Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Neunzehntes Buch: Oswalds Rückkehr nach Italien.
Siebentes Kapitel
In dem italienischen Klima besserte sich Oswalds Befinden schon jetzt wieder, nur daß ihn unaufhörlich die quälendste Unruhe bewegte. Ueberall fragte er nach Corinna, und stets antwortete man ihm, daß man sie in Florenz glaube, jedoch nichts weiter von ihr wisse, da sie keinen Menschen mehr sehe, und zu schreiben aufgehört habe. Ach! nicht so war ihm Corinnens Name früher entgegengeklungen, und konnte er, der ihr Glück und ihren Ruhm zerstört, konnte er sich das verzeihen?
Kommt man Bologna näher, so wird man beinahe erschreckt durch den Anblick von zwei schiefen Thürmen, von denen besonders der eine sehr stark überhangt. Umsonst erfährt man, er sei so gebaut, und habe in dieser Gestalt Jahrhunderte an sich vorüberziehen lassen: das Schönheitsgefühl ist doch davon gequält. Bologna ist eine der wenigen italienischen Städte, wo viele unterrichtete Männer, die Vertreter jeder Wissenschaft, zu finden sind; das Volk aber macht hier den unangenehmsten Eindruck. Lucile erwartete das ihr so gerühmte, wohllautende Italienisch zu hören, und mußte also von dem bolognesischen Dialekt, der sehr häßlich ist, notwendig enttäuscht sein; denn es giebt selbst im Norden keinen rauheren. Sie trafen zur Carnevals-Zeit in Bologna ein; Tag und Nacht hörte man Freudengeschrei rings umher, das in bedenklicher Weise dem des Zankes glich. Ein dem Lazzaroni von Neapel ähnlicher Pöbel schläft Nachts unter den Arkaden, welche die Straßen Bologna's einfassen; im Winter tragen diese Leute in thönernen Gefäßen etwas Feuer mit sich herum, essen auf der Straße und verfolgen die Fremden mit ihren zudringlichen Betteleien. Vergeblich hoffte Lucile auf die süßen melodischen Stimmen, wie sie in Italien Nachts auf den Straßen zu erklingen pflegen; sie schweigen alle, wenn es kalt ist, und werden in Bologna durch ein Gelärme ersetzt, das dem Fremden, der nicht daran gewöhnt ist, nur unheimlich sein kann. Das Kauderwälsch der niedern Klassen klingt, mit seinen rauhen Tönen, ganz feindlich; und ohnehin sind ja die Sitten des Volks in vielen mittäglichen Gegenden viel gröber, als in nördlichen Ländern. Das Leben in den Häusern trägt zur Vervollkommnung der bürgerlichen Ordnung bei, während die Sonne des Südens, da sie unter freiem Himmel zu leben gestattet, den Gewohnheiten des Volks leicht etwas Verwildertes giebt.
Oswald und Lady Nelvil konnten nicht einen Schritt thun, ohne von einer Menge Bettler umlagert zu werden, die eine wahre Geißel für Italien sind. Als sie an den Gefängnissen Bologna's vorbeikamen, sahen sie, welch einer widerwärtigen Ausgelassenheit sich die Gefangenen hingaben; sie redeten die Vorübergehenden mit Donnerstimme an, und baten mit gemeinen Späßen und maßlosem Gelächter um Almosen; kurz, Alles gab hier das Bild eines würdelosen Volks. »In England«, sagte Lucile, »zeigt sich das Volk anders; dort ist's der Mitbürger seiner Vornehmen. Oswald! und ein solches Land kann Ihnen gefallen?« – »Bewahre mich der Himmel, daß ich je meinem Vaterlande entsagen möchte. Doch wenn wir nur erst die Apenninen hinter uns haben, wenn Sie das Toskanische reden hörten, den wahren Süden und sein geistreiches, lebhaftes Volk kennen lernten, dann werden auch Sie, glaube ich, weniger streng gegen Italien sein.«
Man kann die italienische Nation, je nach den Umständen, auf ganz verschiedene Art beurtheilen. Zuweilen stimmt das Ungünstige, was ihr so oft nachgesagt wird, genau zu dem, was man selber sieht und erfährt, und ein ander Mal hält man es auch wieder im höchsten Grade ungerecht. In einem Lande, wo die meisten Regierungen ohne Verantwortlichkeit walteten, wo die Macht der öffentlichen Meinung fast ebenso nichtig für die obersten, als für die untersten Klassen war; in einem Lande, wo die Religion sich mehr mit dem Cultus als der Sittlichkeit beschäftigt, wird von der Nation, im Allgemeinen betrachtet, meist nur wenig Gutes zu sagen sein; doch kann man dafür viel individuelle Vorzüge antreffen; es sind meist die zufälligen, persönlichen Verbindungen, welche dem Reisenden Spott oder Lobeserhebungen abgewinnen. Oft bestimmen die Menschen, die man nun eben näher kennen lernte, das Urtheil über ein Volk; ein Urtheil, das also weder in den Institutionen, noch in den Sitten, noch in dem öffentlichen Geiste seine Begründung findet.
Oswald und Lucile besuchten die schöne Gemäldesammlung zu Bologna. Oswald blieb lange vor der Sibylle des Domenichino stehen. Lucile ahnte die Gefühle, welche dieses Bild in ihm anregte, und da sie sah, daß er sich in der Anschauung desselben völlig verlor, wagte sie's, sich ihm zu nähern, und schüchtern zu fragen, ob die Sibylle des Domenichino mehr zu seinem Herzen spreche, als die Madonna des Correggio. Oswald verstand sie, und war von der Bedeutung ihrer Frage betroffen; ein Weilchen blickte er ohne zu antworten auf sie nieder, dann sagte er: »Die Sibylle läßt keine Orakel mehr hören; ihr Genius, ihre Begabung, es ist Alles dahin. Aber das engelgleiche Angesicht des Correggio hat nichts von seinem Zauber verloren, und der Unglückliche, welcher der Einen so viel Leids gethan, wird die Andere nie verrathen können.« Mit den Worten ging er hinaus, um seine Verwirrung zu verbergen.