Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Neunzehntes Buch: Oswalds Rückkehr nach Italien.

Erstes Kapitel

Wir gehen nun auf die Ereignisse zurück, die sich in Schottland zutrugen, seit Corinna an jenem Fest-Abend das schwere Opfer ihrer Liebe brachte. Als Lord Nelvil von dem Bedienten den Brief erhalten hatte, der über sein Schicksal entschied, verließ er, um ungestört lesen zu können, den Tanzsaal; und wie er nun Corinnens Handschrift, ihr kurzes »Sie sind frei!« und seinen Ring erblickte, ward er von dem heftigsten Unwillen und zugleich von bitterem Schmerz ergriffen. Seit zwei Monaten fehlte ihm jede Nachricht von Corinna, und nun wurde dieses Schweigen durch ein kurzes Wort, durch eine so entscheidende That gebrochen! Er zweifelte nicht länger an ihrer Untreue, und erinnerte sich alles dessen, was Lady Edgermond über den Leichtsinn und die Unbeständigkeit der Stieftochter geäußert hatte. So nahm er schnell eine feindliche Haltung gegen Corinna ein, denn er liebte sie noch genug, um ungerecht gegen sie sein zu können. Er vergaß, daß er schon seit Monaten den Gedanken, sie zu heirathen, völlig aufgegeben, daß Lucile ihm ein sehr lebhaftes Wohlgefallen eingeflößt hatte, und hielt sich für den gefühlvollen, von einer treulosen Frau verrathenen Mann. Er war verwirrt, entrüstet, unglücklich; über diesen Empfindungen aber herrschte, stärker als sie alle, ein beleidigter Stolz, der ihm das Verlangen anregte, sich der Frau, die ihn verlassen hatte, überlegen zu zeigen. In Herzensneigungen sollte man sich des Stolzes nicht weiter rühmen. Meistens ist er nur da zu finden, wo die Eigenliebe über die Liebe den Sieg davon trug; und hätte Lord Nelvil Corinna noch wie in den Tagen von Rom und Neapel geliebt, würde die Entrüstung über ihr vermeintes Unrecht ihn nicht von ihr losgemacht haben.

Seine Aufregung entging Lady Edgermond nicht; sie barg unter kaltem Aeußern das leidenschaftlichste Gemüth, und die tödtliche Krankheit, welche ihr drohte, steigerte nur ihre eifrige Sorge für die Tochter. Sie wußte, daß dieses arme Kind Lord Nelvil liebte, und bangte vor dem Gedanken, der Tochter Glück vielleicht selbst auf's Spiel gesetzt zu haben, als sie Jenen zu einem häufigeren Besuche ihres Hauses Veranlassung gab. Sie verlor deshalb Oswald nicht aus den Augen und blickte mit einer Scharfsicht in sein geheimstes Innere, die man so oft besonders dem weiblichen Geiste zuschreibt, und welche doch nur von der, durch ein wahres Gefühl geschärften Beobachtungsgabe herrührt. Sie nahm die erwähnte Erbschaftsangelegenheit zum Vorwande, um sich für den folgenden Morgen eine Unterredung mit Lord Nelvil zu sichern. Im Laufe dieser Unterredung durchschaute sie sehr schnell, daß er sich von Corinna verletzt fühlte, und um diesen Groll durch die Vorstellung einer edlen Rache zu schmeicheln, erklärte sie sich bereit, die Stieftochter anzuerkennen. Lord Nelvil war von dieser plötzlichen Veränderung in den Gesinnungen der Lady Edgermond zwar überrascht; indessen errieth er doch, wiewohl es ihm in keiner Weise angedeutet worden war, daß dieses Anerbieten wohl nur dann seine Ausführung erfahren dürfte, wenn er Lucilens Gatte würde, und in einem jener Augenblicke, wo man früher handelt, als denkt, warb er bei der Mutter um der Tochter Hand. Die entzückte Lady vermochte sich kaum so viel zu beherrschen, um nicht ein gar zu begieriges »Ja« zu sagen. Lord Nelvil erhielt die Einwilligung, und er verließ das Zimmer durch eine Verpflichtung gebunden, die einzugehen er keineswegs die Absicht gehabt, als er gekommen war.

Während Lady Edgermond Lucile auf seinen Besuch vorbereitete, ging er in großer Erregung im Garten auf und nieder. Er sagte sich, daß Lucile ihm eben deshalb gefallen habe, weil er sie wenig kenne, und daß es Thorheit sei, sein ganzes Lebensglück auf den Reiz eines Geheimnisses zu gründen, welches nothwendigerweise sich doch enthüllen müsse. Eine Regung der Zärtlichkeit für Corinna stieg wieder in ihm auf; er gedachte seiner Briefe an sie, und wie diese ihr die Kämpfe seiner Seele nur allzu kränkend ausgedrückt haben mußten. »Sie that Recht, mir zu entsagen«, rief er; »mir fehlte der Muth, sie glücklich zumachen; doch es hätte ihr schwerer werden sollen und diese kalten Zeilen ... aber wer weiß, ob sie nicht unter Thränen geschrieben wurden?« und bei diesem Gedanken flossen die seinigen. Verloren in tiefes Sinnen, entfernte er sich von dem Schlosse weiter und weiter, und die Bedienten, welche ausgesendet waren, um ihm zu sagen, daß er erwartet sei, hatten ihn lange zu suchen. Wunderte er sich doch selbst über seine geringe Ungeduld, als er nun eiliger zurückkehrte. Bei seinem Eintreten fand er Lucile vor der Mutter auf den Knieen, das Haupt in deren Schooß bergend. Sie war in dieser Stellung von der rührendsten Anmuth. Als sie Lord Nelvil kommen hörte, schlug sie die thränenvollen Augen zu ihm auf und sagte, ihm die Hand reichend: »Nicht wahr, Mylord, Sie nehmen mich nicht von der Mutter hinweg?« – Oswald fand diese Form, ihr Jawort zu sprechen, höchst liebenswürdig; auch er kniete vor Lady Edgermond nieder, und sich zu Lucile neigend, entrückte er mit einem ersten Kusse dieses unschuldige Geschöpf seiner Kindheit. Tiefes Erröthen bedeckte ihre Stirn; ihr Anblick erinnerte ihn, welch reines und heiliges Band er eben geknüpft, und wie hinreißend Lucilens Schönheit auch in diesem Augenblicke war, sie machte ihm doch geringeren Eindruck, als ihre holde Bescheidenheit.

Die Zeit, welche dem für die Trauung festgesetzten Sonntage voranging, verstrich in den nöthigen Vorbereitungen. Lucile sprach während dieser Tage nicht viel mehr, als gewöhnlich, aber was sie sagte, war einfach und edel; Lord Nelvil schätzte und billigte ein jedes ihrer Worte. Dennoch empfand er einige Nüchternheit an ihrer Seite: die Unterhaltung bestand immer aus einer Frage und einer Antwort; sie entwickelte sich nicht weiter, und wurde nicht fortgesetzt. Es war ja Alles recht gut, aber jene innere Bewegtheit fehlte, jenes unerschöpfliche Leben, das so schwer zu entbehren ist, wenn man es einmal besaß. Lord Nelvil dachte an Corinna! Doch hörte er nun gar nicht mehr von ihr reden, und er hoffte, diese Erinnerung werde sich zuletzt wie eine Chimäre, wie ein Gegenstand unklarer Wehmuth verflüchtigen.

Als Lucile von ihrer Mutter erfuhr, daß die Schwester, noch lebe, und in Italien sei, hegte sie das größeste Verlangen, Lord Nelvil nach ihr zu fragen; dies verbot ihr aber Lady Edgermond sehr bestimmt, und Lucile ordnete sich dem mütterlichen Befehle nach Gewohnheit unter, ohne auch nur auf den Grund neugierig zu sein. Am Hochzeitsmorgen stand Corinnens Bild lebhafter denn je in Oswalds Herzen auf; er war völlig erschreckt davon. Ein Gebet an seinen Vater und die Ueberzeugung, daß er dessen Wunsch erfülle, daß er, um den väterlichen Segen zu erhalten, so gehandelt habe, gab ihm wieder einige Festigkeit; und als er dann Lucile sah, warf er sich das in Gedanken gegen sie begangene Unrecht vor. Sie war so reizend! Ein Engel, der zur Erde herabsteigt, hätte kein schöneres Angesicht wählen können, um den Sterblichen ein Bild von himmlischer Tugend zu geben. Sie traten vor den Altar; die Mutter war tiefer als die Tochter bewegt; denn in ihre Rührung mischte sich die Bangigkeit, die ein Jeder, der das Leben kennt, bei einem großen Entschluß empfinden muß. Lucile aber war ganz Hoffnung; bei ihr reichte die Kindheit noch in die Jugend, der Frohsinn noch in die Liebe hinein. Als sie den Altar verließen, lehnte sie sich schüchtern auf Oswalds Arm, wie wenn sie sich ihres Beschützers versichern wolle. Oswald sah voller Rührung auf sie nieder; er glaubte auf dem Grunde seines Herzens einen Feind zu ahnen, der Lucilens Glück bedrohe, und er versprach sich, es gegen denselben zu vertheidigen.

»Jetzt bin ich ruhig«, sagte Lady Edgermond zu ihrem Schwiegersohne, sobald sie in das Schloß zurückgekehrt waren, »ich habe Ihnen Lucile anvertraut. Da nur noch ein kurzer Lebensrest vor mir liegt, ist es mir ein Trost, mich so gut ersetzt zu wissen.« – Lord Nelvil war gerührt von diesen Worten; bewegt und unruhig dachte er über die Pflichten hin und her, die sie ihm auferlegten. Wenige Tage waren erst verflossen; Lucile wagte noch kaum den Blick zu dem Gatten aufzuschlagen, und das Vertrauen zu fassen, das sie doch zu ihm hegen mußte, wenn sie von ihm gekannt sein wollte, als diese, unter so günstigen Vorbedeutungen eingegangene Verbindung auch schon durch bedenkliche Zwischenfälle getrübt wurde.

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