Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Neunzehntes Buch: Oswalds Rückkehr nach Italien.

Drittes Kapitel

Lucile war tief bekümmert über Oswalds Abreise; allein das dumpfe Stillschweigen, das er während der letzten Zeit ihres Zusammenlebens gegen sie beobachtet, hatte ihre angeborene Schüchternheit derartig gesteigert, daß sie sich nicht entschließen konnte, ihm zu sagen, sie glaube sich guter Hoffnung; erst als er auf den Inseln angekommen war, erfuhr er es durch ein Schreiben der Lady Edgermond, welcher es die Tochter bis dahin auch verborgen hatte. Lord Nelvil fand darnach den Abschied Lucilens sehr kühl: er sah nicht durch, was in ihrem Gemüthe vorgegangen war, sondern verglich ihre schweigende Trauer mit dem beredten Schmerz Corinnens, als er sich in Venedig von dieser trennte, und stand darnach nicht an, Lucilens Liebe für recht gering zu halten. Dennoch hatte sie während der vierjährigen Dauer seiner Abwesenheit keinen glücklichen Tag. Kaum vermochte selbst die Geburt ihres Töchterchens ihre Gedanken von der Gefahr abzulenken, in welcher der Gatte unablässig schwebte. Und diesem Bangen gesellte sich noch ein anderer Kummer zu: sie entdeckte allmählig Alles, was Corinna und deren Verhältniß zu Lord Nelvil betraf. Graf d'Erfeuil, der fast ein Jahr in Schottland zubrachte und Lucile wie deren Mutter oft besuchte, war fest überzeugt, er habe das Geheimniß von Corinnens Anwesenheit in England nicht verrathen; doch sagte er so viel darauf Hinzielendes, doch war es ihm so unmöglich, das Gespräch, wenn es ermattete, nicht immer wieder auf den einen Lucile so sehr interessirenden Gegenstand zurück zu führen, daß diese schließlich so gut wie Alles errieth. So unschuldig sie war, besaß sie dennoch List genug, um Graf d'Erfeuil zum Reden zu bringen; es gehörte nicht viel dazu.

Lady Edgermond hatte, da sie täglich mehr von ihrem Körperleiden hingenommen wurde, keine Ahnung von der Mühe, mit welcher Lucile zu erforschen suchte, was ihr so viel Schmerz bereiten sollte. Als sie diese aber stets niedergeschlagen sah, ließ sie sich ihren Kummer anvertrauen. Lady Edgermond urtheilte sehr strenge über diese Reise Corinnens; Lucile nahm die Sache anders. Abwechselnd war sie eifersüchtig auf Corinna oder unzufrieden mit Oswald, daß er gegen eine Frau so grausam hatte sein können, von der er so sehr geliebt worden war; es schien ihr, als habe sie neben einem Manne, der so das Glück einer Andern hingeopfert, auch für das eigene zu fürchten. Immer hatte sie Theilnahme und Dankbarkeit für die Schwester empfunden, und hierzu kam jetzt noch tiefes Mitleid für sie; und weit entfernt, sich von dem Opfer, das Oswald ihr gebracht, geschmeichelt zu fühlen, quälte sie sich mit dem Gedanken, daß er sie nur gewählt habe, weil ihre Stellung in der Welt eine günstigere war, als die Corinnens. Sie erinnerte sich seines Zögerns vor ihrer Verheirathung, seiner Traurigkeit wenige Tage nach derselben, und immer mehr befestigte sie sich in der schmerzlichen Ueberzeugung, daß ihr Gatte sie nicht liebe. Lady Edgermond hätte der Tochter in dieser Seelenstimmung sehr wohlthätig sein können, wenn sie bemüht gewesen wäre, deren Argwohn zu beruhigen. Aber die nachsichtslose Frau, welche nichts als die Pflicht und das von dieser gestattete Gefühl gelten lassen wollte, brach über Alles den Stab, was von ihrer Linie abwich. Es fiel ihr gar nicht ein, der Tochter schonende Rücksicht anzurathen; im Gegentheil behauptete sie, die einzige Weise, das Gewissen aufzustacheln, sei bittre, vorwurfsvolle Empfindlichkeit. Sie theilte Lucilens Besorgnisse viel zu lebhaft; sie war erzürnt, daß eine so schöne Frau von dem Gatten nicht genug gewürdigt werde, und statt daß sie die Tochter zu überzeugen suchte, sie sei mehr, als sie glaube, geliebt, bestätigte sie in diesem Punkte deren Befürchtungen, um ihren Stolz nur ja noch mehr zu reizen. Die sanftere und edlere Lucile befolgte der Mutter Rathschläge zwar nicht buchstäblich; aber es blieb doch viel davon in ihren Gedanken haften; ihre Briefe nahmen dieselbe Färbung an, und enthielten weit weniger Empfindung, als ihr Herz.

Oswald zeichnete sich inzwischen im Kriege durch die glänzendste Tapferkeit aus; tausendfach gab er bei großen Waffenthaten sein Leben preis: nicht nur aus begeistertem Ehrgefühl, sondern auch, weil er die Gefahr liebte. Seine Genossen sahen es Wohl, sie war ihm ein Vergnügen. Am Tage der Schlacht wurde er heitrer, lebhafter, glücklicher; er erröthete vor Vergnügen, wenn das Geräusch der Waffen begann, und nur in diesen Augenblicken schien es, als sei ein Schweres, das sonst auf seinem Herzen lastete, hinweg genommen und gestattete ihm, freier zu athmen. Von seinen Soldaten angebetet, von den Kameraden bewundert, führte er ein rasches Leben, das ihm zwar kein Glück gab, ihm aber doch die Vergangenheit wie die Zukunft aus dem Sinne schlug. Die Briefe seiner Frau fand er frostig, doch gewöhnte er sich an sie. Corinnens Bild umschwebte ihn wohl oft in diesen schönen Tropennächten, die von der Natur und ihrem Schöpfer die erhabenste Vorstellung geben; da aber das Klima und der Krieg sein Leben fortdauernd bedrohten, hielt er sich, weil dem Sterben so nahe, auch für weniger strafbar; denn man verzeiht seinen Feinden, wenn der Tod ihnen naht, und hat in ähnlicher Lage auch mit sich selber Nachsicht. Lord Nelvil gedachte nur der Thränen, die Corinna um seinen Tod weinen werde; er vergaß derer, die durch sein Unrecht flossen.

Umringt von Gefahren, die so vielfach zum Nachdenken über des Lebens Ungewißheit auffordern, dachte er an Corinna viel mehr als an Lucile. Mit Jener hatte er so oft vom Tode gesprochen; so oft hatten sie sich in ernsteres Forschen vertieft und es war ihm, als rede er mit Corinna noch weiter fort, wenn er den großen Gedanken nachhing, die ihm Krieg und Gefahr unaufhörlich erweckten. Zu ihr – obgleich er sie doch erzürnt glauben mußte – zu ihr wendete er sich, wenn er allein war. Es schien ihm, als verständen sie sich noch, trotz der Abwesenheit, ja selbst trotz seiner Untreue; während die sanfte Lucile, die er nicht für beleidigt hielt, in seiner Erinnerung wie eine des Schutzes bedürftige Frau auftrat, der man alles trübe und tiefe Nachdenken ersparen müsse. Endlich wurde Lord Nelvils Truppentheil wieder nach England berufen. Oswald kehrte zurück! Schon die Ruhe auf dem Schiffe fand er nach der kriegerischen Thätigkeit sehr wenig zusagend. Durch so viel äußere Bewegung war ihm für die Freuden des Geistes, die er einst in dem Verkehr mit Corinna genossen, Ersatz geboten worden; mit der Ruhe, fern von ihr, hatte er es noch nicht versucht. Indessen die Liebe seiner Soldaten, ihre begeisterte Anhänglichkeit, ihre anbetende Huldigung hielten ihm während der Ueberfahrt das Interesse am militärischen Leben noch wach, und erst, als die Ausschiffung stattgefunden, hörte auch dieses völlig auf.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12