wir dich am Markt hier endlich einholten?«

»Ja, ich war vor Schrecken außer mir, daß mich die Herren so gewalttätig überfielen. Es liegt mir noch jetzt in allen Gliedern.«

»Schließen Sie den hartnäckigen Hund krumm!« rief der Marschall dem Wachthabenden zu. »Er hat bis morgen Zeit genug, sich zu besinnen.« Mit diesen Worten eilte der Marschall hinweg.

Der Lärm auf den Gassen und die Spottgedichte der Nachtwächter hatten die ganze Polizei in Bewegung gesetzt. Noch in derselben Viertelstunde wurden zwei andere Nachtwächter, freilich nicht die rechten, ergriffen und zur Hauptwache geführt. Der eine sollte auf den Minister der auswärtigen Angelegenheiten ein schmähliches Lied gesungen haben, des Inhalts, der Minister wäre nirgends auswärtiger als in seinem Departement. Der andere war beschuldigt, vor dem bischöflichen Palast gesungen zu haben, es fehle den Kirchenlichtern nicht an Talg, aber sie verbreiteten im Lande mehr Qualm und Rauch als Helligkeit.

Der Prinz, welcher durch seinen Mutwillen allen Nachtwächtern der Residenz so schlimmes Spiel machte, entschlüpfte überall glücklich und ward eben darum von Gasse zu Gasse kecker. Die Sache machte Geräusch. Man hatte sogar dem Polizeiminister, der beim König am Spieltische saß, von der poetischen Insurrektion der ehemals so friedlichen Nachtwächter rapportiert und zum Beweis einen der Spottverse schriftlich überbracht. Der König hörte den Vers an, der gegen die schlechte Polizei selbst gerichtet war, die ihre Spürnase in alle Familiengeheimnisse der Stadt stecke und doch im eigenen Hause nichts rieche, daher ihr wohl eine Prise zu gönnen sei. Der König lachte laut auf und befahl, ihm einen der nachtwächterlichen Poeten einzufangen und herzubringen. Er stand vom Spieltische auf; denn er sah, der Polizeiminister hatte die gute Laune verloren.


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