Das Abenteuer der Neujahrsnacht
1.
Mutter Käthe, des alten Nachtwächters Frau, schob am Silvesterabend um neun Uhr das Zugfensterlein zurück und steckte den Kopf in die Nacht hinaus. Der Schnee flog in stillen, großen Flocken, vom Fensterlicht gerötet, auf die Straßen der Residenz nieder. Sie sah lange dem Laufen und Rennen der frohen Menschen zu, die noch in den hellerleuchteten Läden und Gewölben der Kaufleute Neujahrsgeschenke einkauften, oder von und zu Kaffeehäusern und Weinkellern, Kränzchen und Tanzsälen strömten, um das alte Jahr mit dem neuen in Lust und Freuden zu vermählen. Als ihr aber ein paar große, kalte Flocken die Nase belegten, zog sie den Kopf zurück, schob das Fensterlein zu und sagte zu ihrem Mann: »Gottliebchen, bleib zu Hause und laß die Nacht den Philipp für dich gehen. Denn es schneit vom Himmel, wie es mag, und der Schnee tut, wie du weißt, deinen alten Beinen kein Gutes. Auf den Gassen wird es die ganze Nacht lebhaft sein. Es ist, als wäre in allen Häusern Tanz und Fest. Man sieht viel Masken. Da hat unser Philipp gewiß keine Langeweile.«
Der alte Gottlieb nickte mit dem Kopf und sprach: »Käthchen, ich laß' es mir wohl gefallen. Mein Barometer, die Schußwunde über dem Knie, hat mir's schon zwei Tage vorausgesagt, das Wetter werde ändern. Billig, daß der Sohn dem Vater den Dienst erleichtert, den er einmal von mir erbt.«
Nebenbei verdient hier gesagt zu werden, daß der alte Gottlieb vorzeiten Wachtmeister in einem Regiment seines Königs gewesen, bis er bei Erstürmung einer feindlichen Schanze, die er der erste im Kampfe für das Vaterland erstieg, zum Krüppel geschossen ward. Sein Hauptmann, der die Schanze bestieg, nachdem sie erobert war, empfing für solche Heldentat auf dem Schlachtfeld das Verdienstkreuz und Beförderung im Rang. Der arme Wachtmeister mußte froh sein, mit dem zerschossenen Bein lebendig davonzukommen. Aus Mitleid gab man ihm eine Schulmeisterstelle, denn er war ein verständiger Mann, der eine gute Handschrift hatte und gern Bücher las. Bei Verbesserung des Schulwesens ward ihm aber auch die Lehrerstelle entzogen, weil man einen jungen Menschen, der nicht so gut als er lesen, schreiben und rechnen konnte, versorgen wollte, indem einer von den Schulräten dessen Pate war. Den abgesetzten Gottlieb aber beförderte man zum Nachtwächter und adjungierte ihm seinen Sohn Philipp, der eigentlich das Gärtnerhandwerk gelernt hatte.
Die kleine Haushaltung hatte dabei ihr kümmerliches Auskommen. Doch war Frau Käthe eine gute Wirtschafterin und gar häuslich und der alte Gottlieb ein wahrer Weltweiser, der mit wenigem recht glücklich sein konnte. Philipp verdiente sich bei dem Gärtner, in dessen Lohn er stand, sein täglich Brot zur Genüge, und wenn er bestellte Blumen in die Häuser der Reichen trug, gab es artige Trinkgelder. Er war ein hübscher Bursche von sechsundzwanzig Jahren. Vornehme Frauen gaben ihm bloß seines Gesichts wegen ein Stück Geld mehr als jedem anderen, der eben solch ein Gesicht nicht aufweisen konnte.
Frau Käthe hatte schon das Mäntelein umgeworfen, um aus des Gärtners Hause den Sohn zu rufen, als dieser in die Stube trat.
»Vater«, sagte Philipp und gab dem Vater und der Mutter die Hand, »es schneit, und das Schneewetter tut dir nicht wohl. Ich will dich die Nacht ablösen, wenn du willst. Lege du dich schlafen.«
»Du bist brav!« sagte der alte Gottlieb.
»Und dann, habe ich gedacht, morgen sei es doch Neujahr«, fuhr Philipp fort, »und ich möchte morgen bei euch essen und mir gütlich tun. Mütterchen, hast vielleicht keinen Braten in der Küche ...«
»Das eben nicht«, sagte Frau Käthe, »aber doch anderthalb Pfund Rindfleisch, Erdäpfel zum Gemüse und Reis mit Lorbeerblättern zur Suppe. Auch zum Trunk noch ein paar Flaschen Bier. Komm du nur, Philipp; wir können morgen hochleben. Künftige Woche gibt es auch wieder Neujahrsgeld für die Nachtwächter, wenn sie teilen. Da können wir schon wohlleben.«
»Nun, desto besser für euch. Und habt ihr schon die Hausmiete bezahlt?« fragte Philipp.
Der alte Gottlieb zuckte die Achseln.
Philipp legte Geld auf den Tisch und sagte: »Da sind zweiundzwanzig Gulden, die ich erspart habe. Ich kann sie wohl entbehren. Nehmt sie zum Neujahrsgeschenk. So können wir alle drei das neue Jahr wohlgemut und sorgenlos antreten. Gott gebe, daß wir es gesund und fröhlich durchleben. Der Himmel wird ferner für euch und mich sorgen.«
Frau Käthe hatte Tränen in den Augen und küßte ihn. Der alte Gottlieb sagte: »Philipp, du bist wahrhaft der Trost und Stab unseres Alters. Gott wird dir's vergelten. Fahre fort, redlich zu sein und deine Eltern zu lieben. Ich sage dir, der Segen bleibt nicht aus. Zum Neujahr wünsche ich dir nichts, als dein Herz fromm und gut zu bewahren. Das steht in deiner Macht. Dann bist du reich genug. Dann hast du deinen Himmel im Gewissen.«
So sprach der alte Gottlieb, ging und schrieb die Summe von zweiundzwanzig Gulden ins große Hausbuch und sagte: »Was du mich als Kind gekostet, hast du beinahe schon alles abbezahlt. Jetzt haben wir aus deinen Ersparnissen schon dreihundertundsiebzehn Gulden empfangen und genossen.«
»Dreihundertundsiebzehn Gulden!« rief Frau Käthe mit großem Erstaunen. Dann wandte sie sich mitleidig zu Philipp und sagte mit weicher Stimme: »Herzenskind, du jammerst mich. Ja, recht sehr jammerst du mich. Hättest du die Summe für dich sparen und zurücklegen können, so würdest du jetzt ein Stück Land kaufen, für eigene Rechnung Gärtnerei treiben und die gute Rose heiraten können. Das geht nun nicht. Aber tröste dich. Wir sind alt; du wirst uns nicht mehr so lange unterstützen müssen.«
»Mutter«, sagte Philipp und runzelte die Stirn ein wenig, »was redest du? Röschen ist mir zwar lieb wie mein Leben. Aber hundert Röschen gebe ich für dich und den Vater hin. Ich kann in dieser Welt keine Eltern mehr haben als euch, aber wenn es sein muß, wohl noch manches Röschen, wenn ich schon unter zehntausend Röschen kein anderes als Bittners Röschen möchte.«
»Du hast recht, Philipp!« sagte der Alte. »Lieben und Heiraten ist kein Verdienst; aber alte, arme Eltern ehren und unterstützen, das ist Pflicht und Verdienst. Sich selbst opfern mit seinen Leidenschaften und Neigungen für das Glück der Eltern, das ist kindliche Dankbarkeit. Das erwirbt dir Gotteslohn; das macht dich im Herzen reich.«
»Wenn nur«, sagte Frau Käthe, »dem Mädchen die Zeit nicht zu lang oder es dir nicht abtrünnig wird! – Denn Röschen ist ein schönes Mädchen, das muß man sagen. Es ist freilich arm, aber an Freiern wird es ihm nicht fehlen. Es ist tugendhaft und versteht die Haushaltung.«
»Fürchte dich gar nicht, Mutter!« versetzte Philipp. »Röschen hat's mir feierlich geschworen, sie nehme keinen andern Mann als mich; und das ist genug. Ihre alte Mutter hat eigentlich auch nichts an mir auszusetzen. Und könnte ich heute mein Gewerbe für mich treiben und eine Frau ernähren, morgen hätte ich Röschen am Altar; das weiß ich. Es ist nur verdrießlich, daß die alte Bittnerin uns verbietet, einander so oft zu sehen, als wir gern möchten. Sie sagt, das tue nicht gut. Ich aber finde, und Röschen findet das auch, es tue uns beiden gewiß sehr gut. Auch haben wir verabredet, uns heute um zwölf Uhr vor der Haupttür der Gregorienkirche zu sprechen; denn Röschen bringt den Silvesterabend bei einer ihrer Freundinnen zu. Dann führe ich sie des Nachts heim.«
Unter diesen Gesprächen schlug es im benachbarten Turme Dreiviertel. Da nahm Philipp den Nachtwächtermantel seines Vaters vom warmen Ofen, auf den ihn Käthe vorsorglich gelegt hatte, hing ihn um, nahm das Horn und die Stange, wünschte den Eltern gute Nacht und begab sich auf seinen Posten.