Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Neunzehntes Buch: Oswalds Rückkehr nach Italien.

Sechstes Kapitel

Oswald hatte, seit er Italien betreten, noch kein italienisches Wort geredet; die Sprache that ihm weh; er vermied, sie zu hören, wie sie zu sprechen. Eines Abends, als Lady Nelvil und er in einem Hotel zu Mailand abgestiegen waren, wurde an ihre Thür geklopft, und sie sahen einen Mann eintreten, einen Römer, mit sehr schwarzem, sehr markirtem Gesicht, das indessen doch keine eigentliche Physiognomie hatte; Züge, die für bedeutungsvollen Ausdruck geschaffen waren, denen aber die Seele mangelte, aus welcher allein er kommen kann; ein Blick, der poetisch sein wollte; ein fortdauernd süßliches Lächeln. Noch an der Thür, fing er doch schon zu improvisiren an: Verse voller Lobpreisungen über Mutter, Kind und Gemahl; Lobpreisungen, die für alle Mütter, alle Kinder und alle Gemahle der Welt passend gewesen wären, und sich über jeden Gegenstand mit gleicher Ueberschwänglichkeit ergossen, als ob Worte und Wahrheit in durchaus keiner Beziehung mit einander zu stehen brauchten. Und doch waren es die so wohl lautenden, italienischen Klänge, deren dieser Mensch sich bediente, um mit einer Gewalt zu declamiren, welche den bedeutungslosen Inhalt dessen, was er sagte, nur noch mehr hervortreten ließ. Für Oswald konnte es gar nichts Peinlicheres geben, als nach langer Zwischenzeit die geliebte Sprache also wieder zu hören, also seine Erinnerungen herabgezogen zu sehen und sich sein schmerzliches Gedenken durch eine Lächerlichkeit auffrischen zu lassen. Lucile bemerkte seine verdrossene Stimmung; sie versuchte, den Improvisator zum Schweigen zu bringen, doch das war unmöglich. Mit Phrasen und Ausrufungen, die nicht zu unterbrechen waren, mit den tollsten Geberden rannte er im Zimmer auf und ab, und kehrte sich durchaus nicht an das Mißbehagen seiner Hörer. Seine Bewegung glich einer aufgezogenen, erst nach bestimmter Zeit wieder einhaltenden Maschine. Endlich kam dieser Stillstand und es gelang Lady Nelvil, ihn los zu werden.

Als er hinaus war, sagte Oswald: »Die poetische Redeform ist in Italien so leicht zu parodiren, daß man sie Allen untersagen sollte, die nicht würdig sind, sie zu gebrauchen.« »Wahrlich«, erwiderte Lucile, vielleicht ein wenig lieblos, »wahrlich, es mag unangenehm sein, sich an das, was man einst bewunderte, durch etwas, wie das eben Gehörte, erinnern lassen zu müssen.« Lord Nelvil war verletzt. »Durchaus nicht«, erwiderte er, »mir scheint sogar, als bringe solch ein Contrast die Macht des Genie's nur zu höherer Geltung. Dies ist dieselbe, zur Erbärmlichkeit herabgewürdigte Sprache, welche himmlische Poesie wurde, wenn Corinna, wenn Ihre Schwester«, wiederholte er mit Nachdruck, »sich ihrer bediente, um ihren Gedanken Gestalt zu geben.« – Lucile war von diesen Worten wie versteinert; Corinnens Name war während der ganzen Reise nicht über Oswalds Lippen gekommen, ebenso wenig hatte er ihr von »ihrer Schwester« gesprochen. Es klang wie ein Vorwurf; Thränen drohten, sie zu ersticken, und hätte sie sich ihrer Erschütterung überlassen, würde dieser Augenblick vielleicht der süßeste ihres Lebens geworden sein. Doch sie drängte Alles zurück, und der zwischen den beiden Gatten herrschende Zwang wurde nur um so peinlicher.

Am folgenden Morgen schien die Sonne wieder strahlend und warm; Lord Nelvil und Lucile benutzten sie, um den Dom zu besichtigen. Er ist in Italien das Meisterwerk der gothischen, wie die Peterskirche das der modernen Baukunst. Gleich einem schönen Bild des Schmerzes erhebt sich die Kreuzesform dieses Tempels über die reiche und fröhliche Stadt Mailand. Beim Besteigen des Thurmes bewundert man staunend diese gewissenhafte Ausführung auch der kleinsten Einzelheiten. Bis zur letzten Höhe hinauf ist das Gebäude geschmückt, gemeißelt, ausgeschnitzt, wenn man so sagen darf, als wäre es ein kostbares Spielzeug. Wie vieler Geduld und Zeit bedurfte es, um ein derartiges Werk zu vollbringen. Solche auf ein und dasselbe Ziel gerichtete Ausdauer überlieferte sich früher von Generation zu Generation; das Menschengeschlecht war in seiner Gedankenrichtung beständig und führte, dem entsprechend, unerschütterliche Monumente auf. Eine gothische Kirche versetzt in sehr andachtsvolle Stimmung. Horace Walpole sagt: »Die Päpste haben jene Reichthümer, welche ihnen die durch die gothischen Kirchen entstandene Frömmigkeit eingebracht, der Erbauung moderner Tempel geweiht.« Das Licht, welches durch die gemalten Fenster mildgedämpft hereinfällt, die eigenthümlichen, architectonischen Formen, kurz der ganze Anblick der Kirche giebt eine schweigende Vorstellung von dem Geheimniß der Unendlichkeit, das man stets in sich trägt, ohne sich davon freimachen, ohne es verstehen zu können.

Als Lucile und Lord Nelvil Mailand verließen, lag eine Schneedecke über der Erde, und nichts macht Italien so trübselig, wie der Schnee. Man ist dort nicht gewohnt, die Natur unter seiner einförmig frostigen Hülle verschwinden zu sehn, und die Italiener jammern über schlechtes Wetter, wie über eine öffentliche Landplage. Oswald empfand, Lucile gegenüber, für Italien eine gewisse Coquetterie, die nun gar nicht befriedigt wurde; der Winter mißfällt dort mehr als irgendwo, weil die Fantasie durchaus nicht darauf vorbereitet ist. Lord und Lady Nelvil berührten Piacenza, Parma, Modena. Die Kirchen und Paläste dieser Städte stehen nicht im Verhältniß zu der Zahl und dem Reichthum der Einwohner; sie sind zu groß. Es ist, als wären sie für vornehme Herren eingerichtet, die erst noch ankommen sollen, und inzwischen einen Theil ihres Gefolges vorausschickten.

Am Morgen des Tages, an welchem Lord Nelvil und Lucile den Taro zu überschreiten sich vorgenommen hatten, fanden sie, als ob Alles beitragen wolle, ihnen die Reise zu verkümmern, den Fluß während der Nacht aus seinen Ufern getreten; die Ueberschwemmungen dieser, auf den Alpen und Apenninen entspringenden Ströme sind oft ausgedehnt, und dann sehr verheerend. Gleich dem Donner, hört man ihre Wasser von Weitem grollen, und ihr Lauf ist so reißend schnell, daß sie fast gleichzeitig mit dem sie verkündenden Getöse heranbrausen. Da diese Flüsse unaufhörlich ihr Bette verändern, und häufig über das Niveau der Bodenfläche steigen, werden Brücken zur Unmöglichkeit. Hier am Ufer sahen Oswald und Lucile sich nun plötzlich aufgehalten; der Strom hatte die Boote hinweg gerissen, und es mußte gewartet werden, bis die Fährleute sie an das neue, von den Fluthen eben gebildete Ufer zurückführten. Lucile ging nachdenklich und fröstelnd auf und nieder; Wasserfläche und Horizont verloren sich bei dem dichten Nebel völlig ineinander, und so erinnerten sie viel eher an die poetischen Beschreibungen der Gestade des Styx, als an die wohlthätigen Gewässer, welche die von den sengenden Strahlen der Sonne leidenden Bewohner erquicken sollen. Um das Kind vor der Kälte zu schützen, trat Lucile mit ihm in eine Fischerhütte, wo das Feuer, wie in Rußland, mitten in der Stube angezündet war. »Wo ist denn nur Ihr schönes Italien?« fragte Lucile Lord Nelvil seufzend. »Ich weiß nicht, wann und wo ich es wiederfinde«, erwiderte er sehr traurig.

Wenn man sich Parma und den übrigen an dieser Straße liegenden Städten nähert, hat man von Weitem den malerischen, an den Orient erinnernden Anblick der terrassenförmigen Dächer. Kirchen und Thürme treten wunderlich aus diesen Plattformen heraus, und dem in den Norden Zurückkehrenden sind nachher die auf Schnee und Regen berechneten, spitzen Dächer von sehr unangenehmem Eindruck. Parma bewahrt noch einige Meisterwerke des Correggio. Lord Nelvil führte Lucile in eine Kirche, wo noch ein Frescogemälde des Meisters zu sehen ist, die Madonna della Scala. Als man den schützenden Vorhang zurückzog, nahm Lucile ihre Kleine auf den Arm, um sie das Bild besser sehen zu lassen, und in diesem Augenblick war die Stellung der Mutter und des Kindes fast dieselbe, als die der Jungfrau und des Sohnes. Lucile hatte mit dem Ideal von Anmuth und Bescheidenheit, was Correggio hier geschaffen, viel Aehnlichkeit, und Oswalds Blicke schweiften von Lucile auf das Bild, von dem Bilde auf Lucile. Sie bemerkte es, schlug die Augen nieder, und dadurch wurde die Aehnlichkeit nur noch auffallender, denn Correggio ist vielleicht der einzige Maler, der den niedergeschlagenen Augen eine ebenso durchdringende Wirkung zu geben weiß, als wären sie zum Himmel gerichtet. Der Schleier, welchen er über den Blick zieht, raubt diesem weder Gefühl noch Ausdruck, sondern verleiht ihm noch einen neuen Reiz, den nämlich eines himmlischen Geheimnisses.

Dieses Gemälde ist nahe daran, sich von der Mauer loszulösen, und man sieht, daß ein Hauch die fast schon zitternde Farbe hinunterstürzen könnte. Dies giebt dem Bilde den schwermuthsvollen Reiz, der allem Vergänglichen eigen ist, und man kehrt wiederholt vor dasselbe zurück, um seiner bald entschwundenen Schönheit ein letztes, wehmüthiges Lebewohl zu sagen.

»Diese Madonna wird bald nicht mehr sein«», sagte Oswald, als sie aus der Kirche traten, »ich aber werde stets ihr Original vor Augen haben.« Das liebreiche Wort rührte Lucile; sie drückte Oswalds Hand, und war nahe daran, zu fragen, ob sie sich auf diesen Ausdruck seiner Zärtlichkeit verlassen dürfe. Aber wenn Oswalds Weise ihr kalt erschien, hinderte sie ihr Stolz, sich darüber zu beklagen, und gab er ihr einen Beweis seines Gefühls, dann fürchtete sie diesen Augenblick des Glücks durch den Wunsch, ihn dauernder zu machen, zu zerstören. So fand sie immer Grund zum Stillschweigen; sie hoffte, daß Zeit, Ergebung und Sanftmuth eine beglückende Lösung herbeiführen würden.

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