Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Neunzehntes Buch: Oswalds Rückkehr nach Italien.
Viertes Kapitel
Lord Nelvil begab sich nun nach dem Landsitze der Lady Edgermond in Northumberland; nach einer Trennung von vier Jahren hatte er mit seiner Familie von Neuem bekannt zu werden. Lucile reichte ihm sein mehr als dreijähriges Töchterchen mit ebenso vieler Schüchternheit entgegen, als eine schuldige Frau nur hätte empfinden können. Die Kleine sah Corinna ähnlich; Lucilens Fantasie war während ihrer Schwangerschaft von dem Gedanken an die Schwester sehr erfüllt gewesen, und Julia, so hieß das Kind, hatte Corinnens Haar und Augen. Lord Nelvil bemerkte das mit Verwirrung; liebevoll drückte er die Kleine an sein Herz. Lucile aber sah in dieser Zärtlichkeit nur das Andenken an Corinna, und von dem Augenblicke an hatte sie an Lord Nelvils Liebe für Julia keine ungetrübte Freude mehr.
Lucile stand jetzt im zwanzigsten Jahr; ihre Schönheit, noch glänzender als früher, hatte einen imponirenden Charakter angenommen, vor welchem Lord Nelvil ein Gefühl scheuer Achtung empfand. Lady Edgermond, die das Bette nicht mehr verlassen konnte, war verstimmt und voller Launen. Doch empfing sie Lord Nelvil mit freudiger Erleichterung; denn die Sorge, während seiner Abwesenheit zu sterben, und die Tochter allein in der Welt zu lassen, hatte sie sehr beunruhigt. Nach so bewegter Lebensweise kostete es Lord Nelvil große Ueberwindung, den ganzen Tag in dem Zimmer seiner Schwiegermutter, das nur er und Lucile noch betreten durften, zuzubringen. Lucile liebte Oswald immer noch sehr, doch glaubte sie sich nicht von ihm geliebt, und aus Stolz verbarg sie ihm die Eifersucht, welche die Kenntniß von seiner Leidenschaft für Corinna in ihr angeregt hatte. Dieser Zwang vermehrte noch ihre gewohnte Zurückhaltung und machte sie kälter und schweigsamer, als sie es sonst gewesen sein würde. Suchte der Gemahl ihr einige Andeutungen zu geben, wie viel reizvoller sie ihre Unterhaltung bilden könne, wenn sie mehr Theilnahme hineinlegte, so meinte sie in solchem Rath eine Beziehung auf Corinna zu erkennen und war davon verletzt, statt ihn zu beherzigen. Lucilens Charakter war sanft, nur waren ihr von der Mutter durchweg einseitige Anschauungsweisen anerzogen worden.
Wenn Lord Nelvil die erhebenden Wirkungen der Poesie, die Freude an der Kunst rühmte, fühlte sie immer nur eine Erinnerung an Italien heraus, und wies seine Begeisterung recht trocken zurück, weil sie annahm, Corinna allein sei die Ursache derselben. In anderer Stimmung würde sie mit Sorgfalt auf des Gatten Worte gemerkt haben, um ihm so viel als möglich zu gefallen.
Lady Edgermond, deren Krankheit ihre Fehler verschlimmerte, zeigte eine stets zunehmende Antipathie gegen Alles, was von der einförmigsten Regelmäßigkeit des herkömmlichen Lebens abwich. Ueberall fand sie zu tadeln, und ihre durch körperliches Leiden noch gereizte Empfindlichkeit fühlte sich von jedem Geräusch beleidigt und belästigt. Es war, als wolle sie das Dasein auf die kleinste Basis beschränken; vielleicht damit ihr, bei ihrem bevorstehenden Ende, desto weniger zu verlassen bleibe. Da aber Niemand die persönlichen Beweggründe seiner Ueberzeugungen eingesteht, stützte auch sie dieselben auf die Grundsätze einer hochgespannten Moral. Sie hörte nicht auf, das Leben zu entzaubern, indem sie aus den geringsten Freuden eine Sünde machte, indem sie jeder Verwendung der Zeit, welche vielleicht von der des vorhergehenden Tages ein wenig abwich, eine Pflicht entgegensetzte. Lucile ordnete sich der Mutter zwar unter; doch würde sie, da sie mehr Geist und mehr Nachgiebigkeit des Charakters besaß, sich wohl ihrem Gatten zugesellt haben, um den in ihrer Herbigkeit immer noch wachsenden Ansprüchen der Lady sanften Widerstand zu leisten, wenn diese sie nicht versichert hätte, daß sie nur deshalb eine derartige Haltung beobachte, weil der Sehnsucht Lord Nelvils nach einem Aufenthalt in Italien in keiner milderen Weise entgegenzuarbeiten sei. »Unaufhörlich«, sagte sie, »muß man mit der Gewalt der Pflicht gegen die mögliche Wiederkehr einer so unseligen Neigung ankämpfen.« – Lord Nelvil hatte sicherlich auch große Achtung vor der Pflicht, doch verstand er diese in einem weiteren Sinne als Lady Edgermond. Er ging gern bis auf ihren Ursprung zurück, hielt sie in voller Uebereinstimmung mit unsern wahren und besten Neigungen und glaubte, daß sie uns durchaus nicht immer nur Kämpfe und Opfer abverlange. Die Tugend, meinte er, weit entfernt, daß sie das Leben einschränke, trage so sehr zu einem dauernden Glücke bei, daß man sie für eine Art höheren Schaums halten könne, welches dem Menschen auf Erden schon vergönnt sei.
Zuweilen, wenn Oswald seine Gedanken entwickelte, gab er sich dem Vergnügen hin, Corinnens Ausdrücke zu gebrauchen; er hörte sich so gern, wenn er in ihrer Sprache redete! Lady Edgermond war stets mißgelaunt, wenn er sich in dieser Weise zu denken und zu sprechen gehen ließ: neue Anschauungen mißfallen alten Leuten; sie möchten gern beweisen, daß, seit sie nicht mehr jung sind, die Welt nur verloren hat und nicht fortgeschritten ist. Mit dem Instinkte des Herzens errieth Lucile oft in dem hohen Ton von des Gatten Rede den Wiederhall seiner Liebe zu Corinna; sie schlug die Augen nieder, um ihm nicht zu verrathen, was in ihr vorging, und er, da er ihre Kenntniß seiner Beziehungen zu Corinna nicht ahnte, schrieb das hartnäckige Stillschweigen, welches sie seinen warmen Worten entgegensetzte, der Kälte ihres Charakters zu. So wußte er denn nicht, wohin sich wenden, um einen Geist zu finden, der dem seinen verständnißvoll entgegenkam; der Schmerz um das Verlorene lastete drückender denn je auf seinem Gemüthe, und er versank in tiefe Schwermuth. Ein Brief an den Fürsten Castel-Forte, in welchem er um Nachrichten von Corinna bat, gelangte wegen des Krieges nicht in dessen Hände. Seine Gesundheit litt auf das Aeußerste unter dem englischen Klima, und die Aerzte hörten nicht auf, zu versichern, daß von Neuem für seine Brust zu fürchten sei, wenn er den Winter nicht in Italien zubringe. Doch konnte daran nicht gedacht werden, weil der Friede zwischen England und Frankreich noch nicht geschlossen war. Einmal sprach er in Gegenwart seiner Frau und Schwiegermutter von dem Rath der Aerzte, und dem Hinderniß, das sich seiner Ausführung entgegensetzte. »Und wenn wir auch Frieden hätten, Mylord«, entgegnete Lady Edgermond, »ich denke, Sie selbst würden es sich nicht gestatten, Italien wiederzusehen.« – »Wenn Mylords Gesundheit es erforderte, würde er sehr gut thun, den Willen der Aerzte auszuführen«, unterbrach Lucile. Oswald war davon gerührt, er dankte ihr; aber dies verwundete sie nun wieder, weil sie nur die Absicht darin sah, sie auf die italienische Reise vorzubereiten.
Im Frühling wurde der Friede abgeschlossen und dadurch eine Reise nach Italien ermöglicht. Bei jedem Worte Lord Nelvils, das seine schwankende Gesundheit betraf, kämpfte Lucile zwischen der Sorge um ihn und der Furcht, er wolle damit nur seinen Entschluß andeuten, den Winter in Italien zu verleben; und während ihr Gefühl sie sonst vielleicht getrieben hätte, des Gatten Krankheit zu schwer zu nehmen, mißleitete sie die aus diesem Gefühl erwachsende Eifersucht, nach Gründen zu suchen, um das zu verkleinern, was doch die Aerzte selbst über die Gefahr seines Bleibens in England auf's Bestimmteste ausgesprochen hatten. Begreiflicherweise schob Lord Nelvil dieses Betragen auf Rechnung von Lucilens Gleichgültigkeit und Egoismus, und so verletzten sie sich gegenseitig, weil sie sich ihre Empfindungen nicht mit Freimuth eingestanden.
Als endlich Lady Edgermond in äußerster Lebensgefahr war, gab es zwischen Lucile und Lord Nelvil keinen andern Gegenstand der Unterhaltung mehr, als das Befinden der Kranken. Die arme Frau verlor schon vier Wochen vor ihrem Ende die Sprache, und nur aus ihren Thränen, ihrem Händedruck vermochte man zu errathen, was sie sagen wollte. Lucile war in Verzweiflung, und Oswald wachte, in aufrichtigem Mitgefühl, jede Nacht am Bette der Kranken. Da sie im Monat November waren, schadete er sich selbst durch diese Pflege in hohem Grade. Lady Edgermond schien von den Beweisen der Zuneigung ihres Schwiegersohnes beglückt; die Mängel ihres Charakters verschwanden, als ihr schweres Dulden sie entschuldigt haben würde. So klärt das Nahen des Todes alle Gährungen der Seele; die meisten Fehler entstehen aber nur aus diesen Gährungen.
In der Nacht, als sie starb, legte sie Lucilens Hand in die Lord Nelvils, und drückte so beide an's Herz; diese Bewegung und der Blick, den sie zum Himmel richtete, sagten mehr, als Worte es vermocht hätten. Wenige Minuten später war sie verschieden.
Lord Nelvil, der sich an dem Sterbebette seiner Schwiegermutter viel zu sehr angestrengt hatte, erkrankte nun ernstlich, und Lucile hatte im Augenblicke des tiefsten Schmerzes noch diese quälende Angst zu tragen. Oswald sprach in seinen Fantasien wohl oft von Corinna und Italien. Stets verlangte er nach Sonne, nach dem Süden, nach wärmerer Luft. Wenn die Fieber-Schauer ihn schüttelten, sagte er oft: »Es ist in diesem Norden so kalt, daß man sich niemals wird erwärmen können.« – Als er zur Besinnung kam, erfuhr er verwundert, daß Lucile Alles zu einer Reise nach Italien vorbereitet habe; er äußerte sein Erstaunen, sie gab als Grund den Befehl der Aerzte an. »Wenn Sie es erlauben«, fügte sie hinzu, »so werde ich mit Julia Sie begleiten; man muß ein Kind nicht vom Vater trennen; noch weniger von der Mutter.« – »Gewiß«, erwiderte Lord Nelvil, »wir dürfen uns nicht trennen. Aber ist Ihnen diese Reise unangenehm, Lucile? Sagen Sie es, dann verzichte ich darauf!« – »Nein«, entgegnete Lucile, »nicht das ist's, was...« Lord Nelvil sah sie an, und ergriff ihre Hand; sie wollte sich deutlicher erklären, aber der Gedanke an die Mutter, die es ihr anempfohlen, nie dem Gatten ihre Eifersucht zu gestehen, ließ sie innehalten. »Meine erste Sorge, ich hoffe, Sie glauben es, Mylord, ist die Herstellung Ihrer Gesundheit.« – »Sie haben eine Schwester in Italien«, fuhr Lord Nelvil fort. – »Ich weiß es«, entgegnete Lucile, »erhielten Sie Nachricht von ihr?« – »Nein, seit ich nach Amerika ging, habe ich nichts über sie erfahren.« – »In Italien, Mylord, werden wir von ihr hören!« – »Gedenken Sie ihrer noch gern?« fragte Oswald. »Ja, Mylord, ich kann die Liebe nicht vergessen, mit der sie meine Kindheit verschönte«, erwiderte Lucile. »O, man soll nichts vergessen«, seufzte Oswald, und Beide schwiegen.
Oswald ging nicht in der Absicht nach Italien, sein Verhältniß zu Corinna wieder anzuknüpfen; er hatte zu viel Zartgefühl, um solchen Gedanken in sich aufkommen zu lassen. Aber falls er von dem drohenden Brustleiden nicht geheilt werden sollte, schien es ihm süß, in Italien zu sterben, und mit einem letzten Lebewohl Corinnens Verzeihung zu erhalten. Er nahm nicht an, Lucile könne von seiner früheren Leidenschaft unterrichtet sein; und vollends ahnte er nicht, wie sehr er in den wandernden Reden des Fiebers die reuevollen Schmerzen verrathen hatte, die ihn bewegten. Er konnte Lucile nicht gerecht werden, weil sie einen unfruchtbaren Geist besaß, der ihr mehr diente zu errathen, was die Andern dachten, als diese durch ihre eigenen Gedanken zu interessiren. Oswald hatte sich gewöhnt, sie für eine schöne und kalte Frau zu halten, die ihre Pflichten erfüllte, und ihn liebte, wie sie lieben konnte; ihr Empfindungsvermögen war ihm unbekannt, denn sie verbarg es ihm sorgfältig. In diesem Falle verheimlichte sie ihm aus Stolz, was sie bekümmerte; aber sogar in einem vollständig glücklichen Verhältnisse würde sie sich ein Gewissen daraus gemacht haben, Andern, ja selbst dem Gatten, eine sehr lebhafte Zuneigung zu beweisen. Sie hielt jedes Aeußeren eines leidenschaftlichen Gefühls für ein Verbrechen gegen die Schicklichkeit; da sie aber solchen Gefühles fähig war, hatte ihre Erziehung, welche ihr die gezwungenste Selbstbeherrschung zum Gesetz erhoben, sie verschlossen und schweigsam gemacht. Man hatte sie wohl überzeugen können, daß sie nicht aussprechen dürfe, was sie empfinde, aber sie fand auch kein Vergnügen daran, von etwas Anderem zu reden.