Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Neunzehntes Buch: Oswalds Rückkehr nach Italien.
Fünftes Kapitel
Lord Nelvil fürchtete die Erinnerungen Frankreichs, und deshalb nahm er dort keinen längeren Aufenthalt. Es blieb auf dieser Reise Alles seiner alleinigen Entscheidung überlassen, da Lucile weder Wunsch noch Willen äußerte. Sie waren jetzt am Fuße der Gebirge angelangt, welche die Dauphiné von Savoyen trennen, und beschlossen, die Straße, die, den Felsen durchbohrend, beide Länder wieder vereint, zu Fuß zurückzulegen. Ihr Eingang gleicht einer tiefen Höhle, und selbst in den schönsten Sommertagen ist sie finster von einem Ende zu andern. Man war im Anfange des December; zwar lag noch kein Schnee, aber der Herbst war im letzten Verfall, und räumte schon dem Winter den Platz. Der ganze Weg war mit welkem Laub bedeckt, das der Wind hieher getrieben; denn Bäume gab es an dieser Felsenstraße nicht: neben den Ueberresten der gestorbenen Natur sah man keine Zweige, die Hoffnung des kommenden Jahres. Mit Vergnügen ließ Lord Nelvil den Blick über diese Gebirgsmassen streifen. In der Ebene scheint die Erde keinen anderen Zweck zu haben, als den Menschen zu tragen und ihn zu ernähren; in malerischen Gegenden aber ist's, als habe die Allmacht des Schöpfers ihnen ihr erhabenes Gepräge aufgedrückt. Doch allenthalben hat sich der Mensch mit der Natur vertraut gemacht, und die Wege, welche er bahnte, erklimmen Berge, senken sich zu Abgründen hinab. Es giebt für ihn nichts Unzugängliches mehr, als das große Geheimniß des eigenen Ichs.
Als sie in La Maurienne waren, wurde es mit jedem Schritte winterlicher; beim Aufsteigen zum Mont-Cenis schien es gar, als gingen sie in den Norden. Lucile, des Reisens ungewohnt, entsetzte sich über diese Eisdecken, auf denen die Pferde so unsicher Fuß faßten; und wenn sie ihre Aengstlichkeit auch Oswald zu verbergen suchte, machte sie sich doch im Stillen Vorwürfe, Julia mitgenommen zu haben. Oft fragte sie sich, ob sie diesen Entschluß auch wohl aus ganz reinen Beweggründen gefaßt habe, ob ihre mütterliche Schwäche, und besonders noch der Gedanke, daß Oswald sie mehr liebe, wenn er sie mit dem Kinde sehe, ihr die Gefahren einer so langen Reise nicht als zu geringfügig habe erscheinen lassen. Lucile war sehr gewissenhaft und peinigte sich oft mit geheimen Zweifeln über ihr Thun. Je tugendhafter man ist, je mehr steigert sich das Zartgefühl, und mit ihm die Besorgnisse des Gewissens; Lucile hatte gegen solche Stimmung keine andere Zuflucht als religiöse Andacht; lange innere Gebete gaben ihr meist Beruhigung.
Höher hinauf nahm die Natur einen wilderen Charakter an; der Schnee fiel reichlich auf die schneebedeckte Erde; es war, als trete man in jene Eis-Hölle, die Dante so schön beschrieben hat. Von des Abgrundes Tiefe bis zum Bergesgipfel lag das von der Erde Hervorgebrachte unter weißer Hülle; alle Mannigfaltigkeit der Vegetation war in der einen Farbe untergegangen; zwar die Wasser am Fuße der Berge waren noch in fließender Bewegung, aber die weißen Tannen spiegelten sich in ihnen gleich schwankenden Baumgespenstern. Oswald und Lucile standen in schweigender Bewunderung; dieser erstarrten Natur scheint das Wort zu fehlen, und man schweigt mit ihr. Da erblickten sie plötzlich auf weiter Schneefläche eine lange Reihe schwarzer Gestalten, die einen Sarg zur Kirche trugen. Diese Priester, die einzigen lebenden Wesen inmitten des kalten, öden Feldes, bewegten sich nur in gemessenem Schritt weiter, den sie sicherlich in der Kälte beschleunigt haben würden, wenn der Gedanke an den Tod ihrem Gange nicht seinen Ernst mitgetheilt hätte. Die Trauer der Natur und des Menschen, der Vegetation und des Lebens! Das Auge ruhte auf diesen beiden, sich schneidend von einander abhebenden Farben, dem Weiß und dem Schwarz, mit einer gewissen Bangigkeit. »Welche trübe Vorbedeutung!« sagte Lucile leise. »Glauben Sie mir, Lucile«, erwiderte Oswald, »sie gilt nicht Ihnen.« – »Ach«, dachte er, »nicht unter solcher Voraussagung trat ich mit Corinna die Reise durch Italien an! Was ist aus ihr geworden? Und verkündet mir diese düstere Umgebung vielleicht nur, was ich zu erdulden haben werde?«
Lucile litt sehr von den wirklichen und eingebildeten Schrecknissen einer Winterreise; Oswald natürlich dachte nicht an solche Furcht, die jedem Mann, und zumal einem so unerschrockenen, wie er selbst es war, fremd bleibt. Lucile hielt ihn darum für gleichgültig, und er schien es doch nur, einfach, weil ihm die Möglichkeit einer Furcht bei so geringer Veranlassung nicht in den Sinn kam. Indessen vereinigte sich Alles, um Lucilens Aengstlichkeit zu steigern. Mit vieler Genugthuung pflegen Leute aus dem Volke uns eine Gefahr zu vergrößern; es ist ihre Art von Einbildungskraft, und sie lieben die Wirkung, welche sie damit auf Personen aus höherer Klasse ausüben, falls diese ihnen ein banges Ohr leihen. Wenn man im Winter den Mont-Cenis überschreiten will, erzählen Einem die Gastwirthe und Reisenden allerlei Wundergeschichten von der Passage über den »Berg«, wie er schlechtweg genannt wird; es klingt, als sprächen sie von einem bewegungslosen Ungeheuer, dem Hüter der Thäler, die zum gelobten Lande führen. Man sieht nach dem Himmel, man möchte wissen, ob es auch nichts zu fürchten giebt, und wird jener Sturm vorausgesehen, den sie »la tourmente« nennen, so räth man dem Fremden, sich nicht auf den Berg zu wagen. Ein weißes Gewölk kündigt diesen Sturm an; nach ein paar Stunden hat es sich wie ein Leichentuch am Himmel ausgebreitet und den ganzen Horizont verdunkelt.
Insgeheim, ohne Lord Nelvils Vorwissen, hatte Lucile alle möglichen Erkundigungen eingezogen; er ahnte nichts von ihrer Angst, und gab sich ganz den Gedanken hin, welche seine Rückkehr nach Italien in ihm wachrufen mußte. Lucile, die von dem Zweck der Reise noch mehr als von der Reise selbst beunruhigt war, sah Alles mit ungünstigem Vorurtheil an, und machte Lord Nelvil aus seiner Unbesorgtheit in Betreff ihrer und ihrer Tochter im Stillen einen Vorwurf. Am Morgen, als sie über den Mont-Cenis wollten, versammelten sich mehrere Landleute um Lucile, und theilten ihr mit, daß das Wetter nach Sturm aussehe; dagegen versicherten die bereits gemietheten Sänftenträger, es sei nichts zu fürchten. Fragend blickte sie zu Lord Nelvil hinüber; er schien der Furcht zu spotten, die man ihnen ja nur einreden wolle, und schon wieder durch seinen Muth verletzt, erklärte sie schnell, daß sie aufzubrechen bereit sei. Oswald ahnte den Beweggrund nicht, aus dem ihr rascher Entschluß entsprungen war; gelassen folgte er dem Tragsessel seiner Frau zu Pferde. Sie stiegen ziemlich schnell bis Oben hinauf; als sie aber etwa die Hälfte der zwischen dem Aufwärts und Abwärts liegenden Fläche zurückgelegt hatten, erhob sich ein entsetzlicher Orkan. Der wirbelnde Schnee machte die Führer fast blind, und zuweilen konnte Lucile ihren Gatten nicht sehen, so sehr hüllte das Unwetter ihn in seine Sturmnebel ein. Die geistlichen Brüder, welche auf den Alpengipfeln sich dem Heile der Reisenden widmen, begannen ihre Lärmglocken zu läuten, und wenn dieses Signal auch das Mitleid wohlthätiger Menschen verkündete, hatte es doch etwas sehr Düsteres, und klang eher erschreckend, als Hülfe versprechend.
Lucile hoffte, Oswald werde den Schutz des Klosters suchen, um die Nacht dort zuzubringen; sie gestand aber nicht ein, wie sehr sie selbst dies wünschte, und er zog es vor, weiterzueilen. Voller Angst fragten die Träger Lucile, ob denn jetzt wirklich noch hinabgestiegen werde. »Ja«, sagte sie, »weil Mylord es zu wollen scheint.« – Lucile hatte Unrecht, da das Kind mit ihr war, ihre Besorgniß nicht auszusprechen; aber wenn man liebt, und sich nicht wieder geliebt wähnt, ist man von Allem verletzt, und jeder Augenblick des Lebens ist ein Schmerz, fast eine Demüthigung. Oswald blieb zu Pferd, wiewohl dies die gefährlichste Art des Hinabsteigens war; doch glaubte er auf diese Weise sichrer zu sein, Frau und Kind nicht aus den Augen zu verlieren.
Als Lucile von dem Gipfel des Berges auf die jäh hinabführende Straße blickte, welche selber man schon für einen Abgrund hätte halten können, wenn die daneben liegenden Schlünde nicht den Unterschied gezeigt, drückte sie die kleine Julia mit einer schaudernden Bewegung an's Herz. Oswald sah das, stieg vom Pferde und gesellte sich den Trägern zu, indem er thätig Hand anlegte. Er hatte in all seinem Thun viel Anmuth, und wie Lucile ihn mit dieser eifrigen Sorge um sich und Julia beschäftigt sah, füllten sich ihre Augen mit Thränen. Jetzt aber erhob sich ein so furchtbarer Windstoß, daß selbst die Träger betend in die Kniee sanken: »Herr Gott! steh uns bei.« – Lucile raffte ihren Muth zusammen. »Nehmen Sie Ihr Kind, Oswald«, sagte sie, sich in dem Tragsessel erhebend, und ihm Julia reichend. »Und auch Sie, Lucile, kommen Sie«, erwiderte Oswald, seine Tochter in den Arm nehmend, »ich kann Euch Beide tragen.« – »Nein«, rief Lucile, »retten Sie nur das Kind!« – »Wie retten!« wiederholte Oswald, »ist denn hier Gefahr? Ihr Unglücksmenschen!« rief er, sich zu den Trägern wendend, »warum sagtet Ihr mir nicht ...« – »Sie hatten mich gewarnt«, unterbrach Lucile. »Und Sie verbargen es mir!« erwiderte Lord Nelvil, »was habe ich denn gethan, um dieses grausame Stillschweigen zu verdienen?« – Damit hüllte er das Kind in seinen Mantel, und ruhig wartend, senkte er den Blick in gekränkter Bekümmerniß zur Erde. Das Unwetter steigerte sich aber nicht; der Himmel, Lucilens Beschützer, sendete einen Sonnenstrahl, der die Wolken durchbrach, den Sturm besänftigte und endlich auch Piemonts fruchtbare Thäler dem Blicke der Geängstigten in verklärendem Lichte zeigte. Nach etwa einer Stunde traf die ganze Caravane wohlbehalten in La Novalaise ein, der ersten italienischen Stadt, jenseits des Mont-Cenis.
Im Gasthofe und auf ihren Zimmern angelangt, nahm Lucile das Kind in den Arm und dankte Gott inbrünstig auf den Knieen. Oswald stand, während sie betete, gedankenvoll an den Kamin gelehnt. »So haben Sie sich geängstigt, Lucile?« fragte er. »Ja, mein Freund.« – »Und weshalb begaben Sie sich dann auf den Weg?« – »Sie schienen so ungeduldig weiter zu wollen.« – »Sie wissen doch, daß ich vor allen Dingen für Sie Gefahr und Sorge fürchte.« – »Für Julia müssen wir sie fürchten«, sagte Lucile, und nahm diese auf ihren Schooß, um sie am Feuer zu erwärmen, und der Kleinen schönes schwarzes Lockenhaar, das Schnee und Regen geglättet hatten, wieder zu kräuseln. Sie waren in diesem Augenblick bezaubernd, die Mutter und das Kind. Oswalds Blick ruhte auf Beiden mit Zärtlichkeit, aber noch einmal unterbrach gegenseitiges Schweigen ein Gespräch, das vielleicht zu einem glücklichen Ende geführt hätte.
Sie kamen nach Turin. Der Winter war in diesem Jahre sehr strenge. Die für sonniges Wetter berechneten, weiten Räume der italienischen Häuser schienen jetzt in der Kälte äußerst unbehaglich. Im Sommer bieten diese hohen Gewölbe durch ihre Kühle große Vortheile, im Winter jedoch wird man nur die Oedigkeit jener Paläste gewahr, in denen die Menschen so klein erscheinen, daß sie Einem wie Pygmäen in Riesenwohnungen vorkommen.
Es herrschte hier eben allgemeine Trauer über den Tod Alfieri's; daher begegnete Lord Nelvil überall nur düsteren Eindrücken, und umsonst suchte er nach dem Italien, das in seiner Erinnerung lebte. Die Abwesenheit der Frau, die er so heiß geliebt, entzauberte in seinen Augen die Natur und die Kunst. Er zog über Corinna Erkundigungen ein, und erfuhr, daß sie seit fünf Jahren nichts veröffentlicht habe, und in tiefster Zurückgezogenheit zu Florenz lebe. Er nahm sich vor, dorthin zu gehen; nicht um zu bleiben und die Neigung zu verrathen, die er nun Lucile schuldete, aber um Corinna doch wenigstens einige Erklärungen zu geben.
»O, was war das Alles schön«, rief Oswald, auf dem Wege durch die lombardischen Ebenen, »als diese Ulmen in ihrem Blätterschmucke standen und grüne Weinranken sie untereinander vereinten!« – »Es war schön, weil Corinna mit ihm war«, dachte Lucile. Feuchter Nebel, wie er so oft in den Ebenen anzutreffen ist, welche von vielen Flüssen durchzogen werden, beschränkte die Aussicht auf die Landschaft. Nachts, in den Gasthöfen hörte man die im Süden gleich einer Sündfluth herabgießenden Regenströme auf die Dächer schlagen. Oft dringt das Wasser in die Häuser und verfolgt die Inwohnenden mit der Gier des Feuers. Vergeblich suchte Lucile nach dem Zauber Italiens. Es war, als vereinige sich Alles, um es ihren wie Oswalds Blicken mit dunklem Schleier zu verhüllen.