Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Neunzehntes Buch: Oswalds Rückkehr nach Italien.

Zweites Kapitel

Herr Dickson kam, um die Neuvermählten zu begrüßen. Er entschuldigte seine Abwesenheit bei der Hochzeitsceremonie durch eine längere Krankheit, welche die Folge eines heftigen Sturzes mit dem Wagen gewesen sei. Als man weiter nach dem Unfalle fragte, erzählte er den Hergang: wie eine Dame, eine hinreißende Frau, ihm gütig dabei zu Hülfe gekommen sei. Oswald spielte eben mit Lucile Federball, und da sie sehr anmuthig hierbei war, hatte er, in ihren Anblick vertieft, Herrn Dickson nicht gehört. »Mylord«, rief dieser jetzt vom andern Ende des Zimmers zu ihm hinüber, »meine schöne Unbekannte muß sicherlich irgend ein Interesse an Ihnen gehabt haben, denn sie richtete über Sie und Ihre Angelegenheiten allerlei Fragen an mich.« – »Von wem sprechen Sie?« fragte Oswald, indem er zu spielen fortfuhr. »Von einer bezaubernden Frau, ob sie zwar, durch großes Seelenleid offenbar, schon sehr verändert schien; die aber von Ihnen nicht ohne Bewegung reden konnte.« – Jetzt war Lord Nelvils Aufmerksamkeit erregt: er näherte sich Herrn Dickson mit einer weiteren Frage. Lucile, die sich ohnehin um das Gesagte nicht viel bekümmert hatte, wurde eben zu ihrer Mutter gerufen, und Oswald, da er nun mit dem Gast allein war, fragte diesen, wer denn die anziehende Dame gewesen sei. »Das weiß ich nicht«, war die Antwort, »ihre Aussprache verrieth die Engländerin; aber ich habe unter unseren Frauen selten Eine gefunden, die so verbindlich gewesen wäre, und vollends Keine, die so interessant zu reden verstanden hätte. Sie beschäftigte sich um mich alten Mann wie eine Tochter, und während der ganzen Zeit, die ich in ihrer Gesellschaft verbrachte, habe ich nichts von den davongetragenen Quetschungen empfunden. Aber, liebster Oswald, Sie haben am Ende in England den Ungetreuen gespielt, wie Sie's in Italien gethan? Denn meine reizende Wohlthäterin erbleichte und zitterte bei der Nennung Ihres Namens.« – »Gerechter Himmel! Von wem reden Sie? Eine Engländerin, sagten Sie?« – »Ja, das unterliegt keinem Zweifel«, entgegnete Herr Dickson. »Sie wissen, die Ausländerinnen sprechen das Englische nie ohne einen Accent.« – »Und ihr Aussehen?« – »O, das bedeutungsvollste, das ich noch gesehen, obgleich sie zum Erbarmen blaß und mager war.«

Die strahlende Corinna glich dieser Beschreibung nicht; aber konnte sie denn nicht krank gewesen sein? Mußte sie nicht viel gelitten haben, wenn sie nach England gekommen war und dort Den nicht einmal gefunden hatte, den sie suchte? Der Gedanke an diese Möglichkeiten fiel Oswald schwer auf's Herz, und in äußerster Unruhe fuhr er zu fragen fort. Herr Dickson wiederholte nur immer, daß die Unbekannte mit einer Anmuth und Eleganz gesprochen habe, wie er sie noch bei keiner Frau angetroffen; daß in ihrem Blick ein Ausdruck von himmlischer Güte gelegen, sie ihm sonst aber niedergeschlagen und traurig erschienen sei. So war Corinna früher nicht gewesen, aber wie gesagt, konnte sie nicht durch den Schmerz verändert sein? – »Von welcher Farbe waren Augen und Haar?« – »Vom schönsten Schwarz.« – Lord Nelvil erbleichte. »Spricht sie lebhaft?« – »Nein; sie sprach von Zeit zu Zeit ein paar Worte, um mich zu fragen und mir zu antworten; nur daß das Wenige, was sie sagte, so voller Zauber war!« Er hielt inne, denn Lady Edgermond und Lucile traten ein, und Oswald hörte auf zu fragen; aber er blieb nachdenklich, und ging bald hinaus, um abzuwarten, bis er Herrn Dickson wieder allein begegnen möchte.

Oswalds Betroffenheit war Lady Edgermond aufgefallen; sie schickte Lucile unter einem Vorwande hinaus, um bei Herrn Dickson nach der Ursache dieser Veränderung zu forschen; der alte Gentleman erzählte denn auch bald höchst unbefangen den Inhalt des eben stattgehabten Gesprächs. Lady Edgermond errieth die Wahrheit augenblicklich, und dachte zitternd an Oswalds Schmerz, wenn er erst mit Sicherheit wisse, daß Corinna ihm bis Schottland nachgekommen sei. Sie sah voraus, er werde noch Weiteres von Herrn Dickson erfahren wollen, und unterrichtete diesen vorsichtig über das, was er dann, um Oswalds Vermuthungen abzulenken, zu antworten habe. Wirklich vermied der alte Mann auch, bei einem fortgesetzten Gespräch, dessen Unruhe zu erhöhen; aber er konnte sie auch nicht mehr beseitigen. Oswalds erster Gedanke war, seinen Bedienten zu fragen, ob alle ihm seit drei Wochen übergebenen Briefe mit der Post angekommen wären, oder ob Jener noch auf andere Weise welche in Empfang genommen habe. Der Gefragte sann ein Weilchen nach. »Es war, denke ich, an jenem Ballabend, als mir ein blinder Mann für Eure Lordschaft einen Brief übergab; doch das wird nur eine Bittschrift gewesen sein.« – »Ein Blinder!« entgegnete Oswald, »könnten Sie den Mann wohl wieder auffinden?« – »Ja, sehr leicht«, erwiderte der Gefragte, »er wohnt im Dorfe.« – »Holen Sie ihn«, befahl Lord Nelvil; doch vermochte er die Ankunft des Gerufenen gar nicht abzuwarten, und ihm ungeduldig entgegengehend, traf er ihn unten, am Ende der Auffahrt.

»Mein Freund, an jenem Abend, als der Ball auf dem Schlosse stattfand, hat man Euch einen Brief für mich gegeben«, redete Lord Nelvil den Alten an, »von wem erhieltet Ihr den?« – »Mylord, wie sollte ich dies wissen, da ich blind bin?« – »Glaubt Ihr, es könne eine Frau gewesen sein?« – »Ja, Mylord; sie hatte sogar eine sehr sanfte Stimme, die von Thränen gedämpft war, so viel ich dies aus einem leisen Schluchzen entnehmen konnte; denn ich hörte es wohl, wie sehr sie weinte.« – »Sie weinte?« fragte Oswald, »und was sagte sie?« – »Gebt diesen Brief dem Bedienten Oswalds, guter Mann; dann aber verbesserte sie sich, und fügte hinzu: dem Bedienten Lord Nelvils.« – »O, Corinna!« rief Oswald aus, und er mußte sich auf den Greis stützen, da er nahe daran war umzusinken. »Ich saß, Mylord«, fuhr Jener fort, »am Fuße des Baumes dort, als sie mir den Auftrag gab; sogleich wollte ich ihn ausrichten, und da ich bei meinem Alter nur mühsam aufzustehen vermochte, war sie selbst so gnädig, mir zu helfen; auch gab sie mir viel Geld, mehr als ich seit lange besessen, und ich fühlte, wie ihre Hand zitterte – so wie jetzt die Ihre, Mylord!« –»Genug, genug«, sagte Lord Nelvil, »hier, guter Alter, hier nehmt auch von mir, wie Ihr von ihr erhalten, und betet für uns Beide.« – Er ging.

Von nun an lastete ein schrecklicher Kummer auf Oswalds Seele. Nach allen Richtungen hin ließ er die vergeblichsten Nachforschungen anstellen und begriff nicht, wie es möglich, daß Corinna in Schottland gewesen sein sollte, und nicht verlangt habe, ihn zu sehen. Er quälte sich mit tausend Vorstellungen über die Gründe dieses Verhaltens, und seine Bekümmerniß war so groß, daß es ihm, trotz aller Anstrengung, nicht gelang, sie vor Lady Edgermond zu verbergen. Selbst Lucile sah, wie unglücklich er war; seine Traurigkeit erhielt auch sie in steter Grübelei, und sie lebten trübe und still nebeneinander. Um diese Zeit schrieb Lord Nelvil an den Fürsten Castel-Forte seinen ersten Brief, den dieser Corinna nicht zeigen zu dürfen glaubte, und der sie sicherlich durch die tiefe Besorgniß, welche darin ausgedrückt war, gerührt haben würde.

Graf d'Erfeuil, der lange, ehe die Antwort des Fürsten Castel-Forte auf Lord Nelvils Brief eintraf, von Plymouth nach Schottland zurückgekehrt war, hatte durchaus nicht die Absicht, Oswald Alles mitzutheilen, was er von Corinna wußte; doch quälte es ihn, daß es nicht anerkannt werden sollte, er wisse um ein wichtiges Geheimniß und sei diskret genug, es zu verschweigen. Seine Anspielungen, die Lord Nelvil anfangs gar nicht verstanden hatte, erweckten dessen Aufmerksamkeit, als es ihm schien, sie könnten auf Corinna Bezug haben. Er bat Graf d'Erfeuil dringend um Auskunft, und nun wehrte sich dieser leidlich, nachdem er es erlangt hatte, befragt zu werden.

Dennoch hatte Oswald ihm schließlich Corinnens ganze Geschichte abgerungen, weil der Graf auf die Länge dem Vergnügen nicht widerstehen konnte, von allem, was er für sie gethan, zu erzählen: von der Dankbarkeit, die sie ihm stets gezeigt, von dem entsetzlichen Zustande der Verlassenheit und des Schmerzes, in welchem er sie aufgefunden, kurz, er enthüllte Alles, ohne im Geringsten zu bemerken, welchen Eindruck es auf Lord Nelvil machte, und ohne einen andern Zweck zu verfolgen, als der Held seiner eigenen Geschichte zu sein. Als Graf d'Erfeuil zu sprechen aufgehört, sah er zu spät ein, was er damit angerichtet, und war von Herzen betrübt. Oswald hatte sich so lange zusammengenommen, um nur erst Alles zu erfahren, dann aber gerieth er in eine fast sinnlose Verzweiflung. Er klagte sich als den grausamsten, treulosesten der Männer an; er stellte der Aufopferung, der Zärtlichkeit Corinnens, ihrer Entsagung, ihrer Großmuth, die sie auch dann noch geübt, als sie ihn für sehr strafbar hielt, die Härte und den Leichtsinn entgegen, womit er ihr gelohnt. Unaufhörlich wiederholte er sich, daß kein Mensch ihn lieben werde, wie sie ihn geliebt, daß ihn sicher noch einst die Strafe für seine Grausamkeit ereilen müsse. Er wollte nach Italien reisen, sie nur einen Tag, nur eine Stunde sehen, aber Rom und Florenz waren schon von den Franzosen besetzt, sein Regiment stand im Begriff, sich einzuschiffen, – er konnte sich mit Ehren nicht entfernen; er konnte das Herz seiner Frau nicht bekümmern, nicht Unrecht mit Unrecht und Schmerzen mit Schmerzen gut machen wollen. Schließlich hoffte er auf die Gefahren des Krieges, und diese Aussicht machte ihn ruhiger.

In dieser Stimmung schrieb er zum zweiten Mal an den Fürsten, was dieser ebenfalls Corinna verschweigen zu müssen glaubte. Seine Antworten schilderten sie traurig, aber ergeben, und da er stolz war und tief verletzt für die Freundin, so gab er den Grad ihrer Verzweiflung eher zu gering als zu hoch an. Lord Nelvil glaubte also, daß er sie mit seiner Reue nicht quälen dürfe, nachdem er sie durch seine Liebe so unglücklich gemacht, und schiffte sich endlich mit einem Gefühle schmerzlichsten Vorwurfs, das ihm sein Leben unerträglich machte, nach den Inseln ein.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12